Von Oktober 1962 bis Dezember 1965 wurde in Rom das Zweite Vatikanische Konzil abgehalten. Das Konzil verabschiedete auf seinen vier Sitzungsperioden insgesamt 16 Dokumente. Das erste Dokument, das am 4.12.1963 mit überwältigender Mehrheit von den Konzilsvätern angenommen wurde, trägt den Titel Sacrosanctum Concilium und befasst sich mit der Reform der Liturgie. Die Verabschiedung dieses Dokuments jährt sich 2023 zum 60. Mal. Zu diesem Anlass unternimmt Sascha Ebner eine kritische Würdigung seines Inhalts und seiner Wirkungsgeschichte aus reformatorischer Perspektive.
1. Forschungsfrage und Vorgehen
Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, inwieweit durch Sacrosanctum Concilium und die nachkonziliaren liturgischen Entwicklungen die Anliegen, die Martin Luther bezüglich der Gestaltung des Gottesdienstes vertreten hatte, in der katholischen Kirche aufgenommen wurden. Dabei beziehe ich mich insbesondere auf Luthers Schrift Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts aus dem Jahr 1526. Im Folgenden wird nach einer kurzen Hinführung zunächst diese Schrift analysiert; anschließend erfolgt eine Untersuchung von Sacrosanctum Concilium1 sowie der Vergleich dieser Konstitution mit den ermittelten Forderungen des Reformators. Zum Schluss werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und in einen größeren Zusammenhang gestellt.
2. Die Entstehung einer „lutherischen“ Liturgie in den 1520er Jahren
Der evangelische Kirchenhistoriker Martin Brecht betont: „Die Bewährungsprobe für Luthers reformatorisches Wollen bestand nicht zuletzt darin, ob es ihm gelang, angemessene kirchliche Ordnungen zu schaffen und durchzusetzen.“2 Nach Luthers Bruch mit dem Papst und den altgläubigen Bischöfen waren für die protestantischen Gemeinden und Gebiete im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation neue kirchliche Ordnungen notwendig geworden – auch in Bezug auf den Gottesdienst.3 1523 verfasste Luther die beiden Schriften Von der Ordnung des Gottesdiensts in der Gemeinde und Formula Missae et Communionis. In letzterer skizzierte der Reformator, wie er sich einen von römischen „Irrlehren“ bereinigten lateinischen Messgottesdienst vorstellt; seine Ideen wurden in den Wittenberger Gottesdiensten bald darauf umgesetzt.4 Im Herbst 1526 veröffentlichte Luther dann seinen Entwurf einer Deutschen Messe, die eine Liturgie in der Volkssprache vorsah. Diese deutschsprachige Konzeption verdrängte bald die lateinische Formula Missae. Nach einer kurzen Phase der Erprobung wurde die Deutsche Messe an Weihnachten 1526 in Wittenberg endgültig eingeführt.5 Insgesamt war Martin Luther im Hinblick auf die Liturgie ein eher behutsamer Reformator. Andere Theologen, die sich auf ihn und seine Ideen beriefen (z.B. Thomas Müntzer oder Andreas Karlstadt), waren in ihren Vorstellungen deutlich radikaler.6
3. Martin Luthers Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts
3.1 Einleitung und erste Impulse
Luthers Schrift Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts lässt sich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil (WA 19,72-79) ist eine Art Einleitung, in welcher der Reformator auf allgemeine Fragen und Herausforderungen eingeht, die sich im Zusammenhang mit dem christlichen Gottesdienst und dessen Reform ergeben. Im zweiten Teil der Schrift (WA 19,80-113) liefert Luther dann einen konkreten Entwurf zur Gestaltung des Gottesdienstes in deutscher Sprache.
In der Einleitung stellt Luther zunächst klar, dass die von ihm vorgeschlagene Gottesdienstordnung kein allgemeines Gesetz darstelle; sie könne in christlicher Freiheit gebraucht oder auch durch eine andere ersetzt werden.7 Luther ist der Ansicht, mündige Christenmenschen könnten und müssten selbst entscheiden, ob sie sich an seinem gottesdienstlichen Entwurf orientieren oder stattdessen ein eigenes Konzept entwickeln wollen; liturgische Einheitlichkeit unter den christlichen Gemeinden ist seiner Auffassung nach nur bei einigen grundlegenden Elementen (wie z.B. dem Vaterunser) vonnöten.8
Anschließend führt der Reformator aus, dass es seiner Ansicht nach drei verschiedene Gottesdienstformen gibt. Erstens nennt er den Gottesdienst in der lateinischen Form; die Gottesdienste in lateinischer Sprache sollen nach Luther also keineswegs abgeschafft, sondern nur reformiert werden. Zweitens muss es auch die Deutsche Messe geben. Deren konkrete Ausgestaltung nimmt den Hauptteil der hier untersuchten Schrift ein. Die erste einschneidende Veränderung, welche die Liturgie auf der Basis der Deutschen Messe erfahren soll, besteht also darin, dass man sie in der Landessprache feiert. Und drittens schwebt Luther eine Art Bibel- oder Hauskreis vor – für diejenigen, die es mit dem christlichen Glauben wirklich ernst meinen.9
3.2 Weitere Reformanliegen
Der zweite Teil der Schrift Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts, der eigentliche Hauptteil, trägt die Überschrift Von dem Gottesdienst. Des Sonntags für die Laien.10 In diesem Teil geht es um die Deutsche Messe im engeren Sinne.
Auf die Frage, was im Gottesdienst am wichtigsten sei, gibt Luther eine eindeutige Antwort: Im Zentrum stehen die Lesungen aus der Heiligen Schrift und die darauf basierende Predigt. Bezüglich seiner Beweggründe, eine deutsche Gottesdienstordnung zu entwerfen, schreibt er: „Am meisten aber geschieht’s um der Einfältigen und des jungen Volks willen, welches täglich in der Schrift und Gottes Wort geübt und erzogen werden soll und muss […].“11 „Wort Gottes“ bezeichnet dabei – anders als „Schrift“ – nicht das geschriebene Wort der Bibel, sondern das mündliche Wort der Predigt.12
Darüber hinaus wendet sich Luther der Praxis des Abendmahls zu. Er schreibt: „Es dünkt mich aber, dass es dem Abendmahl gemäß sei, so man flugs auf die Konsekration des Brotes das Sakrament reiche und gebe, ehe man den Kelch segnet. […] Danach segne man den Kelch und gebe denselbigen auch […].“13 Zwar äußert sich der Reformator zu der Frage, ob die Kelchkommunion für die Gemeinde nur wünschenswert oder unbedingt notwendig sei, in seinen Werken widersprüchlich. Allerdings hält er die Verwendung des Laienkelchs durchweg für stimmig und sinnvoll.14 Das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gehört zu den zentralen lutherischen Forderungen.
Weiterhin fällt auf, dass Luther eine aktive Teilnahme aller Gottesdienstbesucher*innen erwartet. Das betrifft bei ihm v.a. den Gesang: Die Gemeinde soll deutschsprachige Choräle sowie das ins Deutsche übersetzte Glaubensbekenntnis singen.15 Im katholischen Gottesdienst des 15. und 16. Jh. war Gemeindegesang nicht üblich. Auch die tridentinische Liturgie, die später als Reaktion auf die reformatorischen Forderungen entwickelt wurde, sah keine singende Gemeinde vor.
Grundsätzlich wünscht sich Luther von den Priestern eine Zelebration in Richtung der Gemeinde. In einzelnen Fällen, wie beispielsweise beim Kollektengebet, soll sich der Liturg zwar durchaus zum Altar wenden. Aber beim Verlesen der biblischen Texte, bei der Predigt sowie bei der Konsekration und den übrigen Bestandteilen der Abendmahlsfeier hält Luther die Veränderung der Zelebrationsrichtung „versus populum“ für angebracht.16 Der Reformator erachtet diesen Gesichtspunkt allerdings nicht für zentral und eilig. Er schreibt: „[I]n der rechten Messe unter eitel Christen […] müsste der Priester sich immer zum Volk wenden, wie das ohne Zweifel Christus im Abendmahl getan hat. Nun, das warte auf seine Zeit.“17
Darüber hinaus fällt auf, dass Luther eine Paraphrase des Vaterunsers sowie eine Vermahnung vor dem Abendmahl fordert. Beides dient der Katechese. Elementare Glaubensunterweisung ist für den Reformator eine zentrale Aufgabe des Gottesdienstes. Er schreibt: „Es ist aufs erste im deutschen Gottesdienst ein deutlicher, schlichter, einfältiger, guter Katechismus vonnöten.“18 Dieser Katechismus hat unbedingt die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser zu umfassen.19 Nach Luther sollen alle Christinnen und Christen die Grundlagen der Liturgie und die wichtigsten christlichen Glaubenslehren kennen und verstehen.
3.3 Zusammenfassung
An dieser Stelle sei noch einmal zusammengefasst, welche Reformen Martin Luther gemäß seiner Schrift Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts fordert:
Im ersten Teil des Werks werden zwei Aspekte genannt:
1. Gottesdienstordnungen dürfen nicht in einer bestimmten Form als allgemeinverbindlich festgeschrieben werden. Vielmehr hat jede einzelne Kirchengemeinde die Freiheit, über ihre Gottesdienstordnung selbst zu entscheiden.
2. Die Messe in lateinischer Form soll nicht abgeschafft werden. Sie ist allerdings durch das Angebot von Gottesdiensten in der jeweiligen Landessprache zu ergänzen.
Im zweiten Teil der Schrift kommen fünf weitere Impulse hinzu:
3. Die Lesungen aus der Heiligen Schrift und die darauf aufbauende Predigt sind für den christlichen Gottesdienst unabdingbar; sie bilden dessen Zentrum.
4. Alle Christenmenschen, die am Gottesdienst teilnehmen und angemessen disponiert sind, sollen bei der Abendmahlsfeier die Möglichkeit haben, sowohl die Hostie als auch den Kelch zu empfangen.
5. Die gesamte Gemeinde soll sich aktiv am Gottesdienst beteiligen, insbesondere durch das Singen volkssprachlicher Lieder.
6. Der Priester soll nach Möglichkeit mit dem Gesicht zur Gemeinde zelebrieren.
7. Der christliche Gottesdienst hat auch der Glaubensunterweisung der Teilnehmenden zu dienen.
4. Die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium
4.1 Sacrosanctum Concilium im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils
Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Forderungen der Reformatoren hatte bereits das Konzil von Trient (1545-1563) eine Liturgiereform angestrebt. Letztendlich war deren Ausgestaltung von den tridentinischen Konzilsvätern aber dem Papst überlassen worden. Im Missale Romanum von Papst Pius V. aus dem Jahr 1570 fand sie ihren Niederschlag.20 Genau 400 Jahre nach der Schlusssitzung des Konzils von Trient wurde im Vatikan Sacrosanctum Concilium (abgekürzt SC) verabschiedet. Seit der letzten umfassenden Liturgiereform in der katholischen Kirche waren etwa vier Jahrhunderte vergangen; der Reformbedarf war dementsprechend groß.21 Die Konstitution Sacrosanctum Concilium wurde als erstes der insgesamt 16 Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils verabschiedet und vom Papst promulgiert. Durch diesen Text wurde das Fundament für die weitere Entwicklung des Konzils gelegt.22
4.2 Sacrosanctum Concilium und die Reformanliegen Martin Luthers
Liturgische Freiheit?
Artikel 22 konstatiert: „Die Regelung der heiligen Liturgie hängt einzig von der Autorität der Kirche ab; und zwar liegt diese beim Apostolischen Stuhl und nach Maßgabe des Rechtes beim Bischof.“23 Alleine der Papst (oder in Einzelfällen der zuständige Bischof) hat demnach über die Form der Liturgie zu entscheiden; niemand darf auf eigenen Entschluss hin an der vorgegebenen Liturgie irgendwelche Änderungen vornehmen.24 Lediglich an einem einzigen Punkt bekennt sich SC zu einer gewissen liturgischen Vielfalt, nämlich im Hinblick auf kulturell bedingte Traditionen.25 Allerdings hat auch in solchen Fällen stets der Papst zu entscheiden.26
Gottesdienst in der Landessprache?
Artikel 36 widmet sich dem Gebrauch des Lateinischen und der jeweiligen Landessprache in der Liturgie. Im ersten Paragraphen heißt es zunächst: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll, soweit nicht Sonderrecht entgegensteht, in den lateinischen Riten erhalten bleiben.“27 Direkt im folgenden Paragraphen heißt es allerdings, es solle gestattet sein, der Muttersprache „[…] einen weiteren Raum zuzubilligen, vor allem […] in den Lesungen und Hinweisen und in einigen Orationen und Gesängen […].“28 Die Muttersprache der Gläubigen soll allerdings das Lateinische nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen.29
Somit kann man sagen, dass SC eine erstaunliche Nähe zur Position Martin Luthers aufweist. Auch die Folgen des Vorstoßes ähneln sich: In evangelisch-lutherischen Gemeinden etablierte sich fast ausschließlich der Gottesdienst in der Landessprache; ebenso verschwand in der römisch-katholischen Kirche nach dem Zweiten Vaticanum das Lateinische in vielen Ländern nahezu vollständig.
Zentrale Bedeutung von Bibel und Predigt?
SC konstatiert in Artikel 24: „Von sehr großem Gewicht [maximum momentum] in der Feier der Liturgie ist die Heilige Schrift.“30 Und in Artikel 56 heißt es: „Die beiden Teile, aus denen die Messe gewissermaßen besteht, nämlich Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, sind so eng miteinander verbunden, dass sie einen einzigen Kultakt ausmachen.“31 SC scheint in der Messe demnach eine Gleichrangigkeit der Wortverkündigung mit der Eucharistie anzustreben. Dies stellt eine neue Akzentsetzung dar, denn in der tridentinischen Liturgie galt die Eucharistie stets als das eigentlich Wesentliche der Messe; die Schriftlesungen (und ggf. die Predigt) dienten eher der Vorbereitung auf das eucharistische Mysterium.32 In Bezug auf die Predigt heißt es im Dokument allerdings auch: „Da die Predigt ein Teil der liturgischen Handlung ist, soll ihr auch, soweit es der Ritus zulässt, in den Rubriken ein passender Ort zugewiesen werden; und der Dienst der Predigt soll getreulich und in rechter Weise erfüllt werden.“33 Auffällig ist hier, dass die Predigt als „Teil der liturgischen Handlung“ gesehen wird. Einerseits kann diese Formulierung als wertschätzend verstanden werden; andererseits hat sich die Predigt dieser Aussage nach im Zweifel dem Gesamtritus unterzuordnen.
Zusammenfassend kann man sagen: SC stärkt gegenüber der früheren Liturgie die Bedeutung der Heiligen Schrift; die Predigt erfährt allerdings keine über die Beschlüsse des Tridentinums hinausgehende Aufwertung.
Abendmahl/Eucharistie unter beiderlei Gestalt?
Zum vierten Punkt, der Forderung nach dem Empfang des Abendmahls unter beiderlei Gestalt für alle Gläubigen, äußert sich SC in Artikel 55: „Unbeschadet der durch das Konzil von Trient festgelegten dogmatischen Prinzipien kann in Fällen, die vom Apostolischen Stuhl zu umschreiben sind, nach Ermessen der Bischöfe sowohl Klerikern und Ordensleuten wie auch Laien die Kommunion unter beiden Gestalten gewährt werden […].“34 Gemäß der dogmatischen Entscheidung des Konzils von Trient ist der Empfang der Eucharistie unter beiderlei Gestalt nicht heilsnotwendig, da bereits unter der Gestalt des Brotes der ganze und unversehrte Christus empfangen wird.35 Artikel 55 von SC besagt nun allerdings, dass in bestimmten Fällen trotzdem für die Gläubigen die Möglichkeit geschaffen werden solle, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu empfangen.
Das reformatorische Anliegen, wenn möglich auch den Laienkelch zu reichen, wird also in SC durchaus positiv aufgegriffen – allerdings nur in eingeschränkter Form. Der Papst und der jeweilige Ortsbischof behalten sich vor, in einzelnen Fällen die Kelchkommunion zu gestatten. Aber die bestehende („unreformatorische“) Praxis, i.d.R. auf den Laienkelch zu verzichten, wird im Grunde bestätigt.
Aktive Teilnahme aller Gläubigen?
Artikel 14 hält einleitend fest: „Die Mutter Kirche wünscht sehr, dass alle Gläubigen zu jener vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, die vom Wesen der Liturgie selbst erfordert wird und zu der das christliche Volk […] Kraft der Taufe das Recht und die Pflicht hat.“36 Weiter heißt es: „Diese volle und tätige Teilnahme [actuosa participatio] des ganzen Volkes ist bei der Erneuerung und Förderung der heiligen Liturgie aufs stärkste zu beachten […].“37 Neben dem Gemeindegesang werden später als Aufgaben, die Laien übernehmen können, z.B. die liturgischen Dienste der Ministranten und der Lektoren genannt.38
Es lässt sich konstatieren, dass das Zweite Vatikanische Konzil Luthers Forderung nach einer aktiven Teilnahme aller Gottesdienstbesucher*innen eindeutig positiv aufnimmt.
Zelebration zur Gemeinde hin?
Im lateinischen Ritus der tridentinischen Messe zelebriert der Priester grundsätzlich mit dem Rücken zur Gemeinde und blickt in Richtung Altar. Wer allerding heutzutage in Deutschland einen katholischen Gottesdienst besucht, der erkennt, dass der katholische Liturg i.d.R. Luthers Ansinnen nachkommt und zur Gemeinde hin zelebriert. Landläufig wird oftmals vermutet, dass es sich hierbei um eine Neuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils handelt. Es ist aber festzuhalten: Die Frage, ob der Liturg die Messe in Richtung Gemeinde zelebrieren oder sich zum Altar wenden solle, wird in SC überhaupt nicht thematisiert.
Ironischerweise hat sich die katholische Kirche hier gerade dadurch der Position Luthers angenähert, dass sie diesen Gesichtspunkt – wie auch der Reformator – für unwichtig gehalten und ihn deshalb im Konzil gar nicht behandelt hat. Die nachkonziliaren Entwicklungen führten dann zu einer fast flächendeckenden Einführung der Volksaltäre, an denen der Priester dem Volk zugewandt steht.39
Katechetische Aufgabe des Gottesdienstes?
In Artikel 21 heißt es: „Und zwar sollen bei dieser Erneuerung [der Liturgie] Texte und Riten so geordnet werden, dass sie das Heilige, das sie bezeichnen, klarer ausdrücken, und dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und an ihnen in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Feier teilnehmen kann.“40 Die Neugestaltung und Neuordnung bestimmter liturgischer Elemente ist demnach kein Selbstzweck. Vielmehr soll den Gläubigen, die an der Messe teilnehmen, besser verständlich gemacht werden, was im Gottesdienst eigentlich passiert. Die Gemeinde soll die liturgischen Vollzüge unbedingt nachvollziehen können und für die Begegnung mit dem Heiligen besser gerüstet sein.41
Das Zweite Vaticanum erklärt also die Katechese zu einer zentralen Aufgabe der Liturgie und liegt damit auf einer Linie mit Martin Luther.
4.3 Die katholische Rezeption reformatorischer Anliegen – tabellarische Übersicht
5. Schluss
Die meisten Forderungen aus Martin Luthers Deutscher Messe wurden durch Sacrosanctum Concilium und die nachkonziliaren Entwicklungen in der katholischen Kirche tatsächlich umgesetzt. Aus meiner Sicht bestehen im Hinblick auf die Liturgie weiterhin drei grundlegende Unterschiede, die nicht ohne weiteres verdrängt werden können.
Erstens ist hier die liturgische Freiheit zu nennen. Unüberbrückbar ist – zumindest in der Theorie – der Graben zwischen Luthers Vorstellung von der gottesdienstlichen Gestaltungsfreiheit der einzelnen Gemeinde und der katholischen Auffassung, die Ausformung der Messe unterliege den Entscheidungen des Papstes. In der Praxis sind sich Lutheraner und Katholiken an diesem Punkt aber wohl näher, als es zunächst den Anschein haben mag. Denn auch die Gottesdienste evangelisch-lutherischer Gemeinden werden in ihren Grundzügen i.d.R. von einer übergemeindlichen Stelle geordnet.
Eine weitere bleibende Differenz besteht beim Abendmahl. Für Lutheraner ist und bleibt eine Abendmahlsfeier, in der dem Kirchenvolk das Blut Christi ohne schwerwiegenden Grund vorenthalten wird, nicht akzeptabel. Falls in Ausnahmefällen, wie sie beispielsweise während der Corona-Pandemie immer aufgetreten sind, nur die Hostie gereicht wird, verzichtet i.d.R. auch der Liturg auf den Kelch.
Drittens bleibt die Bedeutung und Stellung der Predigt im Gottesdienst verschieden. In Bezug auf die großzügige Verwendung der Heiligen Schrift ist man sich seit dem Zweiten Vaticanum weitgehend einig. Bei der Predigt gehen die Auffassungen aber weiterhin auseinander. Ein Gottesdienst ohne Predigt ist in der evangelischen Kirche weithin undenkbar; die Predigt gilt dort als Zentrum des gottesdienstlichen Geschehens. In der katholischen Kirche hingegen ist die Predigt der Feier der Eucharistie weiterhin untergeordnet und kann z.B. an Werktagsmessen sogar fehlen.
Es gibt zwischen katholischer und evangelischer Seite natürlich noch weitere strittige Punkte, die aber in der Deutschen Messe und in Sacrosanctum Concilium gar nicht oder zumindest nur am Rande thematisiert werden. Hier ist z.B. an die katholische Lehre vom „Messopfers“ zu denken, die von den Reformatoren immer wieder abgelehnt, von der katholische Seite aber bis zum heutigen Tag nicht aufgegeben (wenn auch teilweise uminterpretiert) wurde.42 Es würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen, auf diesen und weitere potenziell strittige Aspekte weiter einzugehen.
Insgesamt ist jedoch festzuhalten: Im Zuge des Zweiten Vaticanums hat sich die katholische Kirche in ihrer Liturgie – buchstäblich und im übertragenen Sinne – den Menschen zugewandt. Der Katholizismus hat sich in seinen gottesdienstlichen Vollzügen den reformatorischen Kirchen stark angenähert. Dies ist aus evangelisch-lutherischer Perspektive positiv zu würdigen. In diesem Sinne betont der evangelische Theologe Ulrich Kühn: „Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums hat einen ganz mutigen Schritt getan und viele Durchbrüche markiert.“43 Umgekehrt war in den Jahrzehnten vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils auch unter vielen Lutheranern ein großes Interesse an gottesdienstlicher Erneuerung entstanden. In Teilen der evangelischen Kirche zeigte sich damals eine Offenheit in Bezug auf liturgische Praktiken, die als traditionell katholisch galten.44 So kam es im 20. Jh. auf beiden Seiten zu einer Annäherung an die Ideen und die Praxis des ökumenischen Gegenübers. In einer evangelisch-katholischen Veröffentlichung zu Gottesdienst und Predigt aus dem Jahr 2014 heißt es: „Bisweilen wird […] festgestellt, dass trotz der weiter bestehenden Trennung der beiden großen Kirchen der evangelische Gottesdienst katholischer und der katholische evangelischer werde.“45
Literaturverzeichnis
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Faggioli, Massimo: Sacrosanctum Concilium. Schlüssel zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Freiburg 2015
Gerhards, Albert: Liturgischer Raum und Gebetsrichtung. In: WAHLE, Stephan et al. (Hrsg): Römische Liturgie in Neuzeit und Moderne. Freiburg 2013
Heiler, Friedrich: Evangelisches Hochkirchentum. In: HEILER, Friedrich: Evangelische Katholizität. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Bd. 1. München 1926
Hünermann, Peter (Hrsg.): Heinrich Denzinger. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. 41. Aufl. Freiburg 1997
Kalb, Friedrich: Grundriss der Liturgik. 2. Aufl. München 1982
Kühn, Ulrich: Ökumenische Aspekte der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums. In: STUFLESSER, Martin (Hrsg.): Sacrosanctum Concilium. Eine Relecture der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Regensburg 2011
Luther, Martin: Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts. Wittenberg 1526. In: ALAND, Kurt (Hrsg.): Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Bd. 6. Berlin 1952
Pesch, Otto Hermann: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte. Würzburg 2001
Richter, Klemens: Die Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium. In BISCHOF, Franz Xaver/LEIMGRUBER, Stephan (Hrsg.): Vierzig Jahre II. Vatikanum. Zur Wirkungsgeschichte der Konzilstexte. 2. Aufl. Würzburg 2005
Scheele, Paul-Werner: Ökumenische Impulse der Liturgiekonstitution. In: STUFLESSER, Martin (Hrsg.): Sacrosanctum Concilium. Eine Relecture der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Regensburg 2011
Anmerkungen
1 Vgl. Richter: Die Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, 29.
2 Brecht: Martin Luther, Bd. 2, 246.
3 Vgl. Brecht, a.a.O., 246.
4 Vgl. Brecht, a.a.O., 246.
5 Vgl. Brecht, a.a.O., 249.
6 Vgl. Kalb: Grundriss der Liturgik, 32.
7 Vgl. WA 19,72.
8 So mit Brecht, a.a.O., 247.
9 Vgl. WA 19,73ff.
10 Vgl. WA 19,80.
11 WA 19,73.
12 Vgl. Althaus: Die Theologie Martin Luthers, 71.
13 WA 19,99.
14 So mit Scheele: Ökumenische Impulse der Liturgiekonstitution, 63.
15 Vgl. WA 19,80ff.
16 Vgl. WA 19,80ff.
17 WA 19,80.
18 WA 19,76.
19 Vgl. WA 19,76.
20 Vgl. Richter: Die Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, 34.
21 Vgl. Faggioli: Sacrosanctum Concilium, 33.
22 Vgl. Faggioli: Sacrosanctum Concilium, 103.
23 SC 22.
24 Vgl. SC 22.
25 Vgl. SC 38.
26 Vgl. SC 40.
27 SC 36.
28 SC 36.
29 Vgl. SC 36.
30 SC 24.
31 SC 56.
32 Vgl. Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil, 108ff.
33 SC 35.
34 SC 55.
35 Vgl. Dekret über das Sakrament der Eucharistie (Trient), Kan. 1-3.
36 SC 14.
37 SC 14.
38 Vgl. SC 29.
39 Vgl. Gerhards: Liturgischer Raum und Gebetsrichtung, 221.
40 SC 21.
41 Vgl. SC 34.
42 So mit Kühn: Ökumenische Aspekte der Liturgiekonstitution, 68ff.
43 Kühn: Ökumenische Aspekte der Liturgiekonstitution, 73.
44 Vgl. z.B. Heiler: Evangelisches Hochkirchentum, 198.
45 Deeg et al.: Gottesdienst und Predigt (Vorwort), 5.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2023