Immer wieder gibt es im theologisch-akademischen Bereich Versuche, dem Christentum ausschließlich einen bestimmten Aspekt des Lebens zuzuweisen. Ein sehr prominentes Denkmodell ist der Ansatz von Niklas Luhmann, der innerhalb der evangelischen und katholischen Theologie im deutschsprachigen Raum stark rezipiert wird.

Kern der luhmannschen Perspektive ist, dass im Zuge von „Modernisierungsentwicklungen“ eine funktionale Differenzierung stattgefunden habe: Es gebe Systeme, die für ganz bestimmte Aufgabenbereiche zuständig seien und hierfür gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Dabei gilt: Ein Gesamtsystem, das auf alle Bedürfnisse des Menschen eingeht oder diese überblicken kann, gebe es nicht mehr. Das System „Religion“ gehe etwa nur auf ein ganz bestimmtes Bedürfnis ein (etwa die Begegnung mit dem Heiligen). Es existiert neben anderen Systemen (etwa Politik, Bildung, Wohlfahrt, Umweltschutz usw.).

 

Soziologisch unterminierte Götzenkritik

Ein solcher Ansatz steht unter einer starken Missbrauchsgefahr, sodass er einer grundlegenden Kritik bedarf – gerade angesichts von Krieg und der ökonomisch begründeten Umweltkataststrophe. Dies führt zu einer Neuausrichtung für ein radikales Christentum, das im Folgenden dargestellt werden soll. Dabei kann es nicht darum gehen, ein Votum für simple Antworten angesichts gesellschaftlich komplexer Herausforderungen zu geben. Selbstverständlich kann eine Pluralisierung von Lebensentwürfen und damit ein Aufbrechen normativer und auch einengender sozialer Lebenswandelvorgaben beobachtet werden. Ebenso entstehen etwa mit technologischen Fortschritten neue Arbeitsbereiche und ausdifferenziertere Aufgaben. Jedoch heißt dies nicht, dass Systeme und damit einhergehende funktionale Differenzierungen völlig zusammenhangslos nebeneinanderstehen würden. Ein solches Denken ist im luhmannschen Ansatz angelegt.

Dementsprechend hat etwa der Religionssoziologie Armin Nassehi unter Berufung auf Luhmann ein linkes politisches Engagement per se als absurd hingestellt: In der gegenwärtigen hochkomplexen und funktional-differenzierten Gesellschaft könne es so etwas wie eine Gesamt­perspektive oder Gesamtkritik (etwa am Neoliberalismus) nicht mehr geben.1 Linke Politik gehe einer in sich widersprüchlichen Aufgabe nach. Die Welt sei eben viel zu kompliziert. Mit einer solchen Darstellung wird eine Absage erteilt, Kritik an totalitären Zusammenhängen, die verschiedenste Lebensbereiche kaputt machen, überhaupt formulieren zu können. Theologisch gesprochen wird jegliche Art einer Götzenkritik unterminiert.

 

Das Evangelium als umfassende Befreiungsbewegung

Dies steht der Kraft des Evangeliums entgegen. „Evangelium“ meint eine umwälzende Befreiungsbewegung, die allemenschliche Lebensbereiche ergreifen will. Auch das gesellschaftliche Zusammenleben ist davon betroffen, indem eine Gesellschaft angestrebt wird, die auf Gleichheit und Freiheit ausgerichtet ist. In diesem Sinne ist Gott revolutionär.

„JHWH ist […] eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichnen.“2

Das Evangelium hat einen befreienden Anspruch, sodass Menschen gesellschaftlich Verantwortung übernehmen und aktiviert werden. Es befindet sich im kritischen Widerstand zu totalitären Regimen, die heilsames Leben verhindern, sprich: Götzen. Demnach ist das Evangelium radikal, weil es nicht nur ungerechte Oberflächenstrukturen bekämpft, sondern die Wurzel ihrer Ungerechtigkeit umstürzen will. Es steht der oben beschriebenen Interpretationsweise von Luhmann entgegen, denn es will alle Lebensbereiche unter ein neues befreiendes Licht stellen.

Im eklatanten Widerspruch steht das Evangelium zu derzeitigen neoliberalen Eskalationen: Gerade neoliberale Vordenker wie August von Hayek insistieren darauf, selbstständig-kritisches Denken abzulegen und Marktmechanismen zu vertrauen. Der Mensch könne die komplexe Vielfalt der Ökonomie und der Gesellschaft nicht mehr überschauen. Es sei alles zu kompliziert. Der Markt müsse ungebremst schalten und walten.3 Die Nähe zum oben angedeuteten luhmannschen Ansatz (hier in neoliberaler Verkleidung) ist deutlich. Eine radikale Kritik wird in einer solchen Herangehensweise von vornherein torpediert.

Der Neoliberalismus ist ein totalitäres Regime, wie es einst der Lutherische Weltbund auf seiner 10. Vollversammlung und der Reformierte Weltbund in der Accra-Erklärung festgestellt haben. Die Folgen der Ausuferungen sind gravierend: globale Ausbeutungsprozesse, Prekariat in zahlreichen Berufsbranchen, Klimakrise, Selbstoptimierungsdruck und Überforderung des einzelnen Subjekts, für jegliche sozio-ökonomische Sicherheiten selbst verantwortlich sein zu müssen. Der Theologe Ulrich Duchrow drückt es drastisch so aus: Es gilt, „dass im Neoliberalismus die Menschen nicht mehr nur ausgebeutet, sondern zunehmend von allen Lebensvollzügen ausgeschlossen werden, d.h. dass Menschen geopfert werden. Mit anderen Worten: dass die westliche, kapitalistische Zivilisation sich so letzten Endes als eine Zivilisation erweist, die zum Tod führt.“4

Mehr denn je ist gegenwärtig ein radikales Christentum nötig, das für die am Rand der Gesellschaft stehenden Menschen kämpft und die Wurzel gegenwärtiger Unrechtsstrukturen ausreißen will. Ein radikales Christentum pflegt sein großes Kontra-Narrativ (unsere Welt kann und soll anders sein), baut an der Utopie der großen gesellschaftlich-ökonomischen Transformation mit und geht einer befreienden Praxis nach, um „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx).

Es schafft mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken Beziehungen, die die gleiche Richtung und Linie verfolgen. Eine solch christliche Lebenspraxis geht auf die Straße, demonstriert und baut Druck auf die Politik aus, für Frieden zu streiten und für die Kaputten der Gesellschaft einzutreten. Dieses Engagement entspricht christlicher Nachfolge oder anders ausgedrückt: Wegen Gottes Willen „spricht die Bibel so unaufhörlich von den Armen und meint, dass der Reichtum, den wir zwischen uns und den Armen anhäufen, uns auch Gott verstellt und den Weg zu Gott verbaut. Hat Gott denn etwas mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Die Bibel meint ja, und sie ergreift die Partei der Armen.“5

 

Radikales Christentum

Ein radikales Christentum sieht die gegenwärtige ökologische „Zangenkrise“. Diese umfasst einerseits, den fossilen Verbrauch angesichts der Klimakatastrophe schnellstmöglich senken zu müssen, und andererseits, über eine immer geringere natürliche Ressourcenbasis zukünftig verfügen zu können. Christliche Lebenspraxis wird alles Nötige unternehmen, sich mit Netzwerken zu verbinden, die sich für eine grundlegende Transformation unseres (ökonomischen) Zusammenlebens einsetzen (z.B. Attac, Postwachstumsökonomie, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Gemeinwohlökonomie usw.).

Ein radikales Christentum nimmt seinen Glaubensgegenstand, Gott, ernst und lässt sich von seiner Liebe zur befreienden Praxis bewegen. Darin entspricht es der ohnmächtigen Liebe Gottes, die um den Menschen bangt und kämpft, ihn aber nicht zwingt, seinem Ruf in die Gerechtigkeit zu folgen (Anrede Gottes). Christliche Lebenspraxis folgt in seiner Radikalität dem Slogan: „Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft.“ (Helmut Gollwitzer). Es geht um eine Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle Menschen (und die Natur) verlangt. Hierbei kann ein radikales Christentum darauf vertrauen, dass seine Hoffnung nicht ins Leere geht: Gott bürgt für sein Reich (Verheißung Gottes). Gottes Anrede und Verheißung wirken als permanent-befreiende Infragestellung des Menschen und setzen so die Erwartung und Gewissheit frei, dass Gottes Heilswille auch in anderen Religionen und säkularen Netzwerken tätig ist. Das Reich Gottes ist größer als jegliche Kirchenmauern.

Und weiter: Ein radikales Christentum nimmt seinen Relevanzverlust in der Gesellschaft ernst. Christliche Nachfolge kann nicht ohne Weiteres auf christlich geprägte Sozialisationsprozesse zurückgreifen, sondern muss seine Wichtigkeit im Hier und Jetzt unter Beweis stellen. Dies gelingt gerade im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich.

Eine solche Ausrichtung, die linkspolitische Vernetzungen aufzuweisen hat, wird sicherlich nicht nur Befürworter*innen finden, sondern auch auf Widerstand stoßen – gerade von Menschen, die Nutznießer von Unrechtssystemen sind. So wird man sich am ehesten am christlichen Glauben wieder reiben können; man wird sich über ihn vielleicht ärgern, auch konstruktiv streiten und darin hoffentlich heilsame Brücken entdecken.

Ein Letztes: Ein radikales Christentum wird auf komplizierte Herausforderungen keine plumpen Antworten geben. Es wird jedoch gleichzeitig nicht darauf verzichten, deutlich und klar Götzenkritik zu treiben. Dies ist sowohl angesichts des Totalitätsanspruchs des Neoliberalismus als auch weiterer totalitärer Regime mehr denn je nötig. Es geht um autoritäre Gewalten, die sich zum Gott machen, ein gutes Leben für alle Menschen unterminieren und Menschenrechte aushöhlen. Neben z.B. postkolonialistischen Größenwahnbestrebungen der Industrienationen, die bewusst ihren Reichtum auf dem Rücken der ärmeren Länder eskalierend vergrößern und fliehende Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, muss Russland mit seinem Angriffskrieg und dem permanenten Ausmerzen demokratischen Widerstands genannt werden. Auch in Russland will ein radikales Christentum Demokratisierungsprozesse und zivilen Widerstand ermöglichen, die schiefe Verbrüderung von orthodoxer Kirche und Staat auflösen und allein Gott (und nicht etwa Putin oder „Großrussland“) das Prädikat „göttlich“ zukommen lassen – auch wider alle Verschleierungen, die ein solches Engagement ad absurdum führen wollen und meinen, es sei alles zu kompliziert.

 

Tobias Foß

 

Anmerkungen

1 Eine kritische Darstellung zu Nassehis Äußerungen findet sich etwa in: Hellgermann, Andreas: Welt unterbrechen. „Werdet nicht gleichgestaltet dieser Welt.“ (Röm 12,2), in: Geitzhaus, Philipp/Rammingen, Michael (Hg.): Gott in Zeit. Zur Kritik der postpolitischen Theologie, Münster 2018, 67-118.

2 Manemann, Jürgen: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 14.

3 Vgl. Ptak, Ralf: Grundlagen des Neoliberalismus, in: Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 32017, 13-78.

4 Duchrow, Ulrich: Gieriges Geld. Auswege aus der Kapitalismusfalle. Befreiungstheologische Perspektiven, München 2013 [Hervorhebungen im Original].

5 Sölle, Dorothee: Mose, Jesus und Marx – Utopisten auf der Suche nach Gerechtigkeit, in: micha.links 01/2022, 4-11, 11.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2024

1 Kommentar zu diesem Artikel
19.04.2024 Ein Kommentar von M. Häußler Der Essay hat in mir Erinnerungen wach gerufen > Ragaz, Leonhard (1945): Die Bergpredigt Jesu (zur ergänzenden Lektüre)
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