In ihrem blitzgescheiten – aber leider in reichlich Fachchinesisch verfassten – Artikel im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 12/2023 (ab S. 727) behauptet Friederike Erichsen-Wendt, die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) sei seit den 1970er Jahren ein allmählich gewachsenes Instrument der Erforschung kirchlicher Problemlagen. Da irrt die Oberkirchenrätin. Bereits 1967 veröffentlichte Jens Marten Lohse sein Buch „Kirche ohne Kontakte?“, in dem die Auswertungen statistischer Befragungen von Kirchenmitgliedern einer bestimmten süddeutschen Region zu durchaus sinnreichen Erkenntnissen geführt haben. Das war wohl die erste systematische KMU. Sie hieß nur noch nicht so.
Sogar noch erheblich früher richteten theologische Fakultäten Lehrstühle für Religionssoziologie ein. 1955 erfolgte mit der Berufung Heinz-Dietrich Wendlands die Gründung des Instituts für Christliche Gesellschaftswissenschaften an der Münsteraner Universität, an deren Evang.-Theol. Fakultät. Meiner Erinnerung nach das erste evangelische überhaupt. Und wir hessen-nassauischen Pfarramtskandidaten hatten dann in der zweiten Hälfte der 1960er Karl-Wilhelm Dahm im Predigerseminar Herborn als Professor, der diesen Lehrstuhl anschließend innehatte. Wer sich von dieser Thematik ansprechen ließ – viele waren es leider nicht – bekam schon dort sinn- und hilfreiche Hinweise. Etwa die Erkenntnis, unser Berufsstand habe beste Möglichkeiten der „Mitgliederbindung“ in den Gemeinden, Schulen und Kleinregionen durch verständliche und zeitgemäße Kommunikation.
Empathie und Realitätsbezogenheit statt frommer Sprüche
„Verständlich“ sollte sich von selbst erklären, enthielt damals aber schon einen deutlichen Vorwurf an die übliche geistliche Redeweise. „Zeitgemäß“ konnte und kann aber nicht die bis heute leider oft beobachtete Methode sein, sich sprachlich und mit allerlei für modern gehaltenen Methoden anzubiedern, sondern ein ernsthaftes inhaltliches Aufnehmen der – ob „berechtigt“ oder nicht – gestellten oder auch stillschweigenden Fragen der den Pfarrpersonen begegnenden Menschen, vor allem eben der Kirchenmitglieder. Empathie und Realitätsbezogenheit statt frommer Sprüche ist dann gefragt.
Zahlreiche Synoden, Kirchenleitungen und -verwaltungen, Presbyterien, Gemeindekirchenräte, Kirchenvorstände und selbstverständlich Geistliche aller kirchlichen Ebenen, die den Schwund der Kirchlichkeit wahrnahmen, versuchten natürlich irgendwie zu reagieren. Außer den schon genannten „für modern gehaltenen Methoden“, aber doch auch manchen liebevollen echten Verbesserungen der Kommunikation (z.B. durch Kirchentage), hielten es leitende Gremien landauf, landab für geboten, sich „fachlicher“ Hilfe zu bedienen. Landeskirchen verpflichteten Unternehmensberater, Probleme zu erforschen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die zentrale Erkenntnis Eduard Lohses, dass die vor Ort Arbeitenden, Gemeindegeistliche, andere Hauptamtliche dort, Unterrichtende im Schulfach Religion und Verantwortliche im diakonischen Schaffen die Schlüsselpersonen, die Schaltstelle, ja der Knackpunkt für Entscheidungen „für oder gegen“ seien, kam in gewisser Weise unter die technokratischen Räder. Obwohl das doch jedermann wissen müsste.
Die „Milch der Verwaltung“
Alle stürzten sich auf die angeblich notwendigen „Verbesserungen“ der Organisationsstrukturen. Anstatt den vor Ort Wirkenden Schulungen zur Unterstützung oder gar Verbesserung ihrer Kommunikationsstrategien anzubieten, wurde umorganisiert. Das mich bedrückendste Beispiel ist die durchgreifende Stärkung der mittleren Ebene. Als nähre sich die Kirchenmitgliedschaft an der „Milch der Verwaltung“. Die Stärkung der mittleren Ebene bindet zahllose Fachkräfte, die vor Ort arbeiten könnten. Oft anderthalb Planstellen für die nunmehr hauptamtlichen Geistlichen in der Leitung der Dekanate bzw. Kirchenkreise. Dazu alle die Spezialpfarrpersonen „für“ besondere Aufgabenbereiche. Und die Gemeinden müssen dafür knallharte Einschnitte in der pfarramtlichen Versorgung hinnehmen. Ein bisschen weniger Mittelebene wäre schon hilfreich.
Frau Erichsen-Wendt „erläutert, inwiefern empirische Ergebnisse dazu herausfordern, Grundaufgaben kirchlicher Organisation wahrzunehmen: Kirchenentwicklung und – in der Folge – Personalentwicklung in einer dynamischen, teils disruptiven Systemwelt.“ Also nur das interessiert? Noch immer werden die schlichten Erkenntnisse der ersten Forschenden im später KMU genannten Bereich ignoriert. Auch meine persönliche Berufserfahrung in Gemeinde- und Schulpfarrer-Arbeit hat mir gezeigt, dass es an uns liegt, ob Menschen unter heutigen Bedingungen von Informationsflut, Lebensgestaltung und Sehnsüchten den Wert unserer Botschaft begreifen und für sich in Anspruch nehmen oder nicht. Mir haben die ersten zaghaften Schritte der KMU sehr geholfen. Und das unter Beibehaltung bestehender Organisationsstrukturen, notwendige Zusammenlegungen kleiner Kirchengemeinden ausgenommen. Die hatten aber auch Sinn zur Kommunikationsverbesserung.
Glaubwürdigkeit, Verständlichkeit und persönliche Stabilisierung sind gefragt
Den meisten Kirchenmitgliedern ist die „Kirchenentwicklung“ – mit Ausnahme des Fehlverhaltens zahlreicher Repräsentanten einschließlich der kirchentypischen Verschleierung von bösen Fakten – gleichgültig. Sie suchen Glaubwürdigkeit, Verständlichkeit und persönliche Stabilisierung. Auch die „Personalentwicklung“ interessiert nur insoweit, als hilfreiche direkte Ansprechpartner vor Ort gewünscht werden. So, wie wenigstens R. Anselm, K. Merle und U. Pohl-Patalong – im gleichen Heft – die „Konsequenzen für Kirche und Theologie“ zusammenfassen: „Gesellschaftliche Relevanz in der Minderheitensituation zu entfalten (…), wird nicht mit Konzentration auf die traditionellen Formen funktionieren, sondern nur durch ein aufmerksames Wahr- und Ernstnehmen dessen, was Menschen heute in ihrem Inneren bewegt, welche Fragen sie an das Leben und unser Zusammenleben stellen – mit Ausdrucksformen, die ihnen entsprechen.“
Solches „aufmerksames Wahr- und Ernstnehmen“ ist durchaus nicht eine Einführung der „Religionssoziologie als neue kirchliche Leitwissenschaft“, wie J. Fischer – auch im gleichen Heft – argwöhnt, sondern eine intensive echte Herausforderung für die theologische Alltagsarbeit, den „Sitz im Leben“ biblischer Botschaft wie auch pfarramtlicher Tätigkeit ständig als das Wichtigste zu erkennen. Ohne den „Anknüpfungspunkt“ (P. Tillich) fortgesetzt im Auge zu behalten, verharren Verkündigung, Seelsorge, Unterricht und sogar Diakonie in der Gedankenwelt und der „Sprache Kanaans“. Woher wohl kommt die fortschreitende „Minderheitensituation“? Säkularisierung ist doch die Folge eines Nicht-Betroffen-Seins – und kräftig durch die allgemeine Individualisierung ernährt. Es braucht also gar keine „Kirchenreform“, sondern ein Begreifen und Umdenken der Handelnden.
Kirche ohne Kontakte?
Lohses „Schlussfolgerungen“ enden (1967!) mit den Worten: „Unter dem normalen Aspekt erscheint eine Kirchengemeinde als ,Kirche ohne Kontakte?‘ undenkbar. Im Vergleich zu dem überkommenen Gemeindebild jedoch erweisen die faktischen Verhältnisse – auch im ,innergemeindlichen‘ Beziehungsrahmen – die Kirchengemeinde vielfältig als ,Kirche ohne Kontakte!‘. Eine sachgemäße Beurteilung der Diskrepanz zwischen normativen Vorstellungen und faktischen Verhältnissen scheint u.E. nur vor dem Hintergrund des Wandels der Bindungs-, Beziehungs- und Kontaktformen in unserer Gesellschaft möglich zu sein. Diesem Wandlungsprozeß sind die kirchengemeindlichen Verhaltensmuster in gleicher Weise unterworfen, ohne daß dabei die Existenz der Kirchengemeinde in Frage gestellt wäre. Vielmehr fordern die Veränderungen der kirchengemeindlichen Kontakt- und Beziehungsformen eine realitätsbezogene Selbstdeutung und Interpretation der Kirche.“
Bis heute scheinen diese schlichten Mahnungen und Ratschläge entweder nicht ernst genommen oder fehlinterpretiert worden zu sein. Und inzwischen ist nun auch schon – deutlich sichtbar – „die Existenz der Kirchengemeinde in Frage gestellt“. Wann endlich wird „realitätsbezogen“ gesprochen und gehandelt?
Ausgerechnet ein Leserbriefschreiber, Daniel Völker, beantwortet im gleichen Heft die selbst gestellte zentrale Frage: „Wie kann Kirche wieder in Kontakt kommen mit den Menschen und ihren existentiellen Fragen heute?“ Er schreibt, wir müssen „erst einmal wieder hören lernen. Hören auf die Menschen und auf das, was Gott uns durch sie sagt. Hören, ohne die Antwort schon zu wissen. Das könnte ein Ausgangspunkt sein, theologisch und praktisch.“
Gerhard Roos
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2024