In den Ausgaben Juni und Juli veröffentlichte das Deutsche Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt eine umfangreiche Auseinandersetzung von Eilert Herms mit zwei neueren theologischen Publikationen von Ingolf U. Dalferth zum Thema „Gegenwart Gottes“. Ingolf Dalferth reagiert auf die Besprechung durch Eilert Herms in zwei Teilen. Hier nun die Fortsetzung seiner Antwort.
Die Orientierungspraxis des Unterscheidens und Lokalisierens ist eine soziale Praxis. Anders als Herms gehe ich nicht abstrakt vom „Umgang […] leibhafter Ich-Individuen mit sich selbst“ aus, sondern konkret von den in sozialen Bezügen existierenden Menschen in ihren komplexen und oft unübersichtlichen Um- und Mitwelten. Niemand beginnt sein Leben als Ich, jeder beginnt es vielmehr als Teil eines Wir in einer gemeinsamen Welt und muss ein Ich in seiner eigenen Welt immer erst werden. In sozialen Zusammenhängen und unserer gemeinsamen Welt aber müssen wir lernen, uns zu orientieren, und dazu gehört an zentraler Stelle die Einübung in den Unterschied zwischen deskriptivem und indexikalischem Zeichengebrauch.
Beschreibende und indexikalische Ausdrücke
Herms ist an einer anderen Unterscheidung interessiert: der zwischen Zeichenkonstitution und Zeichengebrauch. Das ist auch ein Problem, aber nicht das, auf das es hier ankommt. Es stellt sich auch nicht bei allen Zeichen in gleicher Weise. Nicht jeder Zeichenprozess ist von derselben Art und nicht jedes sprachliche Zeichen fungiert in derselben Weise.1 Indexausdrücke wie hier, dort, jetzt, damals, ich, du, wir, ihr oder Gott fungieren anders als Namen oder Beschreibungen, sie kommunizieren kein Was, sondern ein Dass, sprechen nicht über etwas, sondern verankern das, was über etwas gesagt wird, in einem konkreten Diskurs, einer konkreten Situation, einer konkreten Praxis. Ihr Sinn ist nicht ablösbar von ihrem Gebrauch, und mit ihrem konkreten Gebrauch verändert sich auch ihr bestimmter Sinn. Nicht jeder, der „ich“ sagt, sagt dasselbe, und ebenso wenig tut das jeder, der „hier“ oder „dort“ sagt. Zwar loziert jeder, der diese Ausdrücke gebraucht, das, was er sagt, in einer konkreten Situation, aber mit der Situation differiert auch das, was dadurch kommuniziert wird. „Ich habe Hunger“ und „Dalferth hat Hunger“ sind in meinem Fall zwar beide wahr, wenn eines davon wahr ist. Aber nicht jeder, der „Ich habe Hunger“ sagt, sagt auch „Dalferth hat Hunger“. Und auch nicht jeder, der „Dalferth hat Hunger“ sagt, sagt auch „Ich habe Hunger“. Mit Indexausdrücken wird immer auf eine konkrete Praxissituation Bezug genommen, in der das Gesagte real verankert wird.2 Mit Namen dagegen kann deiktisch auf Situationen Bezug genommen werden, die nicht wirklich, sondern nur möglich sind. Dass man redet, lässt sich nie in das aufheben, was man sagt. Und was man sagt, kann noch so detailliert und differenziert sein, es ersetzt nie die Tatsache, dass man es sagt. Man bewegt sich nur im Möglichen, und vom Möglichen allein kommt man nie zum Wirklichen.
Eine Sprache ohne Indexausdrücke wäre daher eine reine Möglichkeitssprache, in der man bestenfalls notwendig oder möglicherweise Wahres sagen kann, aber nichts, was kontingent wahr ist und nicht falsch, obwohl es das sein könnte. Im Sinnhorizont der Sprache allein lässt sich nur das als wahr oder falsch aufweisen, was aufgrund seiner bloßen logischen Form gar nicht anders als wahr oder falsch sein kann, also notwendig wahr ist („Der Ball ist rund“) oder semantisch widersprüchlich und damit notwendig falsch („Das Quadrat hat fünf Ecken“). In allen anderen Fällen (etwa „Es regnet“) wird erst durch die Verankerung des Gesagten in einer konkreten Situation entscheidbar, ob das, was gesagt wird, wahr ist oder falsch („Es regnet hier oder jetzt“). Dass es wahr oder falsch sein könnte, zeigt, dass es sinnvoll ist. Aber damit ist noch nicht entschieden, ob es wahr oder falsch ist.
Wie deskriptive Ausdrücke dazu dienen, mögliche Sachverhalte zu thematisieren, so fungieren Indexausdrücke als die Wirklichkeitsindikatoren unseres Sprachgebrauchs. Mit ihnen spezifizieren wir keinen Sinn, sondern lokalisieren das mehr oder weniger Sinnvolle, das wir sagen, in konkreten Sprech- und Handlungssituationen. Sie zeigen an, dass etwas gesagt wird, aber nicht, was gesagt wird, markieren damit die Situation, in der gesprochen wird, aber charakterisieren nicht das, was in dieser Situation gesagt wird.
Diese Funktion von Indexausdrücken kann aber verschieden verstanden werden. Die einen verstehen sie in kausalem Sinn als Anzeige der Gegenwart einer sinnlichen Ursache angesichts von deren sinnlicher Wirkung („Rauch zeigt ein Feuer an“). Die anderen verstehen sie in umfassenderem Sinn als Anzeige der Gegenwart dessen, worauf sie verweisen bzw. worauf mit ihnen verwiesen wird. Die kausale Interpretation der Indexausdrücke und die sinnliche Präsenz des Indizierten sind dann nur ein besonderer Fall einer Zeichenfunktion, die mit dem Zeichen die Gegenwart des Bezeichneten anzeigt. Das gilt bei Orts- und Zeitindikatoren (hier, jetzt) ebenso wie bei Personalpronomina (ich, du, wir) oder bei der Indexfunktion des Ausdrucks „Gott“. In jedem Fall geht es darum, durch den Zeichengebrauch zum Ausdruck zu bringen, dass der entsprechende Zeichenakt im Kontext einer konkreten Orientierungssituation und damit in der Gegenwart der Aspekte der Situation vollzogen wird, die der verwendete Indexausdruck anzeigt. Wer „ich“ sagt, verweist auf sich, der das sagt, wer „hier“ oder „jetzt“ sagt, auf den Ort oder den Zeitpunkt, an dem er es sagt, wer „Gott“ sagt auf die Gegenwart dessen, ohne den man weder dasein noch sprechen könnte. Stets geht es um die Performanz des Sagens und nicht um den Gehalt des Gesagten, stets um den Hinweis auf ein Erscheinen und nicht um ein Beschreiben von Erschienenem.3 Der entscheidende Wirklichkeitsindikator ist nicht die Sprache, die wir gebrauchen, sondern die Tatsache, dass wir sie gebrauchen.
Phänomene und Interpretationen
Phänomene treten als Unterbrechungen der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten und Alltagsnormalitäten in Erscheinung. Sie eröffnen uns Möglichkeiten, die uns hier und jetzt sonst nicht zugänglich wären. Was nicht für uns erscheint, können wir nicht als etwas verstehen. Was nicht von sich aus für uns erscheint, ist nichts, was uns Möglichkeiten erschließen könnte, die wir nicht von uns aus schon hätten. Und was nicht von sich aus für uns als etwas erscheint, ist nichts, was wir verstehen könnten. Es ist dann allenfalls ein Geräusch, aber kein Ton einer Melodie, eine Unterbrechung, aber keine Eröffnung von Neuem.
Als etwas erschließen sich Phänomene für uns nur im Verstehenshorizont einer Sprach- und Zeichengebrauchsgemeinschaft, an der wir gemeinsam mit anderen aktiv partizipieren. Unsere Welt ist keine solipsistische Privatwelt, sondern eine stets sozial vermittelte Mit-Welt mit anderen, mit denen wir kommunizieren und interagieren. Wir leben zusammen mit anderen in einer lebensweltlichen erschlossenen Welt, in der wir nicht unterscheiden zwischen dem, was ist, und dem, wie es uns erscheint, solange es dafür keinen Anlass gibt. Erst mit dem Abbau dieser Selbstverständlichkeit zeigen sich andere Möglichkeiten. Dass etwas für uns von sich aus als etwas erscheint, macht uns zum Ort eines doppelten Vorgangs: Wir werden extentional (von den Phänomenen her) zum Resonanzboden der Möglichkeiten, die zusammengenommen ein Phänomen konstituieren (ein Phänomen ist die Totalität der Möglichkeiten, die sich uns durch dieses etwas erschließen), und wir werden intentional (von uns her) zu einem Wirklichen unter Wirklichem, das sich im Sinnhorizont einer mit anderen geteilten Welt auf anderes als etwas bezieht und beziehen kann.
Zentrales Thema der Phänomenologie sind daher nicht – wie Herms nahelegt – die Erscheinungen (Phänomene), sondern das Erscheinen und die Modi des Erscheinens, also nicht das, was uns erscheint, sondern dass und wie uns überhaupt etwas erscheint.4 Das aber – da stimmen wir überein – können wir nicht uns selbst zuschreiben. Nicht wir machen (konstituieren) die Phänomene, sondern wir werden durch das Erscheinen von etwas für uns überhaupt erst zu denen, die etwas als etwas wahrnehmen und verstehen können. Wir haben weder unsere Welt noch uns selbst gemacht, sondern finden uns in ihr vor, obwohl das auch anders sein könnte, nicht immer so war und nicht immer so sein wird. Aber als was wir das wahrnehmen, was uns erscheint, ist der Sprach- und Interpretationsgemeinschaft geschuldet, in der wir leben. Und wir leben immer schon in solchen Gemeinschaften, weil wir nicht als punktuelle leibhafte „Iche“ existieren, die sich gelegentlich auch noch auf andere beziehen, sondern als Menschen von Anfang an zusammen mit anderen Menschen in der Lebenswelt in natürlichen Haltungen und mehr oder weniger reflektierten Einstellungen und Erwartungshaltungen zusammenleben.
Im Horizont der Lebenswelt
Herms Argumente sind dem Konstitutionsdenken des frühen 19. Jh. verhaftet, ich argumentiere im Horizont der Lebensweltphänomenologie – und das ist immer eine Phänomenologie, der die Lebenswelt im Rücken liegt, weil sie verlassen ist. Wir sind nie nur unmittelbares Selbstbewusstsein, das eine Welt noch nicht einmal erträumen könnte, ehe sich ihm anderes als etwas erschließt. Wir sind nie nur Bewusstsein von etwas, das sich seiner selbst vergewissern müsste. Wir sind nie nur leibhaftes Ich-Individuum, das sich in der Welt vorfindet, aber andere erst später entdeckt. Wir sind nicht zuerst Ich und werden erst danach durch Verbindung mit anderen „Ichen“ zu einem Wir. Wir leben nie zuerst in einer Welt der Phänomene, die wir erst in einem zweiten Schritt sprachlich bestimmen. Wir können den Eigensinn von Phänomenen nie anders zum Ausdruck bringen als im Horizont einer vorgängigen Sprach- und Lebenspraxis, die wir mit anderen teilen. Wir leben nie in einer Welt, die uns nicht schon sprachlich erschlossen wäre, in der es nicht auch andere gäbe, die mit uns sprechen, in der mit uns nicht in einer bestimmten Sprache gesprochen würde, die nicht in kontingenter Weise eine komplexe Kulturwelt wäre. Wir haben es mit Phänomenen nie anders zu tun als so, wie sie uns zugänglich sind, und zugänglich sind sie uns nie anders als durch soziale, sprachliche und kulturelle Vermittlungen, in die wir durch das Zusammenleben mit anderen lebenspraktisch eingeübt werden.
Nicht ihr Dasein, wohl aber ihr Sinn ist mitbedingt durch unsere Lebenspraxis, Sprache und Kultur. Das schließt nicht aus, dass sie einen Eigensinn haben. Kulturphänomene haben das immer, Naturphänomene nicht in jedem Fall. Aber auch sie treten für uns nur in kulturellen Zusammenhängen in Erscheinung. Wir gehen mit anderem um, ehe wir es in seinem Eigensinn verstehen. Wir verstehen es so, wie wir mit ihm umgehen. Wir gehen mit ihm um, wie wir uns im Praxiszusammenhang des Lebens zusammen mit anderen darauf verstehen. Wir beginnen seinen Eigensinn zu verstehen, indem wir auf die Möglichkeiten achten, die uns dadurch erschlossen werden. Wir verstehen diesen Eigensinn besser und genauer, indem wir in einem fortlaufenden Prozess die dadurch erschlossenen Möglichkeiten gemeinsam mit anderen praktisch erproben und theoretisch erkunden.
Wir verstehen dabei immer etwas (schon irgendwie Verstandenes) durch etwas (Zeichen) als etwas (Sinn), erleben, gestalten und begreifen unser gelebtes Leben also als einen mit anderen geteilten Sinn-, Interpretations- und Verstehensraum, in dem in der Wirklichkeitswelt unserer Lebensvollzüge Möglichkeiten erschlossen und zugänglich werden, ohne die ein besseres Verständnis und eine gezielte Veränderung unserer wirklichen Welt nicht möglich wäre.
Das Erscheinen von Erscheinungen
Philosophische Aufmerksamkeit verdient daher nicht primär die Vielfalt der Erscheinungen, sondern vor allem das Erscheinen von Erscheinungen. Was uns erscheint, erscheint uns so, wie es erscheint, und solange es das tut, tritt es noch nicht einmal als Erscheinung in Erscheinung. Dass es auch anders sein könnte, wird erst bemerkbar, wenn es auch anders erscheint, und wenn es jemanden gibt, der das eine mit dem anderen vergleichen kann. Für sich genommen ist alles, was erscheint, so, wie es erscheint und nicht anders; und deshalb ist jede Erscheinung anders als jede andere. Aber dass uns etwas erscheint, ändert sich nicht mit dem, was uns erscheint und als was es uns erscheint. Es bleibt gleich, auch wenn uns jetzt anderes erscheint oder etwas als etwas anderes erscheint als vorher.
Ohne das phainesthai gäbe es keine phainomena. Es gäbe weder Erscheinungen noch einen Wechsel der Erscheinungen, weder etwas, von dem wir merken, dass es geschieht, noch einen Unterschied zwischen dem, was wir uns einbilden, und dem, was sich wirklich ereignet. Nur weil etwas von sich aus erscheint, ereignet sich ein Erscheinen, nur weil etwas als etwas erscheint, können wir es bemerken, und es erscheint nur als etwas, weil und insofern es von sich aus für jemanden erscheint. Erschiene es nicht von sich aus, gäbe es kein Erscheinen. Gäbe es niemanden, dem es erscheinen könnte, gäbe es keine Erscheinungen, und gäbe es nichts, was jemandem von sich aus als etwas erscheinen könnte, gäbe es vielleicht mentale Phantasmata5, aber keine realen Gegenstände, die uns erscheinen könnten. Ohne die für-Relation gäbe es keine Erscheinungen, ohne die als-Relation gäbe es keine Möglichkeit, das Erscheinende in bestimmter Weise zu verstehen, und ohne die von sich aus-Relation gäbe es keine Möglichkeit, Einbildungen von Erscheinungen zu unterscheiden.
Unterschiedliche Lebensmodi und Gottes Gegenwart
Das Wunder des Erscheinens (Hobbes6) ist der Fußpunkt einer phänomenologischen Theologie. Gott ist kein Erscheinendes unter Erscheinenden. Er ist auch nicht das Erscheinen von Erscheinendem. Sondern er ist das, ohne das kein Erscheinen möglich wäre und es keine Erscheinungen gäbe. Gott tritt in der Welt der Erscheinungen nicht in Erscheinung, und nichts in ihr verweist ausdrücklich auf Gottes Präsenz – außer der Tatsache, dass es die Welt der Erscheinungen gibt, obgleich es sie auch nicht geben könnte. Diese Tatsache legt den Verweis auf Gottes Gegenwart nicht nahe, schließt sie aber auch nicht aus. Sie ist der Platzhalter einer verborgenen Möglichkeit, die sich aufdecken lässt.7
Diese Möglichkeit zu ignorieren, ist kein epistemischer oder logischer Fehler, sondern existenzielle Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, ohne die weder die eigene noch irgendeine andere nichtgöttliche Wirklichkeit möglich wäre. Man ist nicht unvernünftig, wenn man so lebt. Man lebt vielmehr in einem grundlegend anderen Modus, der alle Lebensvollzüge prägt. Diesen Modus zu wechseln ist immer eine existenzielle Kehre, die alles betrifft und das ganze Leben verändert – ob man von der Blindheit gegenüber der Gegenwart Gottes zu ihrer Anerkennung wechselt oder umgekehrt. Aus theologischer Sicht ist in dieser Blindheit zu leben ein Realitätsdefizit und von ihr zur Anerkennung zu wechseln ein Realitätsgewinn. Diesen kann man sich nicht selbst verschaffen, weil aus der Blindheit kein Weg in die Anerkennung führt, wenn sich die schöpferische Gegenwart Gottes in, mit und unter den Wirklichkeiten des Lebens nicht von sich aus erschließt. Wir erleben immer nur Gegenwärtiges, das auch nicht gegenwärtig sein könnte. Die Gegenwart dessen, ohne den unsere Gegenwart nicht möglich wäre, erleben wir dagegen nicht, sondern können sie nur thematisieren, wenn sie sich uns im Nachdenken über unser Dasein erschließt.
Phänomenologische Theologie
Es ist die Aufgabe der theologischen Entselbstverständlichung lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, diese Verborgenheit aufzudecken und Gottes Gegenwart ans Licht zu bringen – nicht, indem sie Gott als Gott zum Erscheinen bringt, sondern indem sie zeigt, dass die Lebenswelt und ihre Folgewelten nicht sein könnten, was sie sind, wenn Gott nicht gegenwärtig wäre. Das leistet sie nicht, indem sie Gottes Gegenwart aus der Lebenswelt zu erschließen sucht (das wäre ein müßiges Unterfangen), sondern indem sie von der – hypothetisch gesetzten (Philosophie) oder faktisch anerkannten (Theologie) – Selbsterschließung der Gegenwart Gottes her deutlich macht, dass die Lebenswelt mehr ist als das, was sie von sich aus zu verstehen gibt. Gott tritt in ihr nicht in Erscheinung, so dass jeder auf seine Gegenwart gestoßen würde, aber nichts träte in ihr in Erscheinung, wenn Gott nicht gegenwärtig wäre, und niemand würde darauf achten, wenn Gott es nicht erschließen würde. Nicht was uns erscheint (die Phänomene) und auch nicht, wem sie erscheinen (die Wahrnehmungssubjekte), weckt die Frage nach Gott, sondern dass es Erscheinen gibt. Der Gottesgedanke fungiert nicht als Zeichen einer Erscheinung, sondern als Index der Wirklichkeit des Erscheinens. Das ist der Ansatzpunkt einer phänomenologischen Theologie.
Der wird verfehlt, wenn man eine „erklärende Theologie“ entwirft, in der das, was sich in der natürlichen Einstellung erschließt, durch den Rekurs auf Gott erklärt wird.8 Eine solche Theologie bewegt sich immer nur im Bereich der Möglichkeiten – nicht als Denkvollzug, wohl aber im Hinblick auf das dabei Gedachte. Sie will Gott erklären (als Explanandum) oder etwas durch Gott erklären (als Explanans), aber vermeidet, sich auf die Geheimnisse und Abgründe des Menschen, die tragischen Dimensionen der conditio humana, die Konkretionen leiblicher Existenz, das Hereinbrechen lebenslähmender Sinnlosigkeit und das beglückende Sich-Ereignen von unerwartetem Sinn einzulassen, und verfehlt eben damit die Negativität der Sinnzusammenbrüche und die ungesucht sich einstellende Positivität der Widerfahrnis sich erschließenden Sinns, aus denen heraus sich eine religiöse Einstellung entfaltet.
Es bedarf demgegenüber einer phänomenologischen Theologie, die nicht von den Erscheinungen, sondern vom Erscheinen ausgeht und dessen Wirklichkeit nicht erklären, sondern seine Möglichkeit beschreiben, erkunden und kontemplieren will. Dass sich Erscheinen ereignet, versteht sich nicht von selbst. Es ist auch nicht einfach die Aktualisierung einer Möglichkeit, sondern es ist ein Wirklichkeitsereignis, das der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit vorausgeht und diese überhaupt erst möglich macht.
Gott als die Wirklichkeit der Möglichkeit des Erscheinens
Hier ist das Gottesthema in phänomenologischer Perspektive verankert, im konkreten Geschehen des Lebens, nicht erst im Nachdenken über dieses Geschehen, so sehr dieses Nachdenken auch zum Leben gehört. Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung. Im Widerfahrnis von Neuem wird Altes schal oder neu wichtig, es kommt zu Abbrüchen im Leben und neuen Anfängen, Diskontinuitäten stören das Vertraute und verändern das Gewohnte, und über Abbrüche und Anfänge hinweg bauen sich Sinnzusammenhänge auf, die keine selbst entworfenen Kontinuitäten sind, sondern Möglichkeitsräume, die sich Ereignissen des Einbruchs von Sinnlosigkeit und der Widerfahrnis von neuem Sinn verdanken.
Nicht von ungefähr wird das Wort theos im Griechischen ursprünglich als Prädikatsbegriff für derartige Widerfahrnisse gebraucht. Es kennzeichnet ein Ereignis, das Ordnung, Struktur, Sinn, Berechenbarkeit ins Chaos der Welterfahrung bringt. Wo sich solche Ordnung im Chaos ereignet, rufen Menschen im antike Griechenland theos, und wo das geschieht, wo sich die Welt wieder alle Erwartung als kosmos erweist, muss man im Mythos reden.9 Nicht Gott oder ein göttliches Wesen als solches ist erschienen, sondern die Welt ist vom Chaos zum Kosmos geworden. Das ist das Ereignis, über das niemand verfügt und auf das jeder angewiesen ist, um leben zu können. Und so bahnt sich die Rede von Gott an. Gott ist kein Erscheinendes, aber auch nicht das Ereignis des Erscheinens, sondern das, ohne das es keine Möglichkeit des Erscheinens, keinen Umschlag von Chaos in Kosmos, kein Ereignis von Sinn in einem Meer von Nichtsinn und Unsinn gäbe. Gott ist – phänomenologisch gesprochen – die Wirklichkeit der Möglichkeit des Erscheinens, diejenige Wirklichkeit also, ohne die es nichts Erscheinendes, nichts als etwas Erscheinendes, niemand, für den etwas erschiene und kein Erscheinen gäbe.
So verstanden ist Gott kein Wahrnehmungsgegenstand unter oder neben anderen. Gott ist kein bloßes Möglichkeitskonstrukt, aber auch kein schwer aufzufindender Erfahrungsgegenstand oder eine Wirklichkeit, für deren Wahrnehmung eine spezielle Fähigkeit benötigt würde (sensus divinitatis). Er ist die schöpferische Wirklichkeit des Möglichen, auf die man stößt, wenn man im eigenen Leben und im Leben anderer kritisch vom Wirklichen über die Möglichkeit des Wirklichen zur Wirklichkeit des Möglichen weiterfragt, der sich alles Mögliche und Wirkliche verdankt. Diesen Weg bahnt das phänomenologische Denken, das nicht bei dem stehen bleibt, was sich je und je erschließt, sondern nach dem fragt, was es möglich macht, dass sich etwas als etwas für jemand erschließt. Es geht nicht darum, Gott als Gott wahrzunehmen, sondern sich und andere in der Gegenwart Gottes neu und anders, nämlich als Gottes Geschöpfe wahrzunehmen. Gott ist kein Phänomen, das man wahrnehmen könnte, sondern ohne Gott gäbe es keine Phänomene, die sich wahrnehmen ließen, und niemand, der Phänomene wahrnehmen könnte.
Um menschliches Leben in unserer Welt zu verstehen, ist es daher wichtig, im Ausgang von der Lebenswelt nicht nur Wirklichkeit zu erforschen (in den Wissenschaften) und Möglichkeiten zu erkunden (in Philosophie, Literatur, Kunst und Musik), sondern auch über Gott und seine lebensermöglichende und lebensverändernde Gegenwart nachzudenken (in der Theologie). Weil Gottes Gegenwart phänomenal aber nicht in die Augen springt, ist es so leicht, eben das nicht zu tun, sondern sich mit den Wirklichkeitserklärungen der Wissenschaft und Möglichkeitserkundungen der Philosophie, Literatur, Kunst und Musik zu begnügen und die Einsichten und Orientierungshilfen zu ignorieren, die theologisches Nachdenken bieten könnte.
Ingolf U. Dalferth
Anmerkungen
1 Vgl. für das Folgende Ingolf U. Dalferth, Illusionen der Unmittelbarkeit. Über einen missverstandenen Modus der Lebenswelt, Tübingen: Mohr Siebeck 2022, 95-97.
2 Insofern fungieren sie analog zum Leib als Verankerung und Verortung des Lebens im Hier und Jetzt einer konkreten Situation. Der Leib lokalisiert und bildet dementsprechend den Bezugs- und Orientierungspunkt, an dem sich die Kommunikation und Interaktion mit anderen ausrichten kann. Mein Leib lokalisiert nicht nur mich, sondern er lokalisiert mich auch für andere. Man kann auf ihn zurückkommen – in der Perspektive der ersten, zweiten und dritten Person.
3 Vgl. Martin Krampen, Die Rolle des Index in den Wissenschaften, Zeitschrift für Semiotik 6, 1984, 5-14, bes. 6ff.; Thomas Pruisken, Medialität und Zeichen: Konzeptionen einer pragmatisch-sinnkritischen Theorie medialer Erfahrung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 144ff; Gesche Linde, Zeichen und Gewissheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 741-766; Michael Silvestein, Indexical order and the dialectics of sociolinguistic life, Language & Communication 23 (2003):193-229; The Voice of Jacob: Entextualization, Contextualization, and Identity, English Literary History 81 (2014): 483-520; Language in Culture: Lectures on the Social Semiotics of Language, Cambridge: Cambridge University Press 2023.
4 Vgl. für das Folgende ausführlicher Dalferth, Illusionen, Teil III und IV.
5 Aristoteles, De anima, 428a.
6 „Unter allen Erscheinungen, die es um uns gibt, ist das Erscheinen selbst am erstaunlichsten. (PhaenomenÅn autem omnium, quae prope nos existunt, id ipsum to phainesthai est admirabilissimum …)“ Thomas Hobbes, De corpore XXV, 1, Works, hrsg. von William Molesworth, Bd. 1, 316 (zit. nach Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 180).
7 Im Folgenden erfinde ich das Rad nicht noch einmal neu, sondern zitiere zusammenfassend aus Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit der Möglichkeit des Erscheinens. Anmerkungen zur Gottesfrage, Archivio Di Filosofia/Archives of Philosophy XC: Religion et „Attitude Naturelle“ (2022): 89-101.
8 Vgl. Emmanuel de Saint-Aubert, Incarnation Changes Everything. Merleau-Ponty As a Critic of „Explanatory Theology“, in: Archives de Philosophie, Vol. 71,3 (2008), 371-405; Robert Winkler, Das Programm der Phänomenologie Husserls in seiner Bedeutung für die systematische Theologie, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Neue Folge, Vol. 2 (29), No. 2 (1921), 103-138.
9 Vgl. K. Kerényi, Griechische Grundbegriffe, Zürich 1964, 17ff; ders., Theos: ‚Gott‘ auf Griechisch, in: Ders., Antike Religion, München/Wien 1971, 207-217.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2023