Das Drängen von Wissenschaftler*innen wird immer stärker: Der Weltklimarat mahnt, dass es nur wenige Jahre gibt, in denen wir die Folgen des Klimawandels noch so weit eindämmen können, dass wir uns als Zivilisationen an sie anpassen können. Deutsche Forschende haben aufgezeigt, dass wir die Lebensräume von Flora und Fauna so stark eingeschränkt haben, dass unter anderem die Biomasse von Insekten sogar in geschützten Gebieten auf ein Viertel der Masse in den 1970er Jahren geschrumpft ist. Doch damit nicht genug – auch die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf, nicht nur global. Das reichste Prozent der Bevölkerung in Deutschland verfügt ungefähr über einen so großen Anteil des Gesamtvermögens unseres Landes wie drei Viertel der Gesamtbevölkerung. Diese und weitere riesige Herausforderungen erfordern einen tiefgreifenden und zeitnahen Wandlungsprozess unserer Gesellschaft. Man spricht dabei von einer sozial-ökologischen Transformation.
Es ist offensichtlich, dass Kirchen hierbei eine wichtige Rolle spielen können und die Transformation bereits in verschiedenen Bezügen aktiv mitgestalten und begleiten: Unter anderem ihre Ausrichtung auf das Gemeinwohl, ihre caritativen und diakonischen Einrichtungen, ihre Vernetzung in verschiedene Milieus, ihre Selbstverpflichtung auf ein Tempolimit, aber auch konkrete Umweltprojekte und Projekte zu Fragen der Gerechtigkeit sowie ihre seelsorglichen Aktivitäten tragen zu dem Prozess bei.
Natürlich sind Kirchen wie alle alten Institutionen auch ein Teil der Beharrungskräfte, die erschweren, dass sich der transformatorische Prozess vollzieht, aber das soll an anderer Stelle weiter ausgeführt werden. Im Folgenden sollen einmal thesenhaft ein paar weniger offensichtliche Eigenheiten der evangelischen Kirche hervorgehoben werden, die nicht sofort ins Auge springen, jedoch in Bezug auf eine sozial-ökologische Transformation eine positive Rolle spielen könnten. Sie können die Entwicklung von Fähigkeiten unterstützen, die unsere Gesellschaft für den transformatorischen Prozess dringend benötigt.
Die Fähigkeit, etwas lange auszudiskutieren
Damit sich wirklich eine Systemänderung vollziehen kann, sind unter anderem neue rechtliche Rahmenbedingungen unerlässlich. Soll dieser politische Prozess gelingen, so ist es notwendig, dass zahlreiche geradezu epische Verständigungsprozesse zwischen sehr unterschiedlichen Akteurgruppen ablaufen: Das Durchdiskutieren von Zusammenhängen erfordert viel Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, sich auf die Perspektive von anderen im Gespräch einzulassen.
Haupt- und Ehrenamtliche in der evangelischen Kirche verfügen nicht selten über ein jahrelanges Training in dieser Hinsicht. Die evangelische Kirche ist – auch in Abgrenzung zu anderen Kirchen – dafür bekannt, dass auf allen Ebenen ihrer Institution Fragestellungen in aller Ausführlichkeit, differenziert und mit dem notwendigen Tiefgang ausdiskutiert werden. Das mag mitunter auch mal als zermürbend erlebt werden, kann jedoch als eine gute Vorbereitung auf gesamtgesellschaftlich notwendige Prozesse betrachtet werden.
Die Fähigkeit, auch mit wenig Konsum glücklich zu sein und ästhetische Schlichtheit zu genießen
Die Bereitschaft zur Suffizienz ist eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen einer sozial-ökologischen Transformation. Ein häufig unterschätzter Aspekt dabei betrifft die Rolle von ästhetischen Urteilen. Nachhaltigkeit in einer Gesellschaft zu etablieren, bringt es mit sich, dass mehr Second-Hand getragen wird, gebrauchte Gegenstände wieder genutzt werden und kein Glitzer in die Farben gemischt wird.
Die evangelische Kirche ist für ihre Schlichtheit in der Gestaltung, ihre Bescheidenheit, was Prunk angeht, bekannt. Es gilt geradezu als protestantisch, wenn eine Kirche wenig pompösen Schmuck aufzeigt. Das mag auch Formen annehmen, die nicht jedermanns (und jederfrau) Geschmack sind, doch diese ästhetischen Gewohnheiten machen es leichter, den Moden einer Wegwerfgesellschaft, die für die Überreizung der Sinne bekannt ist, weniger leicht zu erliegen. Die vergleichsweise geringe Konsumbereitschaft, die in der evangelischen Kirche vorherrscht, kann also von großem Vorteil für eine sozial-ökologische Transformation sein.
Die Fähigkeit, grundlegende Veränderung als positive Kraft zu empfinden
Mag die evangelische Kirche im Moment wenig reformfreudig in einem belebenden Sinne auftreten und mitunter Schwierigkeiten damit haben, Formen und Rituale für ihre Inhalte und Botschaften zu finden, die den Menschen unserer Zeit entsprechen, so gilt dennoch zugleich: Ihren Ursprung hat sie in einem tiefgreifenden Wandel, in einem Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse – der Reformation. Es existiert grundsätzlich ein positives und sogar Identität stiftendes Verhältnis zu einer großen Umwälzung eines als problematisch angesehenen Status Quo. Diese historische Reformationserfahrung könnte dazu genutzt werden, Mut zu entwickeln und zu machen, sich auf große Veränderungen in unserer Gesellschaft einzulassen.
Die Fähigkeit zur Kooperation bei widrigen Bedingungen
In Zeiten großer Umbrüche und Veränderungen ist es gehäuft notwendig, ungewohnte Partnerschaften und Zusammenarbeiten einzugehen und zwar aus einer Not heraus. Gerade sammeln viele Kirchengemeinden in genau diesem Unterfangen Erfahrungen. Der derzeitige PuK-Prozess „Profil und Konzentration“ der evangelischen Kirche und der Tendenzbeschluss zur Kooperation erfordern Zusammenarbeit, die weniger aus Lust, sondern nicht selten aus Frust gestaltet werden muss. Doch die Erfahrungen, die die Beteiligten dabei sammeln, könnten – konstruktiv reflektiert – sehr hilfreich für den gesamtgesellschaftlichen Prozess hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft sein. Die Erlebnisse, emotionalen Prozesse und strukturellen Verfahren könnten dazu genutzt werden, auch weitere Kooperationen, die notwendig sein werden, produktiv zu gestalten, Kompetenzen zu erwerben und gut aufgestellt zu sein für das, was auf uns zukommt: das Angewiesen sein auf die Nachbarn in Katastrophenfällen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Erkenntnisgewinnung, aber auch das politische Austarieren von Lösungen unter Bedingung des Mangels und Auflösung von Gewohnheiten.
Die Fähigkeit, sich bedingungslos geliebt zu fühlen
Es ist bestürzend, wie viele Millionen Menschen weltweit jedes Jahr auf Grund der Folgen des Klimawandels bereits ihre Bleibe verlieren, wie viele Tierarten aussterben und in welchem Ausmaß reiche Akteurgruppen reicher und arme ärmer werden. Wissenschaftler*innen weisen darauf hin, dass manche Entwicklungen in der nahen Zukunft absehbar sind: Allein die Folgen des Klimawandels werden in den nächsten Jahren – egal ob wir das Ruder plötzlich herumreißen und nachhaltig leben oder nicht – zunächst einmal mit Sicherheit noch dramatischer: Die bereits emittierten Treibhausgase entfalten ihre Wirkung zeitlich verzögert und wir werden Extremhitzeereignisse, Starkregenereignisse, Stürme, Waldbrände, den Ausfall von landwirtschaftlichen Erträgen, Abbrüche von Lieferketten und ungewohnte Erkrankungen miterleben. Mit dem Hochwasser werden auch immer mehr Schuldgefühle hochgespült werden. Aber wie damit umgehen – so als Mitverursacher*in der ganzen Angelegenheit?
Eine Möglichkeit besteht darin, sich auf den liebenden Gott zu besinnen. Die evangelische Kirche hat sich unter anderem dem Aufbegehren gegen den strafenden Gott zu verdanken. Dieses Verhältnis zur Welt, dass man trotz falscher Entscheidungen, Fehleinschätzungen und Taten geliebt werden kann, kann ein wichtiger Baustein für den gesellschaftlichen Transformationsprozess sein. Aus einem solchen Angenommensein heraus lässt sich möglicherweise leichter der Mut und die Hoffnung entwickeln, sich der eigenen Rolle im Gesamtgeschehen zu stellen, und leichter die Kraft entwickeln, zu wesentlicher Veränderung beizutragen. Weil man in Geborgenheit leichter bereit sein kann, sich selbst in Frage zu stellen und sich auf Veränderungen einzulassen.
Katrin Valentin
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2023