Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung macht deutlich, dass den Religionen in Deutschland zur Zeit der Wind ins Gesicht bläst. Gereon Vogel-Sedlmayr plädiert dafür, das nicht zum Anlass für ein Volkskirchen-Bashing zu nehmen. Im Gegenteil!

Als Pfarrer(-in) ist man gewöhnt, dass die höchstpersönliche und oft delikate Frage nach dem persönlichen Glauben in unserem Land mit Mitteln der Soziologie und Statistik untersucht wird. Seit gut einem halben Jahrhundert betreibt auch die Evang. Kirche in Deutschland Programme der Langzeitforschung, die den aktuellen Zustand der Religiosität in unserem Land untersuchen. Alle zehn Jahre erhebt und veröffentlicht sie eine sogenannte „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ (im Folgenden: KMU), für die mittlerweile auch Konfessionslose und Katholiken befragt werden. Gegen Ende letzten Jahres ist die neue KMU veröffentlicht worden – das Medienecho war groß.

Was ist nun an der neuen Studie besonders wichtig? Wie soll man zu ihr Stellung nehmen? Es gab auch Kritik theologischerseits – inwiefern ist sie zu beachten? Solche Fragen werden sicherlich noch lange diskutiert werden. In diesen Beitrag soll lediglich ein einzelner, aber besonders aussagekräftiger Graph aus der Untersuchung erörtert werden. Bei ihm geht es direkt um die Gretchenfrage: „Wie hast Du’s mit der Religion?“

 

Glocke, Band oder Keil?

Wenn man die Deutschen nach ihrer Selbsteinschätzung zur Religiosität bzw. Nichtreligiosität befragt und das Ergebnis in einem Säulendiagramm darstellt – welches Bild ergibt sich dann? Idealtypisch lassen sich als Grundformen des Graphen in etwa so unterscheiden: Glocke, Band oder Keil. „Glocke“ wäre die stochastische Normalverteilung – das hieße: Die Deutschen hielten sich überwiegend für durchschnittlich religiös – ebenso wenige für dezidiert irreligiös wie für religiös. „Band“: Die Haltung hinsichtlich der Religion in der deutschen Bevölkerung wäre ausgeglichen. „Keil“: Ein Gefälle, neudeutsch: eine „Bias“ (Voreingenommenheit), hinsichtlich der Religiosität sei feststellbar. Die Befragten seien entweder tendenziell religionsfreundlich oder religionskritisch; wobei die jeweilige Tendenz natürlich unterschiedlich stark ausfällt.

Bemerkenswerterweise ergibt der Graph ein Bild, das einem dieser Idealtypen nahekommt:

 

Das Bild des Graphen geht deutlich in Richtung der Form eines Keils, und zwar eines ziemlich spitzen. Das Ergebnis der Umfrage ist also: Was sie auch im einzelnen als „religiös“ bezeichnen – die Deutschen wollen es nicht sein. Lediglich drei Prozent bezeichnen sich uneingeschränkt als religiös, gegenüber über 30 Prozent, die sich dezidiert als nicht religiös bezeichnen. Wie immer man es dreht, relativiert und wendet, der Befund ist klar: Es gibt in unserem Land zurzeit eine ausgeprägte religionskritische Bias.

 

Wer oder was ist schuld?

In Diskussionen werden die Ursachen für diesen Befund zunächst im Bereich der Kirchen selbst gesucht. Im Laufe der Zeit hat man so manche Vorlagen für ein regelrechtes Kirchen-Bashing erlebt. Etwa die kritischen Einschätzungen: Sie seien zu verkopft und dogmatisch – oder zu beliebig und traditionsvergessen. Sie seien zu eng und konservativ – oder zu lax und liberal. Ihre Struktur gleiche chaotischen Haufen – oder sie seien bürokratisch überorganisiert.

Einzelne Anfragen an die Kirchen dieser Art, so gegensätzlich sie sind, haben möglicherweise eine gewisse Berechtigung. Für die momentane Situation der Religiosität in Deutschland gibt es aber vor allem Gründe, die außerhalb der Kirchen liegen. Etwa die einfache Tatsache des stabilen Wohlstandes in unserem Land, der im Verbund mit der Individualisierung der Religiosität entgegenläuft, wie etwa der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack meint.

Ein weiterer Gesichtspunkt schließlich drängt sich auf: Die prekäre Rolle, die einige Religionen auf der Weltbühne spielen. In mehreren Ländern stehen traditionell-religiöse Kräfte freiheitlich-demokratischen Entwicklungen entgegen. Die besonders unsympathischen Figuren der Weltpolitik Putin, Erdogan und Trump sind erklärte Freunde traditioneller Religionen. Und Konflikte in der Welt spielen sich häufig entlang der Grenzlinien ab, die die Religionsgeschichte vorgezeichnet hat.

 

Hüterin der Nischen

Dass seit 2021 nicht mehr die Hälfte der Bevölkerung den Volkskirchen angehört, ist stark beklagt worden. Ebenso das hohe Maß an Austrittsbereitschaft. Angesichts der Haltung der deutschen Bevölkerung zur Religiosität reibt man sich dagegen die Augen, wie stark die Kirchen überhaupt sind. Sowohl darüber, wie viele Menschen noch in den Kirchen sind, als auch wie viele mit dem Austritt zögern.

Das ehemalige Selbstverständnis der Volkskirchen, sie würden die Bevölkerung in ihren wesentlichen Belangen repräsentieren, ist offenbar obsolet. In unserem Land ist mit der Religiosität augenblicklich kein Staat zu machen. Und trotzdem ist die Bindekraft der Volkskirchen erheblich. Ihre Fähigkeit, als flächendeckende Netzwerke zu bestehen. Das ist keine Bestandsgarantie für die Zukunft, aber trotzdem erfreulich.

Gegenüber kirchlichen Verlautbarungen der Vergangenheit, die sich über die „Winkelkirche“ oder das „Nischenchristentum“ mokiert haben, ist im Gegenteil zu würdigen, wie viele ökologische Nischen durch die Arbeit der Kirchen lebendig geblieben sind. Vieles von dem, was von den Volkskirchen noch übrig ist, hat sich keineswegs überlebt. Und in bescheidenem Maße gibt es ja auch in ihrem Umfeld neue Aufbrüche von Religiosität. Wie zum Beispiel vergangenes Jahr beim Kirchentag zu erleben.

Als Aufgabenbeschreibung kirchlicher Arbeit für die Zukunft ist die Pflege und Neuschaffung von Nischen zu nennen, in denen die Religiosität und das Christentum der Zukunft wurzelt.

Gereon Vogel-Sedlmayr

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. theol. Gereon Vogel-Sedlmayr, Jahrgang 1964, Promotion mit einer religionswissenschaftlichen Arbeit, 1999-2013 Vorsitzender des Evang.-luth. Bildungswerkes Passau, seitdem Gemeindepfarrer in der Nähe von München.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2024

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