Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule wird gewöhnlich nicht als hilfreicher Dialogpartner für Theologie und Kirche angesehen. Doch dieses Urteil könnte auf einer Fehleinschätzung beruhen. Florian Schneider will in seinem zweiteiligen Beitrag das Gespräch mit der Philosophie Theodor W. Adornos aufnehmen. In einem ersten Teil stellt er die Gesellschaftskritik Adornos dar, die der Moderne Tendenzen in Richtung Inhumanität bescheinigt. In diesem „falschen“ Umfeld könnten Hoffnungsperspektiven eines „richtigen Lebens“ in den symbolischen Handlungen kirchlicher Sakramente aufblitzen, wie Schneider dann im zweiten Teil ausführt.

 

I. Zum Gespräch

Nicht viel mehr als kleinere Seitenblicke hat sich die Evangelische Theologie auf die „Kritische Theorie“ gegönnt.1 Dass kein nachhaltiger Dialog, keine konstruktive Adaption oder prononcierte Abstoßung stattgefunden haben, wird sicherlich auch an politischen Etikettierungen liegen, die man der Kritischen Theorie angeheftet hat, bestimmt auch daran, dass die Frankfurter Schule keine übergroßen Schritte auf die Theologie und die Kirche zugegangen istiese beiderseitige Nicht-Wahrnehmung ist zum Schaden der Theologie wie der Kritischen Theorie. Mit folgenden Überlegungen möchte ich in einem kleinen systematischen Zusammenhang und in Beschränkung auf Theodor W. Adorno beide aufeinander beziehen.

Vorgeschaltet wird eine Bemerkung, die die Dialogbedingungen und -chancen umreißt. Im Rekurs auf die Kritische Theorie erweitert die Evangelische Theologie ihren Horizont, indem sie genötigt wird, den gesellschaftlichen Zustand in seiner allgemeinen Wirkmacht wahrzunehmen – gewiss durch die Brille Kritischer Theorie, aber doch dadurch befasst mit der, wie Adorno sie emphatisch nennt, „falschen Gesellschaft“; falsch in dem Sinne, dass das Allgemeine gegenüber dem Besonderen dominiert. Adorno bietet sich als Dialogpartner an, weil er die gesellschaftliche Präformierung konsequent bedenkt. Seine Einwürfe fordern die Theologie heraus, sich auf etwas zu beziehen, was sie sonst überwiegend entweder als nachrangig nur mit wenig Aufmerksamkeit bedenkt oder vorschnell und mit einer Spur Aktionismus zum ersten Handlungsfeld auflädt. Die gesellschaftstheoretische Diagnostik der Kritischen Theorie kann Theologie und Kirche helfen, sich und ihre Arbeit reflektiert im gesellschaftlichen Allgemeinen zu verorten.

Adorno – nicht gerade ein Denker mit kirchlich-theologischer Schlagseite

Adorno ist nicht als Religionsphilosoph hervorgetreten und ebenso wenig als Denker mit kirchlich-theologischer Schlagseite. Andererseits liegt der Ausgriff auf das Theologische mindestens implizit, am Rande aber auch explizit in der Flucht seines Denkens und bestimmt es in einer gewissen Heimlichkeit und mit sachlichem Gewicht auch dort, wo dieser Bezug nicht offenbart wird. Die Minima Moralia beschwören in ihrem solennen Schluss einen „Standpunkt der Erlösung“3 als einzige Rettung einer unausweichlich in Verzweiflung verstrickten Philosophie. An exponierter Stelle ruft Adorno eine Perspektive auf, die mit dem Stichwort „messianisches Licht“ als ein eschatologischer Bezug auf Versöhnung aufzufassen ist, der der theologischen Denkbewegung zumindest formal affin ist. Die Philosophie ist damit einerseits auf eine zukünftige und cum grano salis eschatologische Denkrichtung justiert.

Diese die verzweifelte Philosophie erlösende Sicht ist andererseits für Adorno im eigenen gewählten Denk- und Arbeitsrahmen unmöglich.4 Folgerichtig, um Hoffnung und Erlösung nicht aufzugeben, sind die kritischen Überlegungen zu erweitern um eine unmögliche Möglichkeit: in, trotz und wegen aller Hoffnungslosigkeit schimmert eine Spur Hoffnung auf, muss sich die Philosophie der Hoffnungslosigkeit stellen und über sich hinausgehen.5

Erlösung im Konjunktiv

Zwar nimmt Adorno eine Perspektive der Erlösung ein, dies aber nur konjunktivisch bzw. als irreale Option. Er leiht sich sozusagen eine messianische Hoffnung, relativiert sie sogleich und hält sie dennoch im selben Atemzug fest.6 Der als Grenzgedanke erfasste Bezug zur messianischen Hoffnung, letztmöglicher Stachel gegen die Totalität, ist für Adorno zugleich notwendig (um nicht rettungslos unterzugehen) wie unmöglich (weil die Quelle dieses Scheins von Erlösung unklar ist). Der Grenzgedanke einer unmöglichen Möglichkeit der Erlösung ergibt sich komplementär aus der schneidenden Erfahrung der Unerlöstheit; und diese Hoffnungsperspektive ermöglicht den philosophischen Rhythmus zwischen schonungsloser Kritik am Gegebenen und der Hoffnung, dass das, „was ist, nicht alles ist“7.

Adornos Negativität hält der Utopie die Treue – und muss es in aller Kritik tun; Erlösung im messianischen Licht ist zum einen die Bedingung der Möglichkeit, der unheilvollen Fratze der Welt ins Gesicht zu sehen, zum anderen aber als positiver Überschuss über diese kritische Ausrichtung lediglich unverbürgt da. Es entspricht dieser Treue, dass Adorno die Theologie dabei behaftet, diesen hoffnungsvollen Blick nicht aufzugeben.8

Diese dialektische Perspektive hält das eigene Denken mit dem unaufhörlichen kritischen Impuls und Impetus fest und öffnet es zugleich, sie stellt sich der ausweglosen Lage und zieht doch eine virtuell-hoffnungsvolle Distanz zu ihr ein: „theologische Risiken“9 geht Adorno ein, weil sie mit seiner Methode der bestimmten Negation in tiefgründiger Weise verbunden sind: Die Utopie „steckt wesentlich in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, daß es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll.“10 Als produktive Unterströmung entwickelt sich unter der Negation ein hoffnungsvolles Surplus.

Man hüte sich vor übereilten Äquivokationen: Das messianische Licht ist nicht gleichzusetzen mit der konkreten Hoffnung, die sich mit dem Namen Jesus Christus verbindet. Und doch: Ein Gespräch im Klima der ­Hoffnung – diese Haltung verbindet Adorno und die Theologie.

 

II. Zur Gesprächsgrundlage

Diesen Zusammenhängen zum Trotz ist Adornos Denken als Sackgasse kritischer Negation empfunden worden. Sein in einer Reflexion über die Antinomie des Wohnens entwickelter Paradesatz lautet bekanntlich: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“11 Alle Versuche, innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft das Alltagsleben radikal und nachhaltig umzugestalten, müssen unter diesem Verdikt scheitern, weil „der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang hinter dem normativen Maßstab eines im Ganzen gerechten Lebens zurückfällt“12.

Adornos Modell eines stellvertretenden Lebens

Weniger bekannt ist, dass Adorno an dieser Engstelle weitergedacht und das Modell eines stellvertretenden Lebens konzipiert hat: „intersubjektive Beziehungen, in denen die Beteiligten sich als immerhin partiell frei und selbstbestimmt erfahren – fähig zum partiellen Widerstand … und fähig zur partiellen Solidarität gegen das abstrakte Selbsterhaltungsprinzip in der Tauschgesellschaft.“13

Das ist nicht viel, insofern die anzustrebende, eminent politisch-gesellschaftliche Frage nach der Einrichtung der Welt insgesamt zurückgestellt oder – soll man sagen? – aufgegeben wird. Dieses Konzept leistet auf der anderen Seite Beträchtliches, weil es, ohne vor der falschen Gesellschaft zu kapitulieren, Erfahrungsräume von Humanität offenhält. In der gesellschaftlichen Totalität ist nach Möglichkeiten zu suchen, „humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu bilden“14.

Als Grundlage des Gesprächs mit Adorno wird die Suche nach solchen humanen Zellen vereinbart. Bereits Adornos Konkretisierungen deuten in einen Bereich, der dem Theologischen nicht fremd ist: auf die Ehe. Diese Fährte wird aufgenommen und in Richtung der Sakramente weiter verfolgt, und zwar mit dieser Hypothese: Die Sakramente, von der kritischen Theorie her theologisch gelesen, bieten Erfahrungsräume eschatologischer Humanität im inhumanen Allgemeinen. Abseitig ist der Verweis auf die Sakramente nicht, bedarf es doch für Adorno als Bedingung der Möglichkeit von Freiheitsregungen eines „‚gewissen archaischen ­Moments‘“15.

 

III. Kritik am Projekt der Moderne

Menschliche Individualität und Freiheit sind der Zielpunkt für Adornos Überlegungen, der jedoch nicht positiv entfaltet werden kann, sondern sich ergibt als Dekonstruktion der gesellschaftlich bedingten condition humaine. In der kritischen Diagnostik ist die Liquidation des Individuums16 der breit entfaltete Grundgedanke. Ebenso tragisch wie folgerichtig ist es, dass sich diese Liquidation als Ergebnis eines erstrebenswerten Projektes (aufklärerischer Rationalität) einstellt: die Beseitigung einer auf dem Menschen lastenden Angst soll realisiert werden.17 Sie wird aber derart „schief“ oder einseitig überwunden, dass am Ende eine Auslöschung des Menschlichen steht.

Menschliche Selbsterhaltung soll die Angst zum Verschwinden bringen.18 Das sese conservare ist aber – und darum ist die bewerkstelligte Vertreibung der Angst nur vordergründig erfolgreich – ein höchst ambivalenter Begriff, der in sich erkenntnistheoretische, subjektivitätstheoretische und gesellschaftliche Konstellationen einschließt. In Opposition zur Selbsterhaltung steht Natur in einem weitläufigen Sinn: alles, was nicht Ich ist, alles „draußen“. Der selbsterhalterische Umgang mit diesem Draußen erfolgt im Modus der Herrschaft. Innerer Motor des Selbsterhalts ist das Identitätsprinzip. Wenn ich recht sehe, lassen sich in diesem Motivbündel drei Argumentationslinien differenzieren, die ineinander verwoben sind, hier aber zur übersichtlichen Darstellung nacheinander präsentiert werden sollen.

Die Herrschaft der Vernunft

Ein erster Entdeckungszusammenhang ist ein rationalitätskritischer. Er wird entfaltet als eine Analyse der durch die Aufklärung inaugurierten und zur Herrschaft gelangten Vernunftstandards. Sie streben eine objektivierende Verfügung über die Natur an und realisieren diesen Zugriff durch eine „Konstruktion vom Begriff her“19, die Besonderheit und Individualität hintanstellt, als eine „Zerstörung von … Qualitäten“20. Begriffliche Herrschaft bedeutet, dass schematisch rezipiert wird, d.h. nach verstandesmäßigen, vernünftigen Mechanismen, die der Natur unterlegt werden. Was sich dem Begriff nicht einfügen lässt, alles Konkrete und nicht Verrechenbare, wird ausgemerzt.21 Selbsterhaltung erreicht im Ergebnis denkerisch insofern keine Individualität, als sie identisch machen muss, was nicht identisch ist; Dinge werden zur bloßen Materie, Seiendes wird degradiert zum Zählbaren, Heterogenes wird abgeschnitten.22 Diese quantifizierende Praxis schlägt in sich um in Naturzerstörung, „Liquidation“23. Unersättlich-destruktiv wie ein Diktator greift die Vernunft in Gestalt des Identitätsprinzips auf die Natur aus.24

Der aufklärerische, die Natur ordnende Geist hat zwar einerseits den schaffenden Gott zum Vorbild, die Menschen aber bezahlen andererseits diese Ermächtigung über die Natur mit einer „Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben“25. Die Dialektik von Herr und Knecht scheint auf: In dem Maße, wie die Natur herrisch gebrochen wird, unterjocht sich die Vernunfttätigkeit sklavisch eben jener Natur.26 Das Denken kehrt sich gegen es selbst und verdinglicht Denken wie Denker: „Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität.“27

Begrifflich-identifikatorisches Denken bemächtigt sich der Natur, erfasst aber weder die Natur noch sich selbst angemessen, weil das „Ich denke“ den Erkenntnisprozess tautologisch korrumpiert. Ruinös sind die Folgen für das rationale Subjekt, sofern es zum „Ich denke“ heruntergekürzt wird: „die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke … Subjekt und Objekt werden beide nichtig. […] Die Gleichung von Geist und Welt geht am Ende auf, aber nur so, daß ihre beiden Seiten gegeneinander gekürzt werden.“28 Rationales Subjekt und Natur werden nicht nur quantitativ gekürzt, sondern auch qualitativ, weil verdinglicht.29 Die Vernunft erkauft sich ihren Sieg gegen das Draußen dadurch, dass sie alles dem Prinzip der Identität unterwirft – auch sich selbst. Vor allem bleibt das Projektziel unerreicht: Angst und Naturverfallenheit bleiben.30

Die Liquidierung des Subjekts

Ein zweiter Entdeckungszusammenhang liegt in den bereits angeklungenen subjektiven Reflexen des ersten: In der – bewusstseinsphilosophisch gesprochen – Konstitution des Ich finden die aufklärerischen Rationalitätsstandards ihre subjektivitätstheoretische Entsprechung. Was die instrumentelle Vernunft im Umgang mit der Natur vorexerziert, findet sein Echo in der Genese der Subjektivität: Einmal auf das Draußen von der Kette gelassen, dehnt die Vernunft ihren Schematismus auf menschliche Subjektivität aus. Rationalisierung betrifft nicht nur die Natur, sondern auch das Subjekt, das folgerichtig austauschbares, versachlichtes Objekt wird.31 Die Subjektivierung ergibt sich aus der „Distanzierung von Natur als Objekt, beruhend auf Strukturierungsleistungen des sich selbst erhaltenden und stabilisierenden Subjektes“32. Subjektivierung und Herrschaft gegen die Natur im Banne der Selbsterhaltung sind analoge Vorgänge: Differenz wird einem inneren Telos folgend zur Herrschaft. Auch menschliche Individualität ist insofern mit Objektivation beschwert, als sich Identität konstituiert als Ergebnis einer Anpassungsleistung an die Praxis der conservatio sui. In dem Maße, wie Natur unterdrückt wird, wird das Subjekt – trotz aller objektivierenden Distanznahme selbst ein Naturwesen – in seiner vermeintlichen subjektivierenden Objektivierungstätigkeit selber beschädigt, regrediert, wird entqualifiziert und entindividualisiert.33

Die Liquidation der Natur schlägt dialektisch um in eine Liquidation des Subjektes infolge der Anpassung an die Natur, wodurch menschliche Subjektivität zum bloßen Reflex dessen wird, über das sie sich eigentlich furchtlos zu erheben gedachte. „Freiheit, Emanzipation und Individualität sind nur in ihrer Einschränkung und Beschädigung durch die notwendigen Bedingungen der Naturbeherrschung denkbar.“34 Nur vermeintlich in einer Dominanz gegen die Natur konstituiert sich das Ich, vielmehr: in einer es selbst aushöhlenden Anpassung an das Draußen. Die mit der Aufklärung verwobene Deformation stellt sich in dem Maße ein, wie das naturbeherrschende Subjekt seine Freiheit und Subjekthaftigkeit verliert und selbst in der Objektivierung des Draußen zum Objekt seiner Praxis wird.35

Die „Odyssee“ bildet für Adorno diese spezifische Subjektivierung, den Umschlag ins Objektiv-Namenlose, ab, indem sie „die Beschreibung der Fluchtbahn des Subjekts vor den mythischen Mächten“ liefert.36 An der Odysseusfigur zeigt sich prototypisch die in der Selbstbehauptung beschlossene Selbstverleugnung37, „die Entfremdung von der Natur“, die sich „in der Preisgabe an die Natur“ vollzieht38. In diesem Narrativ europäischer Zivilisation wird die urgeschichtliche Weichenstellung der Subjektivität expliziert: wie sich Natur und Bewusstsein differenzieren und sich die Zweck-Mittel-Struktur verkehrt.39 Der listig-vernünftige Odysseus verliert sein Leben, da er es gewonnen zu haben vermeint und sich Polyphem gegenüber als das vorstellt, was er in seinem Vernunftgebrauch geworden ist: als „Niemand“.40 Er steht als Urtypos des aufgeklärten Menschen für den „Verlust des eigenen Namens“41 und ist darin kein Einzelschicksal: der aufgeklärte Mensch wird zum „Niemand“.42 „Wogegen die Menschen nicht ankönnen, und was sie selber negiert, dazu werden sie selber.“43 Zuletzt: lauter Niemande.

Die „falsche“ Gesellschaft

Schließlich ist die Liquidation des Individuums zugleich systematische Grundlegung wie sich potenzierende Folge falscher Gesellschaft: Grundlegung insofern, als durch die entzweiende Struktur identifizierenden Denkens der Mensch sich in all seinen Äußerungen zu einem Gesamtverblendungszusammenhang vergesellschaftet, weil „das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses“44 ist. Die zutiefst zweideutige Selbsterhaltung formiert eine falsche Gesellschaft und vergesellschaftet kontinuierlich individuell wie kollektiv ihre destruktiven Folgen.45 Was in der Selbstbehauptung gegen die Natur seinen Ursprung hat, wird zum gesellschaftlichen Movens, so dass sich auch soziale Herrschaft nach dem Modell der Naturbeherrschung konstruiert. Auf diesen Zusammenhang wird später mit einem Fokus auf der Beschreibung des Tauschprinzips einzugehen sein.

 

(Teil II im nächsten Heft)

 

Anmerkungen

1 Als Auswahl aus der überschaubaren Literatur nenne ich zwei Veröffentlichungen, die die Extrempositionen interessierter Annäherung und schroffer Ablehnung einnehmen: W. Brändle, Rettung des Hoffnungslosen (FSÖTh 47), 1984; T. Koch/K.-M. Kodalle, Die negative Dialektik Th. W. Adornos und das Dilemma einer Theorie der Gegenwart, in: T. Koch et al., Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung. Eine Kontroverse über Theodor W. Adorno, 1973, 7ff. – Die neuere Literatur ist über diese Extrempositionen hinaus und auf dialektischem Niveau angelangt; vgl. z.B. Chr. Henning, Der Faden der Ariadne. Eine theologische Studie zu Adorno (Beiträge zur rationalen Theologie 2), 1993. – Adornos Schriften werden zitiert nach: Ders., Gesammelte Schriften (hrsg. von R. Tiedemann), 1970ff; im Folgenden abgekürzt mit „GS“.

2 Adorno verfolgt prima facie eine theologie-kritische Sicht; vgl. GS 6, 389, wo die Theologie ihm als eine solche Formation gilt, die dem Menschen etwas „aufzwingt und damit schändet.“ Adorno nimmt eine für ihn typische Doppelperspektive ein und kann das weite Feld zwischen „messianisch“ und „atheistisch“ bespielen. Vgl. dazu: U. Liedke, Naturgeschichte und Religion. Eine theologische Studie zum Religionsbegriff in der Philosophie Theodor W. Adornos, 1996, bes. 17; Chr. C. Brittain, Adorno and Theology, 2010, 7ff.37f.146f.

3 GS 4, 281. Vgl. zum Schluss der Minima Moralia vgl. E. Thaidismann, Der Blick der Erlösung. Zu Adornos letztem Aphorismus in den „Minima Moralia“ (ZThK 81, 1984, 491ff); M. Brumlik, Theologie und Messianismus im Denken Adornos (in: H. Schröter/S. Gürtler [Hg.], Ende der Geschichte. Abschied von der Geschichtskonzeption der Moderne? Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerkes Villigst 5, 1986, 36-52). – Schon in den 1930er Jahren hat Adorno brieflich Horkheimer mitgeteilt, die „Rettung des Hoffnungslosen“ sei der „Zentralversuch“ seiner Arbeit (GS [Horkheimer] 15: Briefwechsel 1913-1936, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, 1995, 328 [Brief vom 25.2.1935]).

4 GS 4, 281: „Aber das ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins … entrückt ist.“ Brittain (Anm. 2), 129ff.

5 Vgl. Thaidigsmann (s. Anm. 3), 496, vgl. 493. Theologischer Diskurs kann sozusagen eine humane Zelle sein, wie Brittain (s. Anm. 2), 18, andeutet (vgl. ebd. 79.86.143.162).

6 GS 4, 136: „So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf Rettung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei, und doch ist es sie, die ohnmächtige, allein, die überhaupt uns erlaubte, einen Atemzug zu tun. […] Die Wahrheit ist nicht zu scheiden von dem Wahn, daß aus den Figuren des Scheins einmal doch, scheinlos, die Rettung hervortrete.“ Vgl. GS 4, 281. Brumlik (s. Anm. 3), 44, benennt das als „konjunktivistischen Messianismus“.

7 GS 6, 391. Vgl. Brumlik (s. Anm. 3), 44: „Absage ans Wirkliche“ und „Flucht ins Mögliche“.

8 Adorno entwirft in einer Auseinandersetzung mit Nietzsche geradezu ein Anforderungsprofil für eine „Theologie der Hoffnung“. Es sei das „Verbrechen der Theologie“, eine Hoffnungsperspektive nicht aufrecht zu erhalten (GS 4, 108; vgl. GS 6, 390). „Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint“ (GS 4, 108).

9 GS 6, 84.

10 Vgl. Adorno/E. Bloch, „Etwas fehlt …“ Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht (in: F. Dieckmann u. J. Teller [Hg.] E. Bloch, Viele Kammern im Welthaus. Eine Auswahl aus dem Werk, 1994, 687ff), 698.

11 GS 4, 43. – Vgl. GS 4, 195: „Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft.“ Gesellschaftliche Antagonismen sind omnipräsent, sogar in Momenten der Versöhnung; vgl. GS 6, 306.

12 G. Schweppenhäuser, Humane Zellen im inhumanen Allgemeinen? Adornos negative Moralphilosophie (in: S. Ellmers/I. Elbe [Hg.], Die Moral in der Kritik. Ethik als Grundlage und Gegenstand kritischer Gesellschaftstheorie, 2011, 151ff), 167.

13 G. Schweppenhäuser, Gibt es ein „stellvertretendes Leben im falschen“? Moralische Aporien nach Adorno (Zeitschrift für kritische Theorie 20/21, 2005, 147-170), 149. Vgl. auch E. Thaidigsmann, Das Versprechen. Metaphysische Erfahrung bei Theodor W. Adorno (ZThK 106, 2009, 118-136).

14 GS 4, 33. Entwickelt wird der Gedanke in einer Reflexion auf die Ehe. Auch in der rituellen Praxis des Gebetes vermag Adorno einen humanen Impuls zu sehen; Belege bei Brittain (Anm. 2), 102.188.191.

15 H. Brakemeier, Eine Assoziation freier Individuen als gesellschaftliches Gesamtsubjekt und Elemente einer gesamtwirtschaftlichen Planung in der „Marktwirtschaft“ (in: J. Becker/H. Brakemeier [Hg.], Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, 2004, 122ff), 151.

16 Vgl. GS 4, 88. 167-169. 260 u.ö. – Vgl. zur Subjektivitätsthematik: D. Kipfer, Individualität nach Adorno (Basler Studien zur Philosophie 10), 1998; E. Beck, Identität der Person. Sozialphilosophische Studien zu Kierkegaard, Adorno und Habermas (Epistema. Würzburger wissenschaftliche Schriften 94, 1991), bes. 72ff.

17 GS 3, 19. Vgl. GS 3, 32: „Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. […] Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.“ – Vgl. GS 6, 32 (sich fortschreibende Angst).

18 Vgl. GS 6, 342; GS 3, 46; Aufklärung und Selbsterhaltung sind Komplementärbegriffe; vgl. GS 3, 102.

19 GS 6, 149.

20 GS 3, 24.

21 GS 6, 49: „die Reduktion auf die allgemeinen Begriffe merzt vorweg schon deren Widerspiel aus, jenes Konkrete“. Vgl. GS 3, 56f.

22 GS 6, 17: „Da aber jene Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm sich nicht einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an.“

23 GS 3, 29. – Vgl. GS 3, 102f: „Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung.“

24 GS 6, 146; GS 3, 25.

25 GS 3, 25. Vgl. ebd.: das „Wesen der Dinge“ wird vereinfacht und immer wieder nur „Substrat von Herrschaft“.

26 GS 3, 29: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, … gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. […] Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation.“

27 GS 3, 26. – Vgl. GS 3, 27.

28 GS 3, 43. – Vgl. GS 6, 185 und 187: Aufklärung ist nichts anderes als eine „reductio hominis“.

29 GS 3, 266: „In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat.“ Vgl. GS 3, 45: „Versachlichung des Geistes“.

30 Vgl. GS 6, 174: „Identifizierendes Denken … perpetuiert in der Angst Naturverfallenheit.“

31 GS 3, 45: „Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen.“

32 Kipfer (s. Anm. 16), 89.

33 GS 6, 181: „In der geistigen Allmacht des Subjekts hat seine reale Ohnmacht ihr Echo. Das Ichprinzip imitiert sein Negat. Nicht ist, wie der Idealismus über die Jahrtausende es einübte, obiectum subiectum; wohl jedoch subiectum obiectum. Der Primat von Subjektivität setzt spiritualisiert den Darwinschen Kampf ums Dasein fort. Die Unterdrückung der Natur zu menschlichen Zwecken ist ein bloßes Naturverhältnis; darum die Superiorität der naturbeherrschenden Vernunft und ihres Prinzips Schein.“

34 Kipfer (s. Anm. 16), 86.

35 GS 6, 178: „seine [die des Ich; Vf.] zentristische Identität geht auf Kosten dessen, was dann der Idealismus ihm selbst attributiert. […] Je selbstherrlicher das Ich übers Seinende sich aufschwingt, desto mehr wird es unvermerkt zum Objekt und widerruft ironisch seine konstitutive Rolle.“

36 GS 3, 64; vgl. dazu insbesondere Liedke (s. Anm. 2), 270ff.

37 GS 3, 87: „Seine Selbstbehauptung aber ist wie in der ganzen Epoche, wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung.“ – Vgl. GS 3, 61: „Urbild eben des bürgerlichen Individuums“.

38 GS 3, 66.

39 GS 3, 73: „In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck … ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar.“

40 GS 3, 86: „In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe.“ – Vgl. zur Dialektik von Erhalt und Verlust GS 3, 50 und GS 3, 73.

41 GS 3, 48.

42 Vgl. GS 3, 48: „Das … Selbst löst sich auf in ein Element jener Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete. Die älteste Angst geht in Erfüllung, die vor dem Verlust des eignen Namens.“

43 GS 6, 337. – Vgl. ebd. 275: „Identitätsverlust um der abstrakten Identität, der nackten Selbsterhaltung willen“.

44 GS 4, 259. Vgl. GS 3, 46f.

45 GS 6, 169: „die Einrichtung der Welt, welche die Menschen zu Mitteln ihres sese conservare erniedrigt“. GS 3, 205: „Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort …“.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2024

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