Wie sollen und können Schritte des Friedens gegangen werden in einer Zeit der Gewalt und des Krieges? Ulfrid Kleinert hat dazu im Rahmen des Friedensgebetes in der Dresdner Kreuzkirche eine ermutigende Ansprache gehalten, die das Deutsche Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt nachstehend dokumentiert.*

Liebe Friedenssuchende!

Nach den beunruhigenden Ereignissen der letzten beiden Tage (der massive Angriff der Hamas auf Israel – d. Red.) möchte ich eine Vorbemerkung zu dem machen, was ich in meiner Ansprache heute sagen möchte:

Wir stottern, auch wenn wir noch so gut formulieren, bei dem Versuch, die in den Oktober- und Novembertagen 1989 an diesem Ort und in der ganzen DDR im Geist der Gewaltfreiheit erreichten grundlegenden Veränderungen in einer seit 2022 veränderten Situation weiterzutreiben. Aber wir bleiben beharrlich.

Nach diesem Vorwort kann ich beginnen. Sie kennen das vermutlich auch: Neue Lebenssituationen lassen Worte, die wir kennen, manchmal in ganz neuem Licht erscheinen. So ist es mir mit dem Lukasevangelium in unseren Zeiten des Krieges gegangen. Ich kannte Krieg vorher nur als Kind – mit Mutter und Geschwistern auf der Flucht – und aus Berichten. Jetzt entdecke ich im Lukasevangelium, dass da nicht nur im zweiten Kapitel in der vielen von uns bekannten Weihnachtsgeschichte die himmlischen Heerscharen von „Frieden auf Erden“ sprechen für alle Menschen, die Gottes Wohlgefallen finden. Sondern dass Lukas sein ganzes Evangelium und das darin geschilderte Leben Jesu in Kap. 1, V. 79 unter das Leitwort stellt: „zu richten unsere Füße auf den Weg des Friedens“. Lukas lässt uns dieses Wort durch Zacharias anlässlich der Geburt seines Sohnes Johannes sagen. Sein Sohn wird, erwachsen geworden, Jesus von Nazareth im Jordan taufen und den Impuls weitergeben als Auftrag für dessen Leben und Sterben – bis in die Kirchen- und Weltgeschichte hinein, von der Lukas in der „Apostelgeschichte“ erzählt. Das Wort ist ein Auftrag auch an uns heute. Es geht darum, „unsere Füße auf den Weg des Friedens“ zu richten. Was kann das für die Ukraine heißen angesichts des Krieges, den Russland gegen sie führt?

 

Was Frieden nicht heißt

Leichter ist es, zuerst zu sagen, was Frieden nicht heißt, obwohl viele in Deutschland gerade das auf großen Demonstra­tionen zu fordern schienen: „Frieden“ meint in der Bibel nicht Sich-Fügen unter Gewaltherrschaft. Das hebräische Wort für „Frieden“ heißt „Schalom“, arabisch „salem“. Im Orient grüßt man Menschen, die einem begegnen, mit „Schalom alechäm“, „Salem aleikum“: „Friede sei mit Euch“. Das meint nicht nur „Abwesenheit von Krieg“, sondern auch „Gerechtigkeit“ und „Wohlergehen“. Wir haben es beim Psalmgebet mit Worten des Ps. 85 gehört und ausgesprochen: „Frieden und Gerechtigkeit küssen einander“, sie gehören ­zusammen.

Am Anfang steht für die Ukrainer der erfolgreiche Widerstand: nicht zulassen, dass der mit großen Truppenkontingenten aufmarschierte Aggressor im Handstreich das eigene Land beherrscht. Viele haben damals wie ich gedacht: das wird den Ukrainern nicht gelingen gegen diese Übermacht. Welche Erleichterung, als sie sich erfolg­reich wehren konnten!

 

Gewaltfreier Widerstand

Unbestritten am besten ist es, gewaltfrei Widerstand zu leisten. Auch das haben Ukrainer*innen anfangs erfolgreich versucht. Mütter standen den nach Kiew rollenden Panzern am 24. Februar 2022 wehrlos, aber beharrlich im Wege. Und verblüfften damit so manche der russischen Soldaten, denen eingeredet worden war, sie würden von der ukrainischen Bevölkerung als die Befreier von Nazis freudig empfangen.

Der Spanier Felip Daza Sierra hat Anfang dieses Jahres das Ergebnis einer Studie über den „Ukrainischen gewaltfreien Widerstand angesichts des Krieges“ vorgelegt. Ins Deutsche übersetzt von Andreas Zumach wird diese Studie zurzeit von der Jenaer Schiller-Universität verbreitet. Sie zeigt eine Vielfalt spontanen zivilen Widerstands im ganzen Land. Aber sie macht auch deutlich, dass eine brutale militärische Eroberung nur anfangs verzögert, aber nicht dauerhaft gestoppt werden kann – es sei denn, dass zuvor systematisch ein unbeugsamer ziviler Widerstand mit großen Teilen der Bevölkerung eingeübt worden ist.

Deshalb kann ich das Zeugnis gut verstehen, von dem wir vorhin gehört haben: Ein junger Mann will selbst nicht mit Waffengewalt kämpfen. Und er sieht vieles kritisch, was ihm manche Parolen sagen oder die offizielle Propaganda, die im Land verbreitet wird. Aber er hält es für seine Pflicht, die ukrainische Armee wenigstens finanziell zu unterstützen. Ohne diese Armee hätten russische Soldaten das Land vollends besetzt und einen gerechten Frieden auf Dauer unmöglich gemacht.

Das sieht auch Artem Chapeye so – ein ukrainischer Pazifist, der Gandhis Buch zum gewaltfreien Widerstand (es heißt „Satyagraha“) ins Ukrainische übersetzt hat. Weil er nach Russlands Invasion feststellen musste, dass „gegen Putin Satyagraha nicht funktioniert“, deshalb meldete er sich noch im Februar 2022 als Soldat zur ukrainischen Armee. Er, der „Deserteur werden wollte, wenn ein Krieg kommt“, schreibt nun: „Wir dürfen nicht kapitulieren. Das würde den Vormarsch der Dunkelheit bedeuten … Wir wehren uns gegen die Einschränkung unserer Freiheit und kämpfen für ein gewöhnliches, unvollkommenes Leben, zu dem ich einfach nur zurückkehren möchte“.

 

Krieg führen – und trotzdem Mensch bleiben

Nun hat in der vorletzten Woche Julia Orlova, die Leiterin des Vivat-Verlages in der viel umkämpften ostukrainischen Universitätsstadt Charkiv, der „Süddeutschen Zeitung“-Journalistin Sonja Zekri in einem Interview von den Schwierigkeiten erzählt, eine Biografie des ukrainischen Generalstabchefs Waleri Saluschnij zu schreiben. Der Grund der Schwierigkeiten: er muss für die Ukraine Krieg führen, will aber Orlova zufolge trotzdem „ein Mensch bleiben“. Dem Einwand Zekris, das klinge nach Heldenklischee, begegnet Orlova mit dem Hinweis: „Wir alle in der Ukraine sind voller Angst, auch die Soldaten. Umso wichtiger ist es, dass derjenige, der über das Leben vieler anderer entscheidet, sie nicht als Verfügungsmasse betrachtet.“

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich möchte mit dem vorhin Gesagten nicht den Anschein erwecken, den Widerspruch zwischen militärischer Gegengewalt und Gewaltfreiheit aufheben zu können. Aber eine Haltung wie die des ukrainischen Generalstabchefs Saluschnij wünschte ich mir auch für Russlands Befehlshaber gegenüber deren Soldaten. Denn: sie nicht als Verfügungsmasse, sondern als Personen mit Eigenwillen zu respektieren, kann am Ende dazu helfen, das Militärische ganz zu überwinden.

Ähnlich sehe ich es im Bericht der Autorin Nataliya Gumenyuk. Er steht im Buch „Aus dem Nebel des Krieges“. Gumenyuk hat bei ihrem Vorhaben, Kriegsverbrechen der russischen Armee zu dokumentieren, unter anderen mit Tamara gesprochen, einer ukrainischen Überlebenden. Sie hat in den letzten Tagen der Besatzung von Jahidne im Norden der Ukraine einen Russen sich weinend darüber beklagen gehört, dass sein Bruder tags zuvor umgebracht worden sei. Da stellt Tamara ihn mutig zur Rede und fragt ihn, wer denn ihn und seinen Bruder hergebeten habe. „Sind wir etwa nach Russland gekommen und haben euch umgebracht?“ Und sie beantwortet ihre Frage selbst: „Nein, du bist hergekommen und hast alles verbrannt und zerstört. Ich bin jetzt obdachlos, mit siebzig (Jahren).“ Das sagt sie ihm und denkt dabei: „Soll er schießen.“ Ihr Bericht schließt kurz und knapp mit den Worten: „Aber er hat sich nur eine Zigarette angezündet und ist gegangen“.

Ich finde: Tamara hat den russischen Soldaten nicht nur als Krieger, sondern als Menschen ernstgenommen. Sie ist ihm ehrlich und couragiert begegnet, hat ihm eine Chance gegeben, sich in die Lage der Angegriffenen zu versetzen. Welches Fazit er für sich aus dieser Begegnung zieht, bleibt offen. Aber er hat jedenfalls nicht geschossen.

 

Gewaltfreiheit und Solidarität müssen gelernt werden

Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, wird es vielleicht wie mir gehen: es sind Kompromisse, die eingegangen werden müssen, wenn eine Gesellschaft nicht gründlich gelernt hat, gewaltfrei und miteinander solidarisch da zu widerstehen, wo Menschen- und Völkerrechte verletzt werden. Auch wir in Deutschland geben jetzt nach der sog. „Zeitenwende“ 100 Milliarden Euro mehr ausschließlich für militärische Rüstung aus, statt mindestens die Hälfte davon für die Einübung ziviler Verteidigung einzusetzen. Tamara hat – wie die Frauen vor den russischen Panzern – ein Beispiel für solch couragierte zivile Verteidigung gegeben. Wenn diese Beispiele nicht vereinzelt bleiben, sondern von allen Bürgern unterstützt und ergänzt werden, wird endlich militärische Eroberung unattraktiv, weil Menschen in eroberten Gebieten insgesamt nicht mit Gewaltherrschern kooperieren. Für einzelne allein aber ist ziviler Widerstand äußerst riskant.

Hier geht es um eine bessere Zukunft, an der auch Kateryna Iakovlenko gelegen ist. Sie hat in der wie Butscha zerstörten Stadt Irpin das Leid und die Verzweiflung der Menschen selbst miterlebt. Monate nach der Befreiung Irpins kommt ihr die Idee, zwischen den zerstörten Wänden ihrer Wohnung für einen Tag eine Ausstellung aufzubauen. Ausstellung und Wohnung erhalten den Namen „Phönix-Irpin“, weil sie einerseits Bilder von Zerstörungen und Traumata zeigen – die Asche, in der der Vogel Phönix sitzt –, andererseits Zeichen neuen Lebens von Mensch und Natur, in denen Phönix aufersteht. Viele Mitbürger und Künstler haben dazu beigetragen, sich schon jetzt „ein Leben vorstellen zu können, das aus der Asche entsteht“. Iakovlenko schreibt, dass zu der Ausstellung auch ein kleines goldenes Kreuz gehört, „mit dem ich als Kind getauft worden bin. Wie meine anderen Dinge wurde es verbrannt – von der (russisch-)orthodoxen Kirche, die die Diktatur der Gewalt unterstützt“.

So gibt es – nachzulesen im Buch „Aus dem Nebel des Krieges“ – inmitten der Zerstörung noch manch andere zaghafte Lebenszeichen und erste Schritte auf dem Weg des Friedens in der Ukraine.

 

Schritte auf dem Weg des Friedens

Drei kritische Anmerkungen möchte ich ihnen hinzufügen. Sie fallen aus der Distanz leicht, aber dem Mitleidenden schwer.

Die erste Anmerkung betrifft die Kriegsdienstverweigerung: Es heißt bei uns oft, dass in der Ukraine Europas Werte verteidigt werden. Sie verbinden alle Staaten der Europäischen Union miteinander. Dazu gehört, dass auch in einem angegriffenen Land jeder überzeugte Kriegsdienstverweigerer unbedingt anzuerkennen ist.

Das Zweite betrifft den Einsatz von Angriffswaffen: Obwohl es strategisch-militärisch mit Nachteilen verbunden sein kann, sollte die Ukraine Russland in deren Land nicht offensiv angreifen – denn dann würde sie dem Angreifer ähnlich.

Eine dritte Anmerkung betrifft die russische Sprache: Sie ist selbst für die Ukrainer*innen, die sie seit ihrer Kindheit gesprochen haben, durch die russischen Truppen tabu geworden, weil sie jetzt mit grausamen Erfahrungen verbunden ist. Es bleibt aber zu hoffen, dass auch die russische Sprache, in der Tolstoi z.B. überzeugend von gewaltfreiem Leben geschrieben hat, nach einem gerechten Friedensvertrag wie Phönix aus der Asche wieder lebendig wird.

Abschließend vier Sätze darüber, welche Schritte auf dem Weg des Friedens für Russland besonders wichtig sein könnten:
1. Wo Propagandalügen und Geschichtsfälschung die Wahrheit verstellen, ist deren Aufklärung ein erster Schritt zum Frieden.
2. Wenn es stimmt, dass Russland ein Land der (Ur-)Enkel entweder der Täter oder der Opfer von Verbrechen des Stalinregimes ist, kann Frieden nur wachsen, wenn Familien sich untereinander ihre Familiengeschichten zu erzählen beginnen und dabei Unrecht wahrgenommen und überwunden wird.
3. Damit wächst auch Courage: gut überlegt kleine Schritte in dem großen Feld des nötigen Ungehorsams zu gehen und – soweit die eigenen Kräfte es zulassen – Solidarität mit den Opfern im eigenen Land und dann auch in den bedrohten Ländern ringsum zu leben.
4. Daniil Granin, ein großer russischer Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, schrieb nach der Auflösung der Sowjetunion, Barmherzigkeit sei im 20. Jh. in Russland verloren gegangen und müsse wiederentdeckt werden – was uns am Ende unserer Überlegungen zurück an ihren Anfang führt. Denn das Lukasevangelium beginnt mit dem Wunsch danach, unsere Füße auf den Weg des Friedens zu lenken, und erzählt in seinem Zentrum vom barmherzigen Handeln eines Menschen, von dem man es nicht erwartet hätte.

Amen. Ja, so möge es sein!

 

Ulfrid Kleinert

 

Anmerkung

* Die Ansprache wurde am Sonntag, den 8. Oktober 2023, 17 Uhr in der Kreuzkirche Dresden gehalten.

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Ulfrid Kleinert, Jahrgang 1941, nach dem Studium der Theologie, (Sozial-)Pädagogik, Soziologie, Religionswissenschaft und Germanistik in Wuppertal, Mainz, Tübingen und Zürich Vikar an der Elisabethkirche in Marburg (1968/69) und Studienleiter beim Evang. Studienwerk Villigst (1969-1972), Prorektor (1972-1976) und Prof. für Diakoniewissenschaft (1972-1991) an der Evang. Hochschule in Hamburg, Gründungsrektor (1991-1994), Rektor (1995-2000) und Prof. für Diakoniewissenschaft (1991-2006) an der Evang. Hochschule Dresden, freier Mitarbeiter der Feuilletonredaktion der "Sächsischen Zeitung", der "Dresdner Neuesten Nachrichten", der "Frankfurter Rundschau" und der "Süddeutschen Zeitung" (seit 2006).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2023

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