Ick sitze hier und esse Klops.
Uff eenmal kloppt’s.
Ick kieke, staune, wundre mir,
uff eenmal jeht se uff, de Tür.
Nanu, denk ick, ick denk nanu,
jetzt isse uff, erscht war se zu.
Ick jehe raus und blicke,
Und wer steht draußen? – Icke. Icke. Icke.
(Volkstümliches Berliner Gedicht von 1925, Verfasser nur unter Pseudonym bekannt: „Jean de Bourgeois“, vertont z.B. von Kurt Weill)
Bei „Klops“ muss ich an Königsberg denken und bei Königsberg an Immanuel Kant und bei Kant an Icke und den deutschen Idealismus. Die Kantische und die ihr folgende idealistische Philosophie ist „Theorie des Subjektes“ – also Besinnung auf das „Ich“, „Theorie des Icke“. Interpretieren wir also mal das Klops-Gedicht nach den Prinzipien der reinen Vernunft.
Klops
Zunächst einiges Biografische, sozusagen zum Warmwerden. Denn das Philosophische ist schwere Kost, viel schwerer Kost als die Königsberger Klopse.
Tatsächlich stand Klops wohl nur selten auf dem Speiseplan von Kant. Sein Lieblingsessen war Kabeljau. Gerne hat er Käse gegessen; er soll als Beigabe zu den Mahlzeiten stets Senf genossen haben. Getrunken hat er gerne Rheinwein. Die täglich eingeladenen Tischgäste konnten immer mit einer halben Flasche Wein rechnen. Bier hingegen hielt Kant für gesundheitsschädlich.
Apropos Gesundheit: Kant wurde immerhin, trotz seiner schwachen Konstitution, 79 Jahre alt. Was könnte dazu beigetragen haben? Er hat regelmäßig und täglich seinen Spaziergang gemacht. Er hat sieben Stunden geschlafen, aber nicht länger. Er hat keinen Mittagsschlaf gehalten – den hielt er für schädlich. Der ihm gut bekannte Mediziner Hufeland meinte, man solle sich im Alter nicht zu viel bewegen und anstrengen, sondern mit dem Reservoir an „Lebenskraft“ haushalten. Kant war anderer Meinung: Bewegung erhält jung. Sein Motto könnte gewesen sein: Aus der Bewegung kommt die Kraft.
Kant war nie krank und musste keine Vorlesung wegen Krankheit ausfallen lassen. Er war und blieb zwar Junggeselle, war aber kein „verschrobener“ Junggeselle. Er speiste immer in Gemeinschaft. Zunächst in Gasthäusern, später in seinen eigenen Räumen mit verschiedenen eingeladenen Gästen. Er mochte Witze und erzählte sie gerne. Er hat gerne und gut Billard gespielt. Er war mit 1,57 m relativ klein.
Kant ist nicht gereist und hat Königsberg und den engsten Umkreis von Königsberg nicht verlassen. Er war evangelisch und im Sinne seines langjährigen Landesherrn, Friedrichs des Großen, religiös tolerant. Gottesdienste hat er sehr selten besucht.
Im höheren Alter hat Kant den Geschmackssinn verloren. Am Ende wurde dieser große Denker dement und erkannte auch alte Freunde nicht mehr. Das musste z.B. sein ehemaliger Schüler R.B. Jachmann erleben, der das wortspielerisch kommentierte: „Ach, Kant kannte mich nicht mehr …“ Man kann so klug sein, wie man will – am Schluss kann einem doch der Geist durch die Finger rinnen.
Uff eenmal kloppt’s
Da leben wir nun im Zimmer in unserer Welt: mit Klops und Billard, mit Freunden und Büchern, mit Blumen, Tieren, mit dem Himmel und der Erde. Das ist die alltägliche, die harte und die wunderbare Welt. Eine wahrlich große Welt; aber eben diese Welt. Sind wir in diese Welt eingeschlossen? Oder können wir über sie hinausblicken?
„Uff eenmal kloppt’s …“ – Das klingt doch wie: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ (Offb. 3,20) Kant selbst hat diese Offenbarungserfahrung nicht gemacht. Er würde sie freilich auch niemandem bestreiten, der sie gemacht haben mag. Aber ihre Verbindlichkeit, Intersubjektivität, Mitteilbarkeit und Verständlichkeit – die würde er bestreiten. Seine Religionsphilosophie ist eine Religion „innerhalb“ der bloßen Vernunft. Was im Christentum nur aus Offenbarung begriffen werden kann, ist vielleicht persönlich interessant, aber nicht allgemein verbindlich. Allgemein verbindlich sind, kurz gesagt, die Aspekte der Religion, die mit der Moral zu tun haben. Weil das Wort „Moral“ heute (zu Unrecht) oft abfällig gebraucht wird, sage ich stattdessen hier einmal „Mitmenschlichkeit“. Es geht nämlich nicht um „Moralin“, sondern um das menschenfreundliche, sittliche Miteinander.
Was könnte es aber sein, was bei Kant „anklopft“? Antwort: Was bei uns quasi „von außen“ anklopft, das kommt aus unserem Inneren. Dieses kantische Klopfzeichen ist das Fragezeichen. Der Mensch fragt, und er fragt immer weiter. Unsere Vernunft fragt ganz notwendig nach Gott, dem Ursprung der Welt, und nach der Seele und ihrer Bestimmung. Sie fragt danach aus vernünftigen und berechtigten Gründen. Darin unterscheidet sich Kant von gewissen Formen des Positivismus. Die Frage nach Gott ist für manche Positivisten „sinnlos“ und kann, so der Positivist, nur entstehen, wo die Vernunft nicht über sich selbst aufgeklärt ist.
Nach Kant aber steigt aus unserer innerweltlichen Vernunft berechtigterweise die Frage nach dem überweltlichen Gott auf. Es ist keineswegs „dumm“, diese Frage zu stellen. Es wäre im Gegenteil stumpfsinnig, sie nicht zu stellen. Aber beantworten kann die Vernunft diese Frage nicht. Das Fragen kommt aus unserem Inneren. Aber es kommt doch irgendwie von oben. Denn in der Natur wird nicht gefragt. Vom Regenwurm bis zum Elefanten geschieht in der Natur alles fraglos. In der Natur gibt es auch kein „Icke“, wie Kant einmal bildkräftig sagt: „Wenn ich der Überzeugung wäre, dass mein Pferd so etwas wie ein ,Ich‘ hätte, so würde ich sofort von meinem Pferd absteigen und neben ihm her gehen.“ (frei zitiert)
Also: Der Mensch muss fragen: nach dem Warum und Woher. Das gehört zu seiner Menschlichkeit. Aber er kriegt darauf eben keine letzte Antwort. Auch das gehört zu seiner Menschlichkeit. „Uff eemal kloppt’s.“ Indem der Mensch fragt, „klopft“ es bei ihm an, denn er fragt über diese Welt hinaus. Dieses Fragen macht das Leben lebendig. Aber wir bekommen eben auf unsere letzten Fragen keine letzte Antwort. Ich würde sagen: zum Glück – denn dann wäre es aus mit der Lebendigkeit des Fragens.
Uff eenmal jeht se uff, de Tür
Wer steht denn vor der Tür? Nein, Gott selbst ist es nicht – und wir sollen froh darüber sein, dass Gott nicht sinnlich vor uns erscheint. Es wäre aus mit unserer Freiheit, wenn der allmächtige Gott uns leibhaftig erschiene. Es wäre aus mit dem herrlichen Spielraum unserer Fragen, wenn der Unendliche unverhüllt in unsere Endlichkeit einbräche. Aber was ist es, was für Kant doch ein Türspalt ist, oder doch zumindest ein Schlüsselloch zur göttlichen Welt?
Ick kieke, staune, wundre mir
Was hat Kant so mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt, dass man vielleicht von einem Türspalt zur Ewigkeit sprechen könnte? Zum Beschluss der „Kritik der praktischen Vernunft“ stehen die Sätze, die heute auch auf der Kant-Gedenktafel an der ehemaligen Schlossmauer in Königsberg stehen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender das Nachdenken sich damit beschäftigt. Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“
Über den bestirnten Himmel brauchen wir nicht lange zu reden. Warum fallen die Sterne nicht vom Himmel und warum ziehen sie so regelmäßig ihre Bahn? Übrigens: Staunen muss man auch über das Staunen selber. Warum staunen wirdarüber und warum staunt die doch sonst so „hochbegabte Nachtigall“ (Paul Gerhardt, EG 503, 3) nicht darüber, die doch wahrlich oft genug am Himmel fliegt und sich auch einmal über ihn wundern könnte.
Aber wie steht es mit dem „moralischen Gesetz in mir“? Wer staunt darüber schon? Heutzutage wird das moralische Gesetz wohl häufiger bestritten als bestaunt. Moral – das sind scheinbar doch nur Regeln zur Überlebenskunst, ein Trick der Evolution, der die Gattung Mensch am Leben erhält. Das sieht Kant mit Platon, Mose und Jesus anders. Kant: Wir kommen nicht am „Du sollst“ vorbei. Das „Du sollst“ hat nichts mit irgendwelchen praktischen Lebensstrategien zu tun. Wir hören die Forderung, das Gute zu tun, als eine unbedingte Forderung in uns. Die Pointe bei Kant ist, dass wir diese Forderung „in“ uns hören. Die moralische Forderung ist eine Forderung unserer eigenen Vernunft. Diese Forderung steckt sozusagen in uns selbst. Aber wir verfügen nicht über sie. Sie verfügt über uns. Und insofern diese Forderung über uns verfügt, ist sie zugleich eine Forderung, die über uns steht. Religiös gesprochen: Das Gute ist ein Gebot Gottes.
Diese Unbedingtheit und Erhabenheit der moralischen Forderung wird nach Kant religiös angemessen ausgedrückt durch den Glauben an einen göttlichen Gesetzgeber. Aber die Unbedingtheit der moralischen Forderung gilt auch ohne die Religion. Sie wird durch Gott geheiligt, aber nicht letztlich begründet. – Im bestirnten Himmel und im moralischen Gesetz nimmt der Mensch „etwas“ wahr, was unbedingt über ihm waltet und ihn zur Ehrfurcht und Demut anhält.
Jetzt isse uff, erscht war se zu
Was könnte uns helfen, dass die Tür nicht verschlossen bleibt – dass wir also sozusagen mindestens in der Ahnung (allerdings nicht im Wissen) über diese Welt hinausblicken? Halten wir uns an die oben zitierten Sätze aus der „Kritik der praktischen Vernunft“: „… je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt …“. So hat es ja wohl fast jeder auch schon erlebt: Als Kind gucken wir fasziniert zum Himmel – aber kaum mit Ehrfurcht. Doch je älter wir werden, desto mehr staunen wir ehrfürchtig. Und schließlich im Alter zwingt uns schon ein Gänseblümchen in die Knie: Wie ist so was möglich, der bestirnte Himmel und die (sternenförmigen) Gänseblümchen?
Ick jehe raus und blicke.
Und wer steht draußen? Icke.
Also hat die offene Tür doch nichts genützt? Steht da draußen auch wieder bloß „Icke“? Wenn man unser Spaßgedicht sozusagen philosophisch-theologisch interpretiert, dann ergeben sich für diesen geistreich-witzigen Schluss zwei Möglichkeiten:
Die eine Möglichkeit liegt auf der Linie, die mit den Stichworten Feuerbach und Projektion verbunden ist. Dass über uns „ein lieber Vater wohnen muss“ (Schiller), wäre dann ein Wunsch oder ein Gedanke, der in unserer eigenen Brust geboren ist. Dass der Sternenhimmel einen „Schöpfer“ habe, wäre eine typisch menschliche Einbildung. Und dass die Gebote von göttlichem Ursprung seien, wäre desgleichen eine „Überhöhung“ von gewissen Regeln des Zusammenlebens. Am Ende käme der Mensch doch nie über sich hinaus. Das angebliche Jenseits wäre nur eine Projektion seiner selbst. Der Mensch begegnet nur sich selbst – er stößt immer nur auf „Icke“.
So könnte man vielleicht auch die kantischen Kritiken auslegen. Bei Kant heißt es ja in der „Kritik der reinen Vernunft“ (zugespitzt und äußerst missverständlich), dass der Mensch seine eigene Vernunft in die Gegenstände hineinlegt – und die Gegenstände sich sozusagen nach ihm richten. Und in der „praktischen Vernunft“ heißt es, dass die Moral im Menschen begründet ist, also – böse gesprochen – „bloßes“ Menschenwerk ist.
Also, diese erste Möglichkeit der Deutung liefe darauf hinaus: Der Mensch findet auch im angeblichen Jenseits nur sein Icke.
Die zweite Möglichkeit lautet umgekehrt. Der Mensch entdeckt im Nachdenken über sich selbst, dass er selbst „nicht nur von dieser Welt“ ist. Er entdeckt, dass das Ich eben kein „Teil“ der Natur (der gegenständlichen Welt) ist und kein Produkt einer immanent-weltlichen, materiellen Entwicklung. Das Ich selber ist quasi transzendent. Das gilt für das „Icke“ der Moral evidentermaßen. In der Natur gibt es kein Sollen, nur ein Sein. Für das Ich aber gibt es dieses Sollen, das gleichzeitig in mir und über mir ist.
Aber diese „Transzendenz des Ich“ gilt auch für das Ich der alltäglichen menschlichen Welterfahrung, um die es in der „Kritik der reinen Vernunft“ geht. Kants Lehre von den apriorischen Formen der Anschauungen (Raum und Zeit) und den apriorischen Begriffen (z.B. Kausalität) läuft doch darauf hinaus, dass das Ich eine quasi jenseitige Voraussetzung der diesseitigen Erfahrung ist. Der Mensch ist eben nicht nur „in“ der Welt wie die Dinge und Tiere, sondern er steht der Welt auch urteilend gegenüber – und das kann er nur, wenn er nicht nur ein Rädchen im Weltgetriebe, sondern ihr quasi „transzendent“ ist. Erst diese Transzendenz des Ich macht Moral und Welterfahrung möglich.
Daraus kann man aber nicht „beweisen“, dass dieses transzendente Ich über den Tod hinaus die Unsterblichkeit der Seele bedeutet. Das Ich ist natur-transzendent. Ohne die Transzendenz des Ich gäbe es nicht die Immanenz der Welterfahrung, und es gäbe keine Sittlichkeit (Moral). Das quasi transzendente Ich macht die Erfahrung der Immanenz erst möglich. Aber es ist nicht zu beweisen, dass das Ich über dieses Leben hinausreicht. Aus der „Transzendenz des Ich“ kann man nicht die Unsterblichkeit der Seele folgern. Kant selbst hat freilich diese jenseitige Hoffnung sehr entschieden gehabt und dafür im Zuge eines anderen Gedankenganges auch Vernunftgründe (!) angegeben. Das wäre aber ein eigenes Thema.
Icke, Icke Icke
Um es noch einmal pointiert, aber möglicherweise doch erhellend auszudrücken. Nehmen wir die beiden folgenden Sätze und stellen sie einander gegenüber:
1. Das Ich ist in der Welt.
2. Die Welt ist im Ich.
Der erste Satz klingt plausibel, er widerspricht aber erstaunlicherweise doch der Erfahrung. „Wo“ ist denn das Ich in der Welt? Man kann ja nicht einmal die scheinbar triviale Frage beantworten, „wo“ der Geschmack ist. Auf der Zunge? Aber die Zunge als solche schmeckt ja gar nichts. „Ich“ schmecke. „Mir“ schmeckt es, nicht meiner Zunge. „Wo“ ist das Ich? Man kann Milliarden von Menschen untersuchen, ihre Gehirne und Herzen durchleuchten – aber das Ich ist nirgends zu finden. Und nirgends ist das Gefühl des Geschmacks zu finden. Das Ich ist nicht in der Welt. Gedanken, ja selbst sinnliche Gefühle wie das „Schmecken“, haben kein „Wo“. Das Sehen ist unsichtbar (Platon). Das Ich ist nicht so in der Welt wie ein Baum oder mein Körper.
Und wie steht es mit dem zweiten Satz: „Die Welt ist im Ich.“ Das hört sich zuerst unerhört und grotesk an. Aber bei längerem Nachdenken kann man sich schon wundern, wie sehr die Welt in uns ist. Mit einem einzigen Gedanken sind wir beim Mond, mit einem Gedanken bei einem längst verstorbenen Freund. Mit einem Blick ist uns der Himmel innerlich, mit einem Duft eine Rose. Mit einem Bissen schmecke ich den Klops. Der Klops ist wohl auf meiner Zunge und dann in meinem Magen, aber der eigenartige Kapern-Geschmack des Königsberger Klopses ist „nirgendwo“, er ist „in mir“.
Das Ich ist sehr real – aber doch irgendwie so unsichtbar wie Gott; sogar der Geschmack des Klopses ist unsichtbar. Komisch, der Klops ist sichtbar, der Geschmack des Klopses ist unsichtbar. „Wir leben im Glauben – und nicht im Schauen.“ Hier auf der Erde können wir Gott so wenig sehen wie unsere Seele, unser Ich. Die Zeit der Aufklärung kam deshalb in Zweifel: Gibt es Gott überhaupt? Haben wir eine Seele?
Es gibt einen Witz, der sich auf diesen Geist der Aufklärung bezieht. Da betet ein General vor der Schlacht: „Lieber Gott – falls es dich gibt, bitte behüte meine Seele – falls ich eine habe.“ Kant hat gezeigt, dass wir Gott nicht beweisen können. Und auch die Seele ist zumindest nicht nach der „reinen Vernunft“ beweisbar Aber für Kant waren Gott und die Seele vernunft- und gefühlsmäßige Selbstverständlichkeiten.
Kants Geburtstag ist am 22. April. Am darauffolgenden Sonntag, 28. April, ist Kantate. Kant wäre wohl sogar an Kantate nicht zur Kirche gegangen. Aber ich meine, er hätte trotzdem mal eine Kantate verdient.*
Thomas Schleiff
Anmerkung
* Kant wurde am 22. April vor 300 Jahren geboren. Meine verstorbene Mutter Gerda Schleiff, geb. Johannßen, wurde am 23.April vor 100 Jahren geboren – also 200 Jahre und einen Tag nach Kant. Ich widme meinen Kant-Aufsatz meiner Mutter. Sie verstand nichts von Kant (wozu sollte sie auch?), aber sie hat sehr gute Klopse gekocht. Und sie ging häufig zum Gottesdienst in den Meldorfer Dom, der auf der Karikatur zu sehen ist.
Eine Kantate für Kant
Es gibt schon lustige Zufälle. Am 22. April ist der 300. Geburtstag des großen Philosophen Immanuel Kant. Der unmittelbar darauffolgende Sonntag heißt „Kantate“ („Singet“). Da könnte man doch fast auf die Idee kommen, an diesem Sonntag müsste eine Geburtstagskantate für Kant aufgeführt werden. Der „große“ (bei nur 1,57 m Körperlänge) Kant hätte gewiss eine Kantate verdient. Und wenn schon keine Kantate, so doch eine Predigt. Ich probiere es mal: Eine Predigt um, auf und für Kant.
Der Philosoph Kant hat sich mit den sogenannten Gottesbeweisen beschäftigt. Ein Gottesbeweis geht etwa so: Alles hat einen Grund. Also muss auch die Welt einen Grund haben. Der Grund der Welt ist Gott. Das hört sich doch eigentlich plausibel an. Denn kein Mensch kann annehmen, dass die Welt „einfach so“ da sein kann, seit immer schon und ohne Grund.
Kant hat aber in einem anspruchsvollen Gedankengang gezeigt, dass das kein richtiger Beweis ist. Wir können Gott ahnen, aber nicht beweisen. Und dann hat er noch etwas sehr Erfreuliches gesagt: Es ist eine große Chance, dass wir Gott nicht beweisen können. Denn nur weil wir von Gott nichts „wissen“, können wir an ihn glauben. Wenn wir von ihm etwas wüssten, dann wären wir ja gezwungen, an ihn zu glauben. Aber erzwungener Glaube ist kein Glaube – so wie erzwungene Liebe keine richtige Liebe ist. Glaube ist ja eigentlich etwas viel Größeres als Wissen: Glaube ist ein inneres, herrliches Überzeugtsein. So hat der italienische Regisseur Franco Zeffirelli einmal auf die Frage, was für ihn das höchste Glück wäre, geantwortet: Glauben können.
Wir können Gott nicht beweisen. Aber es gibt sozusagen „Hinweise“ auf Gott. Der wohl wichtigste Hinweis nach Kant ist das Gewissen. Wir spüren in unserem Inneren ein unbedingtes „Du sollst …“, z.B.: du sollst nicht stehlen; du sollst nicht morden … Das ist nicht nur eine menschliche Erfindung, nützlich fürs Zusammenleben, sondern eine unbedingte Forderung. Diese Unbedingtheit weist darauf hin, dass die sittlichen Forderungen „von oben“ kommen, also göttliche Gebote sind. Kant würde wohl dem Satz zustimmen: „Jeder Gewissensbiss ist ein Ahnen Gottes.“ (Peter Ustinov)
Es gibt eine tiefe Sehnsucht in uns, dass es über den Tod hinaus gut mit uns Menschen ausgeht. So hat es auch Kant geglaubt. Er hat diese Hoffnung allerdings an die sittliche Bemühung um Nächstenliebe geknüpft. Aber wer sich um die Liebe müht, darf hoffen, dass sein Leben bei Gott geborgen sein wird.
So hat Kant die christlichen Grundüberzeugungen von Glaube, Liebe und Hoffnung geteilt und durchdacht. Vom Gottesdienstbesuch hat er nicht allzu viel gehalten. Er wäre wohl auch am Sonntag Kantate nicht zur Kirche gegangen. Aber das ist ein Thema für sich.
Auf einem frommen Kalenderblatt habe ich gelesen, Kant habe einmal gesagt: „Ich habe wohl mehr als tausend Bücher gelesen, aber nirgends so tröstliche Worte gefunden wie diese Worte aus dem 23. Psalm: ‚Du bist bei mir.‘“ Dieses Kalenderblatt ist mir sehr wichtig geworden. Seitdem ist „Du bist bei mir“ sozusagen mein Glaubensmantra geworden. Diese Worte enthalten wirklich alles.
Übrigens: Kants Geburtstag am 22. April ist zuletzt 1951 genau auf den Sonntag Kantate gefallen. Das nächste Mal wird er 2035 auf Kantate fallen. Wehe, wenn es dann im Bereich der EKD keine Kant-Predigt gibt!
Thomas Schleiff
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2024