Der vor 150 Jahren verstorbene Philosoph und Theologe David Friedrich Strauß erweckte durch sein erstmals 1835/36 erschienenes Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ großes Aufsehen. In ihm bestritt Strauß, der die Möglichkeit eines übernatürlichen Einwirkens Gottes ausschloss, nicht nur die Gottessohnschaft Christi und die Sühnopferfunktion seines Kreuzestodes, sondern überhaupt die historische Faktizität der im NT berichteten Wunder und Auferstehung Jesu. Damit erzielte Strauß eine nicht gering zu schätzende Wirkung, wie Matthias Hilbert u.a. am Beispiel Friedrich Engels’ zeigt.
Der vor 150 Jahren, am 8. Februar 1874, verstorbene Philosoph und Theologe David Friedrich Strauß (*27.1.1808) erweckte durch sein erstmals 1835/36 erschienenes Werk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ großes Aufsehen. In ihm bestritt Strauß, der die Möglichkeit eines übernatürlichen Einwirken Gottes ausschloss, nicht nur die Gottessohnschaft Christi und die Sühnopferfunktion seines Kreuzestodes, sondern überhaupt die historische Faktizität der im NT berichteten Wunder und Auferstehung Jesu. Dergleichen wurde von ihm lediglich als „neutestamentliche Mythen“ gedeutet, „nichts Anderes, als geschichtliche Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“1.
Nicht nur in der Theologenzunft hatte Strauß damals für Furore gesorgt (und ein gespaltenes Echo auf seine Überzeugungen bei ihr hervorgerufen), sondern sein „Leben Jesu“-Buch löste in jenen Jahren unter vielen Abiturienten und Studenten geradezu einen Hype aus. Wie sehr Strauß damals bei jungen Leuten mit seinen Ansichten en vogue war, welche kritiklose, schwärmerische Begeisterung er bei ihnen hervorzurufen vermochte – dieser phänomenale Vorgang soll im Folgenden an drei Beispielen verdeutlicht werden. Dabei wird aber auch ersichtlich, dass gleichzeitig Strauß’ Ansichten bei nicht wenigen zu erheblichen Verunsicherungen und Glaubensverstörungen führten.
Friedrich Engels: „Ich habe nicht um der Poesie willen geglaubt“
Da ist zunächst einmal der Philosoph und kommunistische Revolutionär Friedrich Engels zu nennen. Im Alter von etwa 16 Jahren hatte der Barmer Fabrikantensohn seinem Glauben in einem frommen Gedicht Ausdruck verliehen, dessen Anfangsvers so lautete: „Herr Jesu Christe, Gottes Sohn, / o steig herab von Deinem Thron / und rette meine Seele! / O komm mit Deiner Seligkeit, / Du Glanz der Vaterherrlichkeit, / gib, dass ich Dich nur wähle! / Lieblich, herrlich, ohne Leide ist die Freude, wenn dort Oben, / wir Dich, unsern Heiland, loben!“ Friedrich Engels stand damals kurz vor seiner Konfirmation. Auch war gerade um diese Zeit der von ihm geliebte und verehrte Großvater Bernhard van Haar gestorben. Das alles mag neben der christlichen Sozialisation, die er in seinem moderat-pietistischen Elternhaus erfuhr, mit dazu beigetragen haben, dass er jene temporäre fromme Phase durchlebte.
Dabei war es dem jungen Engels in dieser Zeit durchaus ernst mit seinem christlichen Glauben gewesen. Das macht nicht zuletzt ein Brief deutlich, den er im Juli 1839, gut zweieinhalb Jahr nach seiner Konfirmation, an seinen Jugendfreund Friedrich Graeber richtete. In ihm gesteht er: „Ich habe nicht um der Poesie willen geglaubt; ich habe geglaubt, weil ich einsah, so nicht mehr in den Tag hineinleben zu können, weil mich meine Sünden reuten, weil ich der Gemeinschaft mit Gott bedurfte.“2
Den Brief hatte Engels damals von Bremen aus geschrieben. Denn hierhin hatte ihn sein Vater im August 1838 zur kaufmännischen Lehre beim Leinenexporteur Heinrich Leupold geschickt. Und Engels fühlte sich wohl in Bremen! Fern der väterlichen Aufsicht lebte es sich in der Hansestadt nicht schlecht. In seiner Freizeit las er jetzt Heinrich Heine und politisch anrüchige Schriften, besuchte Konzerte und das Theater und nahm Tanz- und Fechtstunden.
Zugleich löste sich Engels immer mehr von der Glaubenswelt seiner Väter. Dazu trug auch das „Leben Jesu“-Buch von David Friedrich Strauß bei, das einen starken Einfluss auf ihn ausübte. Und so kritisch Engels jetzt gegenüber der Bibel eingestellt war, so unkritisch schwärmte er nun von Strauß. In einem Brief vom 8.10.1839 an Friedrich Gräbers Bruder Wilhelm bekennt er: „Ich bin jetzt begeisterter Straußianer (…), ich, ein armseliger Poete, verkrieche mich unter die Fittiche des genialen David Friedrich Strauß. Hör einmal, was das für ein Kerl ist! Da liegen die vier Evangelien kraus und bunt wie das Chaos; (…) – siehe, da tritt David Strauß ein wie ein junger Gott, trägt das Chaos heraus ans Tageslicht und – Adios Glauben! Es ist so löcherig wie ein Schwamm. Hier und da sieht er zu viel Mythen, aber nur in Kleinigkeiten, und sonst ist er durchweg genial.“3 Und am 29.10.1839 wiederum lässt Engels Friedrich Gräber wissen: „Ich habe (…) zu der Fahne des David Friedrich Strauß geschworen, (…); ich sage Dir, der Strauß ist ein herrlicher Kerl und ein Genie, und Scharfsinn hat er wie keiner. Der hat Euren Ansichten den Grund genommen, das historische Fundament ist unwiderbringlich verloren, und das dogmatische wird ihm nachsinken.“4
Nach seiner im Frühjahr 1841 beendeten Bremer Lehrzeit und der Beschäftigung mit der Philosophie Ludwig Feuerbachs erklärte sich Engels schließlich offen zum Atheismus. 1844 lernte er dann Karl Marx kennen. Er verfasste mit ihm das „Kommunistische Manifest“ und wurde selbst immer mehr zu einem glühenden Verfechter des Marxismus.
„Ausgerüstet mit allen Waffen einer spitzfindigen Dialektik“
Als nächstes Beispiel soll der Großvater von Hermann Hesse und bedeutende Indienmissionar Dr. Hermann Gundert (1814-1893) genannt werden. Sein Vater, der bei den Leuten als „Bibelgundert“ bekannte Ludwig Gundert, war eines der Gründungsmitglieder der 1812 ins Leben gerufenen Württembergischen Bibelanstalt und seit 1820 dessen hauptamtlicher Bibelsekretär.
Ludwig Gunderts Sohn Hermann nun besucht nach bestandenem „Landexamen“ mit 13 Jahren das Klosterseminar Maulbronn. Es ist eines von vier Seminaren in Württemberg, die im 16. Jh. als ehemalige katholische Klöster zu protestantischen Klosterschulen umfunktioniert worden waren und die – so Hermann Gunderts späterer Enkel Hermann Hesse – „gute dreihundert Jahre lang als eine Art protestantischer Priesterseminare dem Lande seine Pfarrer und eine ganze Menge von klugen, gelehrten, berühmten Männern geliefert (haben)“.5
Nach bestandenem Examen wird Hermann Gundert 1831 in das Tübinger Stift aufgenommen, wo er Theologie und Philosophie studiert. Denn er soll evangelischer Pfarrer werden, auch wenn er sich das aufgrund seiner in Maulbronn eingetretenen Glaubenskrise gar nicht recht vorstellen kann. Gleich zu Beginn seines Studiums ist er völlig eingenommen von der Hegelschen Philosophie, die der junge David Friedrich Strauß so überzeugend darzustellen versteht. Dieser ist zu der Zeit nicht nur Repetent am Tübinger Stift, sondern hält auch zugleich philosophische Vorlesungen an der Tübinger Universität. (Sein „Leben Jesu“-Buch war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht erschienen.) Wie so viele andere seiner Kommilitonen ist auch Gundert von der Persönlichkeit und der Überzeugungskraft des Dozenten, dessen Stern gerade aufgeht, geradezu fasziniert.
Der spätere württembergische Prälat Sixt Karl Kapff, der ein Jahr lang als Repetent mit D.F. Strauß am Tübinger Stift zusammen war, äußerte in jener Zeit in einem Brief: „Mit Strauß vermeide ich, viel zusammenzukommen, es ist mir unheimlich bei ihm; er ist so dialektisch gewandt, dass er sofort entweicht und man nie mit ihm recht disputieren kann.“ Über die von ihm beeinflussten Studenten meinte er, dass sie „dastehen im vollen Kraftgefühl, in sprudelndem Übermut und den Himmel mit ihrer Weisheit zu erstürmen ausgerüstet sind mit allen Waffen einer spitzfindigen Dialektik“.6
Hermann Gundert: „O Strauß, bring Salz in das faule Leben!“
In Briefen an den Vater, der sich nach eigenem Bekunden privatim mit den „Schriften der tiefsten Denker“ vertraut gemacht hatte, macht der Sohn aus seiner Schwärmerei für David Strauß und die von ihm vermittelte Geschichtsphilosophie keinen Hehl. Auffallend offen und unbefangen wird der Meinungsaustausch zwischen Vater und Sohn geführt. Hermann selbst hatte in seiner ersten Begeisterung für Strauß seinen Vater im August 1832 wissen lassen: „Strauß wird ein Licht. Ich habe ihn besucht. Dem ist’s darum zu tun, Klarheit in die Köpfe zu bringen. O Strauß, bring Salz in das faule Leben! Gestern hat er eine sehr schöne Predigt getan und dem Volk wieder einmal was neues zum Schwätzen gegeben. (…) Es ist ganz unglaublich, wie ganz Tübingen von dieser Philosophie angesteckt ist, (…) Es wird gestritten in allen Visiten, in jedem Kollegiensaale, auf Kreuzwegen, Brücken und Stegen, (…)“.7
Besorgt, aber auch gelassen kontert der Vater: „Mein lieber Sohn, steige auf der Leiter nicht zu hoch, sonst musst du wieder ebenso tief hinab. Mein Sohn, viel, viel Lärm um nichts! Der Lärm verstummt wieder, aber ich will nicht, dass mein Sohnele (…) dabei um seinen Frieden käme. (…) Willst du es mit Hegel und Strauß besser wissen, als Jesus Christus, (…) dem jene Herren – wäre er auch nur ein Mensch – das Wasser nicht bieten dürften. Wenn solche Prediger einst ins Amt kommen, die die Religion (…) der Idee und des Begriffs verkündigen, statt des alten Bekenntnisses: ‚ich armer Sünder!‘, dann ist’s kein Wunder, wenn der Separatismus um sich greift (…). Gott bewahre dich, mein Teurer, dass du auf dem betretenen Weg so weit gehest, dass der Rückweg zu sauer wird. Möge dich Gott, da ich es nicht kann, überzeugen, dass nur in Christo Heil ist, in dem Christus, wie ihn die Bibel einfach darstellt. (…) Denke dran, lieber Hermann, wenn einst Hegel, Kant, Fichte, Spinoza und Strauß dich verlassen werden – und diese Zeit kommt – dann nimmt dich Jesus noch an. Inzwischen, mein lieber Religionsbessermacher, grüßt dich herzlich dein treuer Vater.“8
„Religion findest du nicht in mir“
Hermann gibt sich großzügig, indem er mit folgenden Worten den Vater zu beruhigen sucht: „Meine Hand drauf, Vater, wir sind nicht verschieden. Du gehörst deiner Zeit, ich der meinen; und doch gehören wir beide keiner Zeit. (…) Wir haben verschiedene Wege, aber ein Ziel. Der Hauptunterschied ist doch wohl der: du stehst am Ziele deines Pfads und siehst mich an der Stelle, wo mein Nebenwegle von dem deinen sich abtrennt. Weiter sehen wir noch nicht mit Gewissheit. Vielleicht spring ich dir bald, während du noch traurig dorthin siehst, unversehens daher in die Arme.“9
Das klingt noch selbstsicher und selbstgewiss, froh und unbeschwert. Doch mit der Zeit verliert Hermann sein Frohgemut-Sein. Die neue Lehre, die er so enthusiastisch aufgesogen hat, scheint zunehmend ein Gefühl des Ungenügens in ihm hervorzurufen und eine innere Leere in ihm zurückzulassen. Recht ernüchtert und niedergedrückt heißt es dann auch in einem späteren Brief an den Vater: „Religion findest du nicht in mir. Da ist wohl ein ewiges sich mit ihr Beschäftigen, ein Streben und Nachdenken ohne Ende, aber das Gemüt bleibt leer.“ Bereits vorher hatte er eingestanden: „Ich kann nicht beten um Vergebung. Da ich sehe, dass dies nötig ist, versuche ich’s zuweilen; aber ich kann’s nicht, und so nützt mich das Gebet auch nichts.“10
Trotzdem, auf David Strauß lässt er (noch) nichts kommen. Seinem Vater gegenüber verteidigt er ihn: „Strauß ist gewiss nicht der, für den du ihn hältst. ‚Zu jung, als dass man ihm seine Eitelkeit, auf der Hochschule glänzen zu wollen, übelnehmen könnte‘ – ich trug diese Worte lange bei mir (…) Am Ende besuchte ich ihn extra wieder heute Abend; aber gewiss ist er weder zu jung, noch eitel. (…) Wenn du ihn einmal sähest und den Herzenseifer bei ihm bemerktest, Klarheit in alle zu bringen, wie er sie in sich hat, seine Freundlichkeit, seine Herablassung auch zu Schwächen, über die der Philosoph lächelt, du würdest sein Auftreten nicht für das Werk der Eitelkeit halten können. (…) Er äußerte, schriftlich gegen die Offenbarung auftreten zu wollen, auf dem Katheder aber darüber zu schweigen. Ich bin begierig auf diesen neuen Paulum.“11 Doch der Vater bleibt gelassen: Was die göttliche Offenbarung betrifft, so ist er sich sicher: „Sie hat schon viel erlebt und kann was vertragen. Kämpfen wird sie nicht um ihre Existenz, dazu ist sie zu groß, zu sicher. Aber tragen wird sie allen Spott, allen Hohn mit göttlichem Mitleid, und in diesem barmherzigen Tragen werden neue Kinder gewonnen und alte Feinde entwaffnet. Sie wird sanftmütig das Erdreich erobern.“12 Ludwig Gundert rät dem Sohn, in Nüchternheit auf sich und seine Zeit zu blicken.
„Eben hat er noch Gott anatomiert und jetzt verzagt er und weint“
Fast schon trotzig, aber am Ende auch sehr ehrlich und selbstkritisch reagiert der Sohn in einem weiteren Brief: „Ich glaube bald voll, man muss jung und neu in die neue Zeit eingetreten sein, um sich in ihren Geist schicken zu können. Denn es braucht dazu, ich möchte sagen – eines noch unentschiedenen Geistes, einer Seele, (…) die noch bildsam und unbeschrieben ist. (…) Vor allem aber suche ich mich vor definitiven Urteilen zu verwahren und mein ganzes Sein nur als provisorisch anzusehen, damit ich nicht einmal zu arg hintappe. Man glaubt kaum, wie so oft ich mich anzulügen fähig bin. Denn so ein gewisses Originalitätenhaschen, verbunden mit etwas Hang zu poetischen Stimmungen (…), übt (…) allein gestellt eine gefährliche Herrschaft aus. Und es ist unbegreiflich, wie eine Kleinigkeit, eine augenblickliche Herzensaffektion oder so etwas den Geist so überaus schnell von der Geometrie der Himmelshimmel und ihrer Bewohner in sein infam enges Herzenseckchen herabzaubern kann. Eben hat er noch Gott anatomiert und jetzt verzagt er und weint. Man möchte fast lachen, wenn es nicht wiederum so was Großes und Ernstes um den Menschen wäre.“13
Der Vater vermag bei der quälenden Wahrheitssuche seines Sohnes nur auszurufen: „O Sohn, wie viele Umwege! Es ist so leicht, zur Ruhe zu kommen, – nicht mit der Philosophie; aber sag’ deinem Vater im Himmel, du mögest gern ein Kindlein werden.“ Darauf Hermann: „Umwege! meinst du, ich tue sie gern? Gewiss nicht, lieber Vater, im Gegenteil, sie tun mir recht weh; aber man muss wohl durch viel Weh und Ach, ehe man zu was Erklecklichem durchkommt.“14 Doch Ludwig Gundert gibt dem Studenten zu bedenken: „Ist’s nicht so, mein Sohn? Das systematische Universitätschristentum ist nicht das Wahre. Soll’s etwas nützen, so muss es der Gelehrte im Herzen haben. Praxis zuerst! dann die Theorie. Der alte Pfarrer Flattich sagte einmal, seine Bauern machen es viel besser als die Gelehrten. Diese sehen den Wein an und ermatten sich mit Theorien und Dogmen darüber; jene trinken ihn wacker aus und stärken sich. Das möchte ich: dich an der Lebensquelle trinken sehen, statt löcherichte Brunnen zu graben, die kein Wasser geben. Ich wiederhole, ich bin der Wissenschaft hold, aber nur muss sie eine wahre Basis haben, und für den christlichen Theologen gibt’s doch keine andere Basis als das Evangelium, wie es in der Bibel steht und sich an den Herzen erweist (…)“.15
„Mit Feuereifer der Offenbarung einen Krieg angekündigt“
Und wirklich, schon bald kommt der Sohn in ein verändertes, distanziertes Verhältnis zu Hegel und Strauß. In ein verändertes Verhältnis kommt er aber auch zum christlichen Glauben, ja zu Jesus Christus selbst, dem er sich fortan persönlich verbunden fühlt. Nachdem er bereits angefangen hatte, sich zu den „pietistischen“ Kommilitonen zu halten, hatte er während einer Predigtausarbeitung über Mt. 5,8 in einer besonderen Weise seine Sündhaftigkeit und seine mangelnde Gotteserkenntnis empfunden. Auf den Knien Gott um „Herzensreinigung“ bittend und dass er sich ihm offenbaren möge, war ihm die Gewissheit widerfahren: „Zum ersten Mal spürte ich’s, dass ich’s mit Jesus zu tun habe und er am Kreuz hängend mit mir rede, mich annehme, mir verzeihe (…), so dass ich hinfort sein sei.“16
Verschiedene Umstände – wie etwa der frühe Tod seiner frommen Mutter oder eine zu jener Zeit grassierende Welle geschehener und versuchter Selbstmorde unter den Studenten des Tübinger Stifts – waren diesem Geschehen vorausgegangen. Wie ihm selbst die Augen geöffnet wurden über den in seinen Augen höchst verderblichen Einfluss David Strauß’, das teilte Gundert viele Jahre später seinem gleichnamigen Sohn in einem Brief so mit: „Ich war im Stift, als Strauß und Vischer etc. am Repetententisch äußerten, wenn man ordentlich fortmache, könne in 10-12 Jahren die Predigt von Christus aus der Kirche verdrängt werden, sodass sie nur noch ‚in Stunden‘ einen Zufluchtsort finde. Da ich in dieser Luft gelebt habe, weiß ich, was Christushass bedeutet. Als die Nachricht kam, Munson und Lymar (amerik. Missionare; M.H.) seien von den Bataks in Sumatra, denen sie Christum predigen wollten, gefressen worden, sagte mein Nebensitzer: geschieht ihnen recht! und alles lachte über den Vorfall.“17 In sein Tagebuch hatte Gundert am 11.12.1833 eingetragen: „Gestern bei Strauß. Er wunderte sich sehr, warum ich solang nicht mehr komme. (…) Er lud mich ein bald wiederzukehren. Ein unwillkürliches Lächeln und Grauen hatte ich nicht abwehren können, als er mit Feuereifer der Offenbarung einen Krieg ankündigte, der nie endigen soll, wenn nicht Altersschwäche seiner Herr werde, was Gott und die Philosophie verhindern wollen. (…) Vom Katheder will er’s nicht tun, aber schriftlich und bald.“18
Nur wenige Monate nach Ablegen des theologischen Examens (bei fast gleichzeitiger Promotion zum Dr. phil.) reiste der nunmehr 22jährige Hermann Gundert dann 1836 nach Indien. Er begründete die erste Basler Missionsstation in Malabar, das zum heutigen Bundesstaat Kerala gehört. Hier hat man ihm im Jahr 2000 posthum wegen seiner dortigen Leistungen auf volkskundlichem und linguistischem Gebiet ein monumentales Denkmal gesetzt. Nachdem Gundert 1859 krankheitshalber nach Deutschland zurückkehren musste, wurde er Verlagsleiter des ideell mit der Basler Mission verbundenen Calwer Verlagsvereins.
Otto Funcke: „Im Stillen war ich überzeugt, dass ich mit Gift umging“
Als drittes und letztes Beispiel soll der zu seiner Zeit sehr bekannte Pastor und christliche Volksschriftsteller Otto Funcke (1836-1910) vorgestellt werden. Geprägt von der innigen und überzeugend gelebten Frömmigkeit seiner Mutter, hatte Funcke nach seinem Abitur 1857 begonnen, an der Universität in Halle Theologie zu studieren. Dabei durchlebte er eine schwere Glaubenskrise. Hin und her gerissen zwischen Glauben und Unglauben, sehnte er sich nach Frieden und Gewissheit, zumal ihm „tiefinnerlich klar (ist), dass das Leben in dieser Welt nicht den Namen Leben verdient, wenn es nicht durchleuchtet ist von etwas, was mehr ist als dieses Leben“.19 Nicht zuletzt das „Leben Jesu“-Buch von Strauß, wurde ihm zu einer großen Gefahr für seinen Glauben. Er schreibt dann auch: „Ich verschlang dieses Buch. Heimlich nur las ich es; nicht einmal den besten Freunden sagte ich davon. Ich fürchtete, mein Beispiel könnte auch sie verführen, das Buch zu lesen. (…) Denn im Stillen war ich überzeugt, dass ich mit Gift umging. Ja, ich hatte den sicheren Instinkt, dass es um mein inneres Glück geschehen sei, wenn ich mir den Inhalt dieses Buches zu eigen machte. Dass ich dann nicht Theologe bleiben könnte, war mir ganz gewiss.“20
1858 wechselte Funcke dann an die Universität Tübingen. Schon bald führte ihn sein Weg ins Sprechzimmer des ehrwürdigen Theologieprofessors Tobias Beck, um diesem seine innere (Glaubens-)Not zu offenbaren. Als er mit den Worten beginnt: „Mein Herz dürstet nach Wahrheit, aber – –“, da unterbricht ihn Beck und meint: „Da sagen Sie etwas Großes. Wenn es wahr ist, dass Sie die Wahrheit suchen, dann müssen Sie nicht nur die Wahrheit besitzen wollen, sondern Sie müssen wollen, dass die Wahrheit Ihr Herz und Ihren Willen gänzlich in Besitz nimmt.“ Dann weist er seinen Besucher auf das Jesuswort hin: „So jemand will des Willen tun, der mich gesandt hat, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede“ (Joh. 7,17).
Am Ende des Gesprächs lädt er Funcke ein, ihn an diesem Tag auf seinem nachmittäglichen Spaziergang zu begleiten. Bei diesem Spaziergang vertraut der Student seinem Professor an, dass er in den biblischen Urkunden vieles fände, was ihm starke Zweifel verursache. Wie Funcke weiter berichtet, entgegnete daraufhin Beck „so ruhig, als wenn das gar nichts wäre: ‚Lieber Funcke, haben Sie denn auch schon Ihre Zweifel bezweifelt? Tun Sie das einmal ernstlich! Setzen Sie ein energisches Fragezeichen hinter jedes Fragezeichen, das Ihre kritische Vernunft macht! Und lassen Sie fürs erste auf sich beruhen, was Sie noch nicht tragen können! Auch die Apostel des Herrn konnten zuerst nicht alles tragen. Halten Sie sich an das, was Sie zu fassen vermögen und was Sie fasst! Es wird genug kommen, was Ihnen unmittelbar als göttliche Wahrheit in die Seele hineinleuchtet. Daran halten Sie sich, das verarbeiten Sie und betätigen Sie es nach bester Kraft im alltäglichen Leben! Das, was Ihnen anstößig oder fremdartig ist, stellen Sie für spätere Prüfung zurück! (…) Beugen Sie sich nur unter die erkannte Wahrheit in einfältigem Gehorsam! (…) Und wenn sich dann erst das Wort Gottes als Kraft beweist, so sinken die Zweifel von selbst dahin, wie die alten dürren Blätter jetzt von den Eichen fallen, weil der Saft im Stamm treibt.‘“21
Durch die Begegnung und das Gespräch mit Beck kam es bei Otto Funcke zum geistlichen Durchbruch. Später übernahm er als Pastor die oberbergische Kirchengemeinde Holpe, bevor er 1869 an die neu gegründete „Friedenskirche“ in Bremen wechselte. David Friedrich Strauß selbst hatte sich nach der Veröffentlichung seines „Leben Jesu“-Buches immer mehr vom Christentum entfernt und schließlich über die Kirche gemeint: „Man wird erst ganz wahr, nachdem man den letzten Schritt aus den Grenzen dieser Selbstbelügungsanstalt herausgemacht hat“. Für seine Beerdigung untersagte er „jede Beteiligung eines Geistlichen bei meiner dereinstigen Leiche“.22
Anmerkungen
1 Zit. nach Evang. Lexikon für Kirche und Gemeinde. Bd. 3. Wuppertal/Zürich 1994, 1915.
2 Zit. nach Johann-Günther König: Friedrich Engels. Die Bremer Jahre 1838 bis 1841. Bremen 2008, 314.
3 Ebd., 324.
4 Ebd., 330.
5 Hermann Hesse: Schwäbischer Lebenslauf. In: Sämtliche Werke. 5. Bd. Frankfurt/M. 2001, 633.
6 Zit. nach Richard Haug: Reich Gottes im Schwabenland. Linien im württembergischen Pietismus. Metzingen 1981, 100.
7 Zit. nach Johannes Hesse: Aus Dr. H. Gunderts Leben. Calw 1894, 26f.
8 Ebd., 27.
9 Ebd., 28.
10 Ebd., 30.
11 Ebd., 31.
12 Ebd., 32.
13 Ebd., 33f.
14 Ebd., 34.
15 Ebd., 35.
16 Ebd., 45.
17 Zit. nach Albrecht Frenz (Hg.): Hermann Gundert. Brücke zwischen Indien und Europa. Ulm 1993, 438.
18 Ebd., 65.
19 Otto Funcke: Fußspuren Gottes in meinem Leben. Gießen 1967 (134.-139. Tsd.), 115.
20 Ebd., 116.
21 Ebd., 130f.
22 Zit. nach Stephan Cezanne: David Friedrich Strauß: Theologischer Rebell und Vordenker der kritischen Bibelforschung vor 200 Jahren geboren (www.domradio.de>nachrichten>david-friedrich-strauß).
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2024