Immer wieder wird dem Johannesevangelium ein latenter oder offener Antijudaismus unterstellt. Die Argumente dafür wären im Einzelnen zu prüfen. Roland Bergmeier legt in dieser Miszelle aber Wert auf die Beobachtung, dass sich aus der verallgemeinernden Rede von den Juden im Johannesevangelium nicht schon ein antijudaistischer Zug erkennen lasse.

 

Die Erstnennung des Volksnamens „die Juden“ im Evangelium nach Johannes (hote apesteilan [pros auton] hoi Ioudaioi ex Hierosolymōn hiereis kai Levitas 1,19) ähnelt, stilistisch jedenfalls, deren Erstnennung im Evangelium nach Lukas (apesteilen pros auton [sc. IÄ“sous] presbyterous tōn Ioudaiōn (7,3). Als Volksname spiegelt er weder als solcher noch in Verbindung mit seinem obligatorischen Artikel „antijüdische Rhetorik“ noch antijüdische Feindschaft.

 

„Vermintes Gelände“

Lässt man solche Aussagen auch nur versuchsweise gelten, hat man sich schon in „ein total vermintes Gelände“ begeben, das nach Klaus Berger dieses Evangelium „für die wissenschaftliche Auslegung“ geworden ist, „die insbesondere seit rund 100 Jahren in ein offenbar aussichtsloses Ringen um diesen Text verstrickt ist“.1

Die Johannes-Kommentierung seines Heidelberger Kollegen Hartwig Thyen findet sich in der gleichen Verdammnis und muss sich vorhalten lassen: „Eher problematisch finde ich, daß nach Thyen das vierte Evangelium alle drei synoptischen Evangelien voraussetzt.“ Zur Orientierung im „verminten Gelände“ hatte Berger zuvor die seines Erachtens maßgebliche Losung ausgegeben: „Im Anfang war Johannes“2 und danach zumindest zur Vorsicht gemahnt: „Man sollte sich daher grundsätzlich von der Idee des 19. Jh. frei machen, literarische Abhängigkeit (Benutzung) sei das einzig denkbare Verhältnis zwischen einander ähnlichen Texten.“3

Aber dass sich das vierte Evangelium rundum auf die drei synoptischen Evangelien als seine Prätexte bezieht,4 ist keineswegs nur eine „Idee des 19. Jh.“, sondern ein vielseitig nachweisbarer Befund, der bis hin zu Fragen der Grammatik reicht.5

 

Eine gebräuchliche Benennungsformel

Die johanneisch feste Fügung „die Juden“, von der nur Joh. 4,9 Ioudaioi Samaritais („Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.“)6 abweicht, wird gerne als pauschal7 oder generalisierend8 bezeichnet, von Joh. 1,19 her überdies atmosphärisch mit Anleihe an Behördensprache in Verbindung gebracht.9 Sie steht aber wohl eher in leserorientierter Außenperspektive10 und ist als Diktion weder antijüdisch11 noch typisch johanneisch: „Der Artikel steht im Pl. bei Ioudaioi und anderen Volksnamen in der Erzählung der Evv. (Apg zT) fast immer.“12 Wir sollten also „die Juden“ nicht als generalisierende Übersetzung bezeichnen, weil Generalisierung nicht im Blick steht. Wenn nämlich ausdrücklich „die Gesamtheit des Volkes“ gemeint ist, verhält es sich gerade so, dass der Artikel entfallen kann, wie auch aus Joh 4 zu ersehen ist.13

„Fast immer“ (s.o.) gilt gleichermaßen für die Literatur des hellenistischen Judentums.14 Wer nun also Joh. 1,19-28 auslegen will, sollte sich nicht sogleich in den Bann jener Auslegungen begeben, die beispielsweise erklären: „Die ‚Juden‘ (hoi Ioudaioi) stellen die Instanz dar (V.19b), die den Täufer verhören will“,15 sondern sollte zu allererst das vierte Evangelium selbst nach seiner Leseanleitung befragen. Erzählend nämlich lenkt Joh. 5,33 den Blick noch einmal auf die Stelle 1,19 zurück: Beim Besuch Jesu in Jerusalem, wo dieser an „einem Fest der Juden“ (V. 1) mit „den Juden“ in der Stadt (V. 10.15.16.18)16 aneinandergerät, erinnert er – gleichsam in der Rolle des johanneischen Erzählers17 – seine Kontrahenten an ihre Mission zur Befragung des Täufers. Nichts deutet darauf hin, dass da von einer offiziellen „Behörde“, von einer Instanz, die den Täufer hatte „verhören“ lassen wollen, oder „von der jüdischen Zentralbehörde, dem Synhedrium“18 die Rede wäre. Nein, die Erzählung von der Befragung des Johannes dient eben dazu, ihm narrativ Gelegenheit zur Martyria zu geben, der Johannes als erster und dann auch immer wieder verbunden ist:19 Joh. 1,7f.15.20–23.25f.; 5,33.

 

Priester und Leviten als Gesandte

Daraus erhellt nun zwar, dass „die Juden“ von Joh. 1,19 im Sinne des johanneischen Erzählers speziell Jerusalemer Juden waren, aber trotzdem ist die Wortfolge hoi Ioudaioi ex Hierosolymōn nicht mit „Jews of Jerusalem“ zu übersetzen.20 Die in Joh. 1,19 vorliegende syntaktische Fügung lautet apesteilan ex Hierosolymōn,21 nicht hoi Ioudaioi ex Hierosolymōn, denn geographische Herkunft wird immer im Stil von ho Philippos apo ΒÄ“thsaida (Joh. 1,44) ausgedrückt,22 und nur in Verbindung mit „Stadt“ oder „Dorf“ wird auch in solchem Zusammenhang ek verwendet (Joh. 1,44; 4,30.39; 11,1).

Hatten nun also Juden „aus Jerusalem Priester und Leviten gesandt“, ist an der griechischen Artikelverwendung angesichts hoi en Hierosolymois Ioudaioi (2. Makk. 1,1) nichts auffällig, enigmatisch aber das unerklärt bleibende Nebeneinander von Priestern und Leviten. In der LXX begegnet dieses Nebeneinander der genannten Amtsträger außer in Jes. 66,21 immer mit Artikel, aber aus den überaus zahlreichen Belegen ist keiner Stelle zu entnehmen, warum in Joh. 1,19 speziell „Priester und Leviten“ als Gesandte genannt werden. Vielleicht ist es ja wie im Sprachgebrauch des Josephus, dass „Priester und Leviten“ kurzgefasst das Kult- bzw. Tempelpersonal bezeichnen (vgl. z.B. Ant 11,80.81; 13,63.73).23

Ch.K. Barrett hebt zutreffend darauf ab, dass Joh. 1,19-28 als Neufassung der synoptischen Texte über Johannes den Täufer aufzufassen ist.24 An exeporeueto pros auton Hierosolyma kai pasa hÄ“ Joudaia (Mt. 3,5, vgl. Mk. 1,5) erinnert apesteilan [pros auton] hoi Ioudaioi ex Hierosolymōn (Joh. 1,19). Man darf die Rede vom Gesandtsein aber nicht durch Absatzbildung auseinanderreißen. V. 19 formuliert hote apesteilan, was in V. 22 mit tois pempsasin hÄ“mãs weitergeführt und in V. 24 mit kai apestalmenoi Ä“san ek tōn Pharisaiōn abgerundet wird, so dass Joh. 5,33 unmittelbar darauf zurückkommen kann: „Ihr habt zu Johannes geschickt, und er hat die Wahrheit bezeugt.“

 

Teufelskinder?

Es war nun ein großer Fehler, dass sich die johanneische Forschung und Exegese nicht um die grammatische Vorgegebenheit des Artikels im Ausdruck „die Juden“ gekümmert hat. Man hätte sonst leicht erkennen können, dass im Fall von Joh. 8 die Sache unzweideutig so liegt, dass „die Juden“ da nicht generell oder als solche zu Teufelskindern erklärt werden, was in der Tat „johanneischen Antijudaismus“25 belegen würde. Zutreffend erklärt U. Schnelle vielmehr: „Wer die Worte Gottes in der Offenbarung Jesu hört, zeugt damit von seiner Herkunft aus Gott, umgekehrt gibt sich im Nicht-Hören des Unglaubens die Herkunft vom Teufel zu erkennen.“26 Es ist nicht so, dass in der Diktion des vierten Evangelisten selbst „die Juden“ schlechthin oder als solche als Teufelskinder bezeichnet werden. Nicht „die Juden“ generell werden zu Teufelskindern erklärt, sondern diejenigen, von denen im Kontext der aktuellen Erzählung die Rede ist. Vergleichbares findet sich auch bei Josephus, der z.B. in Bellum II,47 erklärt, die römischen Legionssoldaten hätten einen erbitterten Kampf mit „den Juden“ begonnen, denen also, von denen die aktuelle Erzählung gehandelt hatte.

 

Anmerkungen

1 K. Berger, Deine Rede sei uferlos: Hartwig Thyen kommentiert das Johannesevangelium, FAZ-Besprechung vom 20.07.2005, Nr. 166/S. 34.

2 K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997.

3 K. Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh, München 2011, 320. Berger fährt fort: „Ich werte das JohEv als einen zu den Synoptikern parallelen Versuch der biografischen Darstellung Jesu.“

4 H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, V.

5 Vgl. R. Bergmeier, Zwischen Synoptikern und Gnosis – ein viertes Evangelium. Studien zum Johannesevangelium und zur Gnosis (NTOA/StUNT 108), Göttingen 2015, 50-63, 69-101; ders., Vier johanneische Fragen, BZ 61 (2017), 104-128.

6 Zitat aus: Das Neue Testament – jüdisch erklärt, 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, korrigierter Druck 2022, 197.

7 J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-10 (ÖTK 4/1; GTB 505), Gütersloh/Würzburg 1979, 90; K. Scholtissek, Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums. Gesammelte Schriften (1996-2020) (WUNT 452), Tübingen 2020, 41, 556, Anm. 12 (pauschale Rede von „den Juden“), 103 (pauschale Floskel „die Juden“).

8 J. Frey, ‚Die Juden‘ im Johannesevangelium und die Frage nach der ‚Trennung der Wege‘ zwischen der johanneischen Gemeinde und der Synagoge, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, hg. von J. Schlegel (WUNT 307), Tübingen 2013, 350.

9 K. Wengst, Das Johannesevangelium. Neuausgabe (ThKNT 4), Stuttgart 2019, 70; vgl. u.a. auch R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK II), Göttingen 181964, 91 oder R. Sheridan, Issues in the Translation of hoi Ioudaioi in the Fourth Gospel, JBL 132 (2013), 671-695, hier 676 zum Vorschlag, hoi Ioudaioi im Sinn von „the authorities“ zu übersetzen.

10 J. Frey, ‚Die Juden‘ (wie Anm. 8), 351 zu „die kulturelle Zuordnung von Sitten oder Festen zu den Ioudaioi“. Ein sprechendes Beispiel liefert Josephus z.B. Ant 18,122, wozu Ant 13,251 als „Zitat“ aus Nikolaus von Damaskus fast den gleichen Wortlaut bot. Der Jude Josephus erklärt seinen Lesern, dass das genannte Fest ein solches „der Juden“ sei. „Von Distanz“ oder „Distanzierung“ des Schreibenden sollte in der Auslegung also nicht die Rede sein, gegen U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 1998, 95; J. Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, 125; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 61.

11 K. Wengst, Das Johannesevangelium (wie Anm. 9), 70, Anm. 3 orientiert seine Leser, in der Übersetzung werde jeweils „ein sich vom Kontext ergebendes Adjektiv“ hinzugefügt, „um den in unseren Ohren beim Lesen und Hören sich ansonsten unvermeidlich ergebenden antijüdischen Klang wegzunehmen“. Antijüdischer Klang ergibt sich spätestens seit Treitschkes unverwüstlicher Devise: „Die Juden sind unser Unglück.“

12 F. Blaß / A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, bearb. von F. Rehkopf, Göttingen 141976, §262.1, S. 213; vgl. auch N. Turner, Vol. III Syntax, in: A Grammar of New Testament Greek by J.H. Moulton, Edinburgh 1963, 169; R. Kühner – B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II,1, Hannover 1992, 598. Zu „anderen Volksnamen“ vgl. Joh. 4,39f (die Samaritaner); 7,35 (die Griechen); 11,48 (die Römer). W. Gutbrod, Art. Ioudaios, IsraÄ“l, Hebraios im Neuen Testament, ThW III, 376-394, hier 378, mahnt zu Recht, nicht „eine einzige Bedeutung herausstellen zu wollen, die Ioudaios bei Joh haben sollte; denn zunächst einmal ist festzustellen, daß in manchen Stücken auch eine Parallele zu den Syn besteht.“

13 F. Blaß / A. Debrunner, Grammatik, §262.2.

14 Vgl. z.B. Philo, VitMos I,1.34; Josephus, Ant 13,171; 2. Makk. 1,1; 6,1, dazu ThW III, 364-366; 372f.

15 J. Zumstein, Das Johannesevangelium (wie Anm. 10), 91, vgl. u.a. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK II), Göttingen 181964, 58f, K. Wengst, Johannesevangelium (wie Anm. 9), 70, M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12 (RNT), Regensburg 2009, 152f.

16 Auch bei Josephus begegnet die Rede von „den Juden“ in der Stadt (Jerusalem), vgl. z.B. Bell 4,401; Ant 13,284; 19,1.

17 Vgl. J. Zumstein, Johannesevangelium (wie Anm. 10), 233: „V. 33 ist eine Analepse.“

18 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. I. Teil (HThK IV, 1), Freiburg usw. 21967, 274.

19 Vgl. J. Beutler, Das Johannesevangelium. Kommentar, Freiburg/Basel/Wien 2013, 101 zur johanneischen Perspektive: „Das für das Johannesevangelium grundlegende Thema des Zeugnisses wird eingeführt.“

20 Chr. Karakolis, Recurring Characters in John 1:19-2:11. A Narrative-Critical and Reader-Oriented Approach, in: R.A. Culpepper and J. Frey (Hg.), The Opening of John’s Narrative (John 1:19-2:22): Historical, Literary, and Theological Readings from the Colloquium Ioanneum 2015 in Ephesus (WUNT 385), Tübingen 2017, 17-37, hier 17, 24, 25, 33; vgl. auch U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (wie Anm. 10), 47 („die Juden aus Jerusalem“).

21 Die Erwähnung Jerusalems im Kontext der Taufpraxis Johannes des Täufers war ja in Verbindung mit πρὸς αὐτá½¹ν synoptisch schon vorgegeben, vgl. Mk. 1,5; Mt. 3,5.

22 Vgl. Joh. 1,45; 7,42;11,1; 12,21; 19,38; 21,2.

23 Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium (wie Anm. 10), 91 zur „Gesandtschaft von ‚Priestern und Leviten‘, die die Welt des Tempels und des dortigen Gottesdienstes repräsentieren“.

24 Ch.K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes (KEK. Sonderband), Göttingen 1990, 196 mit Hinweis auf F.E. Williams, Fourth Gospel and Synoptic Tradition: Two Johannine Passages, JBL 86 (1967), 311-319, speziell 317-319, der seinerseits auf Dodd hinweist: („C. H. Dodd has noticed the resemblance between John 1 19‑28 and Luke 3 15 f.“). Auf Mk. 1,2-11 beschränkt wollte D.-A. Koch, Der Täufer als Zeuge des Offenbarers. Das Täuferbild von Joh 1,19-34 auf dem Hintergrund von Mk 1,2-11, in: F. van Segbroeck u.a. (Hg.), The Four Gospels. FS Frans Neirynck, Bd. III, BEThL 100, Leuven 1992, 1963-1984, hier 1966f, „die Entstehung des vorliegenden Textes von Joh 1,19-34“ interpretieren „als literarisch homogene Komposition durch den Evangelisten, der die synoptische Täuferüberlieferung von Mk 1,2-11 voraussetzt, diese selektiv aufnimmt und die aufgenommenen Bestandteile als disjecta membra in seine eigene darstellerische und inhaltliche Konzeption einschmilzt.“

25 Die Thematik „Johanneischer Antijudaismus“ hat sich geradezu schon zu einem eigenen Forschungsgegenstand entwickelt, vgl. M. Rissi, „Die Juden“ im Johannesevangelium; K. Scholtissek, Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag, in: ders., (wie Anm. 7), 483-508.

26 U. Schnelle, (wie Anm. 10), 212.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. theol. Roland Bergmeier, Jahrgang 1941, Religionslehrer im Ruhestand; Schwerpunkte der fachwissenschaftlichen Arbeit: Essener, Qumran und Gnosis, Johannesevangelium und Apokalypse, Paulus und das Gesetz.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2024

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