Der Ernährungsstil ist ein zentraler Identitätsmarker geworden, doch tatsächlich hat die Ernährungskultur von jeher eine profilbildende Funktion. Michael Rosenberger fragt danach, wie christliche Ernährungskulturen aussehen können, er analysiert den Symbolgehalt des Essens und Trinkens, schlägt den Bogen zum liturgischen eucharistischen Mahl und gibt in einem Durchgang durch die Wirkkreise der menschlichen Ernährung konkrete Impulse für christliche Ernährungskulturen.

 

Das Züricher Wurstessen

Am 9. März 1522, dem ersten Sonntag der Fastenzeit (Invokavit), fand das berühmte „Zürcher Wurstessen“ statt. Honoratioren und Geistliche der Stadt verstießen demonstrativ gegen das geltende Gebot der Fleischabstinenz. Der Reformator Huldrych Zwingli war als Augenzeuge anwesend, nahm aber nicht am Wurstessen teil. Zwei Wochen später äußerte er sich jedoch in einer Predigt1.

Das Wurstessen spielt für die reformierten Kirchen eine ähnliche Rolle wie Luthers 95 Thesen für die lutherischen Kirchen. Während sich Luther jedoch mit seinen Thesen an den Verstand richtet und folgerichtig vor allem die Intellektuellen seiner Zeit anspricht, ist das Wurstessen ein symbolischer Akt, den alle verstehen. Essen geht wortwörtlich „unter die Haut“, ist hochemotional. Im Sinne der Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und John Rogers Searle handelt es sich um einen stark expressiven (Sprech-)Akt: Gefühle, Wünsche und Überzeugungen werden in die Handlung gelegt, von den Beobachtenden wahrgenommen und drängen zur Stellungnahme. Expressive Akte provozieren eine Reaktion und besitzen Sprengkraft2. Es geht buchstäblich „um die Wurst“ und zudem um eine binär beantwortbare (und damit sehr einfache, wenn nicht vereinfachende) Frage: Darf man*frau oder darf man*frau nicht?

Auch über die Expressivität hinaus hat das Wurstessen der Zürcher hohe Aussagekraft. Denn inhaltlich gesehen ist eine spezifische Kultur des Essens und Trinkens in Orientierung an Jesus als dem „Fresser und Säufer“ (Lk. 7,34 par) der Kern des Christentums: „Das Wesen des Christentums ist συνήσθιεν, miteinander essen.“3 Sowohl marketing-technisch als auch theologisch betrachtet haben die Zürcher also ins Schwarze getroffen und Luther in den Schatten gestellt.

Fragen wir uns daher ein halbes Jahrtausend nach dem Zürcher Wurstessen, wie christliche Ernährungskulturen aussehen könnten. In einem ersten Teil werde dazu ich den Symbolgehalt des Essens und Trinkens analysieren. Im zweiten Teil werde ich die gefundenen Ergebnisse auf das säkulare Wurstessen und das liturgische eucharistische Mahl anwenden. Und schließlich will ich in einem Durchgang durch die Wirkkreise der menschlichen Ernährung den Blick über den Tellerrand weiten und einige konkrete Impulse für christliche Ernährungskulturen geben.

 

Essen und Trinken als Symbolhandlung

Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme teilt der Mensch mit allen Lebewesen. Ohne das ständige Umsetzen von Nahrung in Energie und Körpermasse kann kein Lebewesen sich erhalten. Aus diesem Grund ist das Bedürfnis, sich zu ernähren, mit den stärksten Körpersignalen verbunden, die es überhaupt gibt. Hunger, Durst und Appetit, aber auch die Lust am Essen und Trinken sind ungeheuer mächtig. Vergleichbar sind nur noch jene Mechanismen, die zur Fortpflanzung animieren.

Bei sozial lebenden Tieren wie dem Menschen ist der Vorgang der Ernährung immer (!) kulturell überformt, vor allem dann, wenn die Nahrung knapp ist, zunächst gesammelt und anschließend räumlich und zeitlich versetzt gegessen wird, was nicht für Gras, wohl aber für Früchte, Gemüse und Fleisch zutrifft. Erst dann ergeben sich nämlich Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Verteilung und Fütterung. Nahrung wird zum Medium sozialer Beziehungen.

 

 

Verstärkt wird dieses Potenzial, wenn Tiere ein gutes Gedächtnis besitzen. Dann können sie einander beim Teilen von Nahrung gegenseitig beobachten, sich das Verhalten der anderen Individuen merken und diese später entsprechend behandeln. Altruismus kann durch Reziprozitätserwägungen ergänzt werden. Menschen haben auf Grund ihres leistungsstarken Gedächtnisses hierfür mehr Möglichkeiten als die meisten anderen Tiere. Die Unterschiede sind allerdings nur graduell und nicht prinzipiell.

Wenn es stimmt, dass Ernährung Sozialstrukturen abbildet, dann bildet sie auch die Identität der Einzelnen ab, die sich in diesen Sozialstrukturen verorten: „Der Mensch ist, was er isst.“4 Wer wir sind oder sein wollen, drücken wir vor allem auch durch unsere Art und Weise der Ernährung aus. Reiche ernähren sich anders als Arme, Frauen anders als Männer (!), Italiener*innen anders als Deutsche. Und nicht umsonst sagen wir von Menschen, die sich rein pflanzlich ernähren, dass sie Vegetarier*innen sind – und nicht nur, dass sie sich vegetarisch ernähren.

Eine menschliche Sozialstruktur, und zwar jene, die wir selbst bei intelligenten Tieren höchstens in sehr einfachen Ansätzen finden5, ist die Religion. Ernährungskultur gehört zur Religion dazu und spiegelt viel vom jeweiligen Glauben wider. Ja, die Ernährung hat zwangsläufig religiöse Komponenten – und sie kann zur eigenständigen „Religion“ werden, die auf einem „Glaubensbekenntnis“ gründet, eine Gemeinschaft zusammenführt und diese nach außen abgrenzt, wie es heute etwa beim Veganismus teilweise der Fall ist.

 

Vier Kategorien symbolischer Codierung der Ernährungskultur

Das Mittel, das die Kommunikation von Beziehungen wie auch von Identitäten ermöglicht, sind symbolische Codes. Solche Codes der Ernährung werden vom Kleinkind bereits in einem Alter gelernt, da es noch kein Wort sprechen kann. Der Wunsch, die Nahrung der Erwachsenen zu probieren und daran teilzuhaben, ist jenseits der natürlichen Neugier, wie etwas schmeckt, auch der kulturell geformte Wunsch nach Gleichbehandlung, Teilhabe und Gemeinschaft. Das Zuprosten mit einem Becher löst Begeisterung aus, obgleich das Wort „prost!“ noch gar nicht über die Lippen geht. Der Wunsch bestimmter Tischnachbar*innen ist von höchster Virulenz, lange bevor das Kind die Tischordnung in ihrer Gänze versteht. Auf diese Weise nimmt ein Kind bereits im frühesten Alter die Symbolsprache der Ernährung wahr und verinnerlicht sie gleichsam „mit der Muttermilch“.

Angeregt von Pierre Bourdieu und Hans-Jürgen Teuteberg unterteile ich die symbolischen Codierungen der Ernährungskultur in vier Kategorien6:

¬ Ansehen und Prestige
¬ Zugehörigkeit und Verortung
¬ Lust und Wohlergehen
¬ Sicherheit und Geborgenheit.

Mir scheint, dass sich mit diesem überschaubaren Repertoire an Kategorien alle symbolischen Codes hinreichend entziffern lassen.

 

Vom Wurstessen zum Abendmahl und zurück

Am Zürcher Wurstessen kann man die vier Aspekte sehr schön ablesen: Denn es sind die Honoratioren und Geistlichen einer wohlhabenden und mächtigen Stadt, die daran teilnehmen – eine auserlesene Gesellschaft, denen zuzugehören Ansehen und Prestige bedeutet. Zugleich ist das Wurstessen gezielt zur Abgrenzung von der römischen Kirche und ihren Fastengeboten gedacht und schafft eine neue Zugehörigkeit, nämlich die zur Schweizer Reformation. Drittens bereiten eiweiß- und fetthaltige Speisen wie die Wurst besondere Lust und großes Wohlergehen – auch das ist von den Initiatoren (ganz gegen die traditionelle Lustfeindlichkeit der Kirche) intendiert. Und schließlich wird die überkommene Gewissheit erschüttert, das Fasten sei ein wichtiges Mittel zur Erlösung, und stattdessen die neue Gewissheit verkündet, dass die Erlösung nicht durch Werke erkauft und verdient werden muss, sondern bereits geschehen ist und uns in Christus eine neue Freiheit geschenkt hat.

Auch die Eucharistie, das christliche Ritual par excellence, ist in starker Weise symbolisch codiert. Schon Paulus nennt es „Herrenmahl“ (1. Kor. 11,20) und gibt ihm damit ein besonderes Ansehen. Fast zwangsläufig erwächst daraus die stets virulente Frage, wer berechtigt ist, zu diesem Mahl hinzuzutreten. An ihr lesen wir unsere Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft ab. Den Lustaspekt hat man lange spiritualisiert, etwa in der Rede vom „Brot, das alle Süßigkeit in sich enthält“ – eine Aussage, die physiologisch gar nicht zutreffend, aber symbolisch sehr ausdrucksstark ist. Und schließlich gibt es seit den frühesten Zeiten die Tradition, dass das Abendmahl das „Viatikum“, die Wegzehrung vor dem Sterben ist. Wer versehen mit dem heiligen Mahl stirbt, dürfe gewiss sein, gut vorbereitet bei Gott anzukommen. Das gibt Sicherheit und Geborgenheit.

Was im Vergleich zwischen Wurstessen und Abendmahl deutlich wird, ist die Tatsache, dass sich liturgische und säkulare Mahlkultur nicht trennen lassen. Jene Wertorientierungen, die sich im Abendmahl ausdrücken, müssen auch das weltliche Mahlhalten bestimmen, und umgekehrt muss das Abendmahl jene ethischen Grundhaltungen zum Ausdruck bringen, die unser alltägliches Miteinander bestimmen sollen. Paulus macht das in 1. Kor. 11 unmissverständlich klar: Wenn die Art der Feier des Herrenmahls dem Grundimpuls Jesu von der Gleichheit und Geschwisterlichkeit aller widerspricht, dann ist das „keine Feier des Herrenmahls mehr“ (1. Kor. 11,20) – ein hartes Verdikt!

Aus diesem Grund ist die Frage nach christlichen Ernährungs- und Mahlkulturen nicht nebensächlich. Sonst wäre das Zürcher Wurstessen ebenso verfehlt wie die reformatorische Forderung des Laienkelchs oder die in den Kirchen der Reformation ebenso wie in der katholischen Kirche bis heute immer neu diskutierte Frage, welche Materialien für die Feier des Abendmahls verwendet werden dürfen und welche nicht. Natürlich muss man „die großen und die kleinen Kartoffeln“ unterscheiden. Die Frage, ob für die Eucharistie Rot- oder Weißwein verwendet werden soll, hat eine weitaus geringere Bedeutung als die Frage, ob in Ländern ohne Weinanbau auch ein anderes Getränk als Wein verwendet werden kann. Aber grundsätzlich geht es eben um Möglichkeiten und Grenzen christlicher Mahlkultur – liturgisch wie außerliturgisch.

 

Die wachsende Reichweite des Essens und Trinkens

Die Art und Weise unserer Ernährung hat Auswirkungen unterschiedlicher Reichweite. Sie alle gehören in einer Ernährungskultur bedacht und berücksichtigt.

Der eigene Körper

Zunächst einmal hat die Ernährung einen Bezug zum eigenen Körper. Ob wir das Angewiesen-Sein unseres Körpers auf Nahrung als befreiend erleben oder als demütigend (Ansehen); ob wir unsere Beziehung zu den verspeisten Lebewesen annehmen oder verleugnen (Zugehörigkeit); ob wir (womöglich sogar krankhaft) zu viel oder zu wenig essen und trinken (Lust); und ob wir vor bestimmten Speisen Angst haben oder ihrer Qualität vertrauen können (Sicherheit); das alles betrifft die Körperlichkeit des Essens und Trinkens, hat aber gleichzeitig enorme Auswirkungen auf die Persönlichkeit. Die Parallelen zur Materialität des Abendmahls sind leicht herzustellen.

Raum und Zeit

Ein zweiter Bezug der Ernährung betrifft Raum und Zeit. Fast Food on the Road kann sich kaum auf Jesus berufen. Eine gute Ernährungs- und Mahlkultur braucht Zeit und einen ansprechend hergerichteten Raum. Das betrifft auch die Zeit des Einkaufs und der Zubereitung. Zeit ist unser knappstes Gut und daher einer der besten Indikatoren für den Wert, den wir einer Sache beimessen. Zugleich verknüpfen wir bestimmte Mähler mit bestimmten Zeiten und Orten. Ein Frühstück lässt sich schon dadurch von einem Mittagessen unterscheiden, was auf dem Tisch steht. Ein Festessen werden wir nicht an der Würstelbude veranstalten. Und hier liegt die Chance einer von allen gepflegten Fastenzeit: Sie lässt sich eben am besten an dem ablesen, was (nicht) auf den Tisch kommt. Teresas von Avila berühmter Satz „Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn“ trifft diesen Aspekt sehr gut. Vom Faschingskrapfen über das Osterei bis zur Martins- und Weihnachtsgans haben wir markante Zeitpunkte des Kirchenjahrs mit spezifischen Speisen ausgezeichnet. Darüber hinaus sind Mahl-Zeiten auch auf den Tageslauf bezogen. Ob das Abendmahl treffend am Vormittag gefeiert werden kann, ist eine ernste anthropologische und theologische Frage. Denn der Wein signalisiert den Abend, und Jesus hat seine Mähler weitgehend am Abend gefeiert. Historisch ist die Verlegung auf den Morgen allein durch das Gebot der eucharistischen Nüchternheit angestoßen worden. Vor dem Empfang der Eucharistie durfte weder gegessen noch getrunken werden (in der orthodoxen Kirche ist das bis heute so). Es verwundert, dass die tageszeitlichen Freiräume, die durch die Aufhebung des Gebots entstanden sind, bis heute kaum wahrgenommen werden. Schließlich, und da klopfe ich als Katholik vorwiegend an die Brust meiner Kirche, sollte die Eucharistie Slow Food sein – ein bewusstes, mit viel Ruhe gepflegtes Mahlhalten und kein hastiges „Abspeisen“.

 

 

Tischgemeinschaft

Der dritte Kreis des Mahlhaltens betrifft die Tischgemeinschaft. Durch den Verzicht auf prinzipielle Speisetabus hätte das Christentum grundsätzlich die Möglichkeit, alle Menschen an einen Tisch zu bringen (Zugehörigkeit). Und doch kennen wir zahlreiche Exklusionen nach Status, Geschlecht oder Nationalität. Entgegen der Weisung Jesu, nicht nach den besten Plätzen zu schielen (Mk. 10,35-45), spielen Ansehen und Prestige auch im christlichen Kontext eine große Rolle. Genussvolles Essen und Trinken ist in Gemeinschaft wesentlich leichter und intensiver als alleine (Lust). Und dass Mähler uns Sicherheit geben, wissen wir nicht erst seit dem Westfälischen Frieden. Wo Menschen miteinander essen und trinken, da schafft das Frieden und Verbundenheit. Wiederum auf das Abendmahl gewendet: Ich gestehe, dass ich fast neidvoll darauf schaue, um wieviel mehr die eucharistische Tischgemeinschaft in evangelischen Gottesdiensten spürbar ist als in katholischen. Im Kreis um den Altar zu stehen und zu warten, bis alle gegessen und getrunken haben, schafft eine weit tiefere Verbundenheit als das katholische Kommunizieren einer nach dem anderen.

Welternährung

Der vierte Kreis des Essens und Trinkens betrifft die globale Frage der Welternährung. Sie berührt die Kirchen an ihrem Nerv, beten sie doch um das „tägliche Brot“ (Lk. 11,3) und haben den Auftrag Jesu, den Hungernden zu essen zu geben (Mk. 6,37). Ernährungssicherheit für alle ist daher ein zentrales Anliegen, in das sie viel Kraft und Geld investieren. Fairer Handel, eine der zentralen Voraussetzungen, wäre ohne sie längst nicht so weit verbreitet (Zugehörigkeit). Denn paradoxerweise leben zwei Drittel der Hungernden auf dem Land und nicht in der Stadt. Ihnen fehlt es nicht an landwirtschaftlichen Techniken und Maschinen, sondern am Zugang zu einem Stück Land und dessen Erträgen. Es wären genug Lebensmittel für alle Menschen da, wenn sie nur fair verteilt würden. In jüngerer Zeit ist die Forderung nach Ernährungssouveränität dazugekommen, sei es der einzelnen Länder, sei es der Kleinbauern und -bäuerinnen (Ansehen). Und dass einfaches Essen sehr wohlschmeckend sein kann, ist ebenfalls eine Lehre der fair gehandelten Lebensmittel (Lust).

Tiere

Lange Zeit hat das Christentum gemeint, mit der Frage der Welternährung sei der größte und letzte Kreis der Wirkungen des Essens und Trinkens erreicht. Doch das hat sich als zu kurz gegriffen herausgestellt. Denn die menschliche Ernährung betrifft in großem Maße auch Tiere. Die industrialisierte Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion beanspruchen sie in einem nie gekannten Ausmaß. Dabei hat die christliche Tradition schon sehr früh betont, dass der Verzehr von Fleisch und anderen tierischen Produkten sich qualitativ vom Verzehr pflanzlicher Lebensmittel unterscheidet. Die Erinnerung an die erste Schöpfungserzählung, in der Menschen wie Tieren nur pflanzliche Nahrung erlaubt wird (Gen. 1,29), entfaltete große Wirkung. Im Mönchtum führte sie zur frei gewählten Option, ehelos und vegetarisch oder vegan zugleich zu leben. Beide Merkmale gehörten untrennbar zusammen und betrafen die beiden stärksten Antriebe des Menschen: Ernährung und Sexualität. Außerhalb des Mönchtums war der Fleischverzehr erlaubt – wenn auch in klaren Grenzen. Längere Zeiten der Fleisch-Freiheit im Kirchenjahr und wöchentliche „Veggie-Days“ waren starke Signale dafür, sich von tierischen Produkten nicht allzu abhängig zu machen. Mag auch viel platonische Leibfeindlichkeit darin enthalten gewesen sein, so ist die biblische Intention in Gen. 1,29 doch eindeutig auf die Schonung der Tiere als Mitgeschöpfe ausgerichtet. Es wäre viel zu gewinnen, wenn die Kirchen sich auf ihre Wurzeln besännen (Zwingli hat das typisch für seine Zeit in seiner langen Predigt über das Wurstessen nicht getan – die Erzählung Gen. 1 kommt darin trotz unzähliger alt- und neutestamentlicher Bibelzitate zum Essen und Trinken nicht vor!). Und dabei bräuchte es keine geringe Bedeutung haben, dass die eucharistischen Speisen allesamt vegan sind. Historische Quellen belegen, dass anfangs auch Milch und Lammfleisch in der Eucharistie nicht unüblich waren. Doch galten im Mittelmeerraum „Korn, Wein und Öl“ (im AT 19mal als Kern guter Ernährung genannt!) als die absoluten Prestigeprodukte, während Fleisch und Milch eher verächtlich als Speise der Barbaren abqualifiziert wurden7. Vegetarische Ernährung galt als kulturell höherstehend und innovativ – fast könnte man*frau meinen, im 21. Jh. zu sein. Und so entschied man sich schnell für Brot und Wein als die einzigen Speisen der Eucharistie.

 

 

Ökosysteme

Der letzte und am weitesten reichende Wirkungskreis der Ernährung betrifft die Ökosysteme. Die Landwirtschaft hat großen Einfluss auf die Umweltmedien Boden und Wasser. Ackerböden liegen phasenweise offen und erodieren stärker. Böden und Wasser werden oft langfristig durch Spritz- und Düngemittel belastet, die Einfluss auf die Vegetation wie auf die Tierwelt haben. Über die Nahrungskette gelangen sie auch in die menschlichen Körper. Der anthropogene Treibhauseffekt ist global betrachtet zu mindestens 20% der Landwirtschaft anzulasten. Und was die Biodiversität angeht, ist die Landwirtschaft sogar die Hauptursache ihrer Zerstörung, wo sie über viele Jahrhunderte die Hauptursache ihrer Förderung war (durch extensive Acker- und Weideflächen, Pflege von Hecken und Streuobstwiesen und vieles mehr).

 

Schöpfungssensible Ernährungskultur

Die Art unserer Ernährung hat also größten Einfluss auf das Lebenshaus der Erde. Eine schöpfungssensible Ernährungskultur muss daher von sechs Kennzeichen geprägt sein: Saisonalität – die Speisen jahreszeitlich dann essen (oder einmachen), wenn sie im Freiland geerntet werden können. Regionalität – lange Transportwege so gut wie möglich vermeiden und lokale Märkte stärken. Fairness – für die arbeitenden Menschen entlang der Lebensmittelkette, aber auch für die Tiere, die landwirtschaftlich genutzt werden. Ökologische Erzeugung – um die Artenvielfalt maximal zu schonen. Fleischreduktion – etwa ein Viertel des aktuellen durchschnittlichen Fleischverbrauchs wäre angemessen. Abfallminimierung – denn derzeit schaffen nur knapp 50% aller Lebensmittel den Weg vom Acker oder Stall in unsere Mägen, und über die Hälfte davon wird allein von den Endverbraucher*innen weggeworfen. Der biblische Brauch, die übrigen Brocken einzusammeln und wiederzuverwerten (Mk. 6), scheint kaum noch Vorbildwirkung zu haben.

Ulrich Zwingli konnte 1522 noch relativ unschuldig von einer „freien Wahl“ der Speisen sprechen. Schon damals wäre das nur bedingt richtig gewesen, hätte er über den Tellerrand des wohlhabenden Zürcher Bürgertums geblickt. Im Zeitalter der ökologischen Katastrophe müssen wir jedoch noch viel weiter hinausschauen. Eine christliche Ernährungskultur, die den Glauben an einen guten Schöpfer und die Geschwisterlichkeit all seiner Geschöpfe ausdrücken will, braucht großen Weitblick. Ihre Freiheit liegt nicht darin, die globalen Wirkungen gegenwärtiger Ernährungssysteme zu ignorieren, sondern sie mit engagierter Gelassenheit anzupacken.

 

Anmerkungen

1 Huldrych Zwingli, Von Erkiesen und Fryheit der Spysen, Zürich 1522 (online: https://www.irg.uzh.ch/static/zwingli-werke/index.php?n=Werk.8, Abruf: 27.11.2023).

2 Dass diese Sprengkraft in Luthers konstativem Sprechakt der 95 Thesen weit weniger gegeben war, spürten die Menschen damals offensichtlich und erfanden die Story, Luther habe sie an der Schlosskirchentür in Wittenberg angeschlagen. Das wäre dann doch ein expressiver (Sprech-)Akt gewesen.

3 Franz Mußner (1974), Der Galaterbrief, Freiburg im Breisgau/Wien [u.a.], 423, dort bezogen auf Gal. 2,11-14.

4 Ludwig Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: Gesammelte Werke Bd. 10, Berlin 1971, 367.

5 So hat Jane Goodall im Gombe-Nationalpark in Tansania Schimpansen dabei beobachtet, dass sie bis zu zehn Minuten andächtig vor einem Wasserfall sitzen und staunend schauen und hören (Die Furche, 5.5.2021) oder sogar tanzen (Jane Goodall 2005, Primate spirituality, in: The Encyclopedia of Religion and Nature, 1303-1306). Frans de Waal hat im Zoo von Arnheim Tänze von Bonobos beobachtet, die darauf schließen lassen, diese seien im Glauben, damit den Regen „herbeizutanzen“ (Frans de Waal (2015), Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote. Moral ist älter als Religion, Stuttgart, 266-275).

6 Pierre Bourdieu (1974), Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. Hans-Jürgen Teuteberg (1997), Homo edens. Reflexionen zu einer neuen Kulturgeschichte des Essens, in: Historische Zeitschrift 265,1-28, bes. 6-7 und 11-12; Michael Rosenberger (2014), Im Brot der Erde den Himmel schmecken. Ethik und Spiritualität der Ernährung, München, 34-51.

7 Rosenberger, a.a.O., 398-401.

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Michael Rosenberger, Jahrgang 1962, Studium der Kath. Theologie in Würzburg und Rom, 1987 Priesterweihe, 1995 Promotion in Würzburg, 1999 Habilitation im Fach Moral­theologie, seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholischen Privat­universität Linz.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2024

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