Der als erster Gewalt übte

Am Anfang der Bibel wird von Nimrod erzählt (1. Mos. 10,8). Er war ein Jäger, Städtebauer und Reichsgründer, also wohl ein Gewaltherrscher. Die Notiz vermittelt die Überzeugung, dass Gewaltherrschaft irgendwann in der Menschheit angefangen und sich dann fortgesetzt hat, aber von Israel kritisch gesehen wird.

Es gibt in der Bibel viele gewalttätige Erzählungen: über die Vernichtung von Mensch und Tier in der Sintflut, viele Regeln über Todesurteile sowie Berichte von Gewalttaten und Kriegen. Für mich ist die Bibel kein heiliges Buch, sondern ein Dokument über das Leben des jüdischen Volkes in Nähe und Distanz zu seinem Gott. Weil er selbstverständlich auch der Gott Jesu und seiner Umgebung war, wurde er dann ebenfalls der Gott der späteren christlichen Gemeinschaft.

Ein erschütterndes Beispiel von religiöser Gewalt ist für mich die Erzählung von Samuel und Agag (1. Sam. 15). Samuel haut den gefangenen feindlichen König in Stücke, weil er das für Gottes Willen hält. Es hat mich tief berührt, wie Martin Buber in einem Gespräch über diese Szene zu der Einsicht kommt: Samuel hat Gott missverstanden (M. Buber, Begegnung, Heidelberg 1986, 71ff). Das überzeugt mich. Gewalt gegen Menschen und Tiere erscheint mir grundsätzlich als Missverständnis.

Oft wird in der Bibel zu Israel gesagt, du musst und kannst „das Böse aus deiner Mitte wegtun“ (z.B. 5. Mos. 21,21). Das geschah meist durch Steinigung, also die gemeinsam vollstreckte Todesstrafe, die als Beseitigung des Bösen und als Warnung an die Überlebenden gedacht war. Ich verstehe, dass bis heute viele Menschen das einleuchtend finden. Sie glauben, das wäre eine sinnvolle Problemlösung. Aber ich denke, was Einzelne tun, kommt immer auch aus ihrer Umgebung. Sogar die Verurteilenden tragen auf ihre Weise dazu bei. Das zeigt sich auf frappierende Weise an der Reaktion Jesu auf die geforderte Steinigung einer Frau. Seine Antwort an die Ankläger: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Daraufhin gehen alle weg.

Wenn ich heute „Nazis raus!“ an einer Hauswand lese, dann denke ich: Vor 80 Jahren stand da „Juden raus!“ Beides lebt aus derselben gewalttätigen Haltung, die eigene Probleme erledigen will, indem sie „die anderen“ erledigt.

 

Gegenbotschaften von Gewaltlosigkeit

Es gibt aber auch Gegenbotschaften von Gewaltlosigkeit in der Bibel. Nach der Sintflut verspricht Gott sich selbst und der Erde, dass er nie wieder das Leben vernichten wird (1. Mos. 8,21). Josef verzichtet auf die Bestrafung seiner Brüder (1. Mos. 50,20). David schont Saul, der ihn verfolgt hat (1. Sam. 24,7). Der Prophet Elisa lässt ein Gastmahl für die hungrigen und durstigen Feinde veranstalten, und die stellen daraufhin ihre Überfälle ein (2. Kö. 6,8-23). Diese erstaunliche Erfahrung ist dann eingegangen in die Spruchweisheit (Spr. 25,21f), sie findet sich auch als „Liebe für die Feinde“ bei Jesus und Paulus (Mt. 5,43-45; Röm. 12,20). Der Prophet Micha entwickelt die bis in die Gegenwart wirkende Vision, dass die Völker nach Jerusalem pilgern werden, um sich Weisung zu holen, und daraufhin ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden (Mi. 4,3).

Unter der römischen Besatzung Judäas hatte sich eine militärische Widerstandsbewegung gegründet, die Zeloten. Sie wollten durch Angriffe das Ende der Besatzung herbeiführen. Jesus hat sich von jeder Gewalt klar distanziert („So ist es bei euch nicht“, Mk. 10,43). Er wurde aber trotzdem gewalttätig umgebracht. Die Zeloten begannen 30 Jahre später einen Krieg gegen das Imperium. Das Ergebnis war die weitgehende Ausrottung der jüdischen Bevölkerung und das Ende des jüdischen Staates für 1900 Jahre.

 

Gewaltgeschichte des Christentums

Seit die Kirche sich unter Kaiser Konstantin mit dem Imperium verbündet hat, also vor 1700 Jahren, hat sie Gewalt gegen Andersgläubige, aber auch Kriege gebilligt und dazu aufgerufen. Die Missionierungen Karls des Großen waren zugleich Kriegszüge. Die späteren Kreuzzüge sind als Gräueltaten in der arabischen Welt auch nach 1000 Jahren unvergessen und haben ihre Folgen. Auch die Reformatoren traten für die Hinrichtung andersgläubiger Christen ein. Die Folter wurde maßgeblich von der Kirche entwickelt, um Bekenntnisse zu erzwingen. Es ist für mich erschütternd, was sich an Überheblichkeit und Menschenverachtung in einer Bewegung versammelt hat, die vorgibt, dem gewaltfreien Jesus zu folgen: Kriege, Sklaverei, Kolonialismus, bis heute fortgesetzt z.B. mit Unterstützung von Rüstung und Militär und mit hartnäckig vertuschten Missbrauchsverbrechen.

Zur jüdischen und christlichen Gemeinschaft gehört bisher auch, dass Tiere in Gefangenschaft gehalten, getötet und gegessen werden und dass die Erde ausgebeutet wird zum Nutzen der Menschen: ein Gewaltverhältnis mit imperialistischer Grundhaltung. Die erste Schöpfungserzählung weist zwar den Menschen die Pflanzen als Nahrung zu (anders 1. Mos. 9,3). Aber sie haben anscheinend lieber den Auftrag übernommen, sich die Erde untertan zu machen und über die Tiere zu herrschen (1. Mos. 1,28f; 9,2).

Auf diesem Weg sind wir als Menschheit dahin gekommen, dass wir unseren gemeinsamen Lebensraum gravierend beschädigen. Dadurch wird er für viele Pflanzen, Tiere und Menschen zu einem Todesraum. Es gibt Menschen, die das verhindern wollen, aber die Mehrheit möchte bisher lieber so weitermachen als ihre Lebensweise gravierend zu verändern.

 

Herausgeführt aus dem Sklavenhaus

Das ist Israels Urerfahrung: Befreit sein von der Sklavenarbeit unter der Gewaltherrschaft, aufbrechen, gerettet vor den Verfolgern, sich einem unbekannten Weg in der Wüste anvertrauen, sehr karg leben, aber überleben, neue Lebensregeln bekommen für ein egalitäres gemeinsames Leben in einem neuen Land – das hat das Volk mit Mose und seinem Gott erlebt. Dem Gott mit einem geheimnisvollen und ermutigenden Namen „Ich bin da“. Diese Erfahrung hat es sich aufbewahrt in seinen Ursprungsgeschichten. Damit und davon lebt es bis heute.

Es gab immer wieder Fürsprecher und Fürsprecherinnen für diese Ursprungserfahrung. Samuel warnt das Volk, als es einen König will: Er wird eure Ernten, Äcker und Frauen nehmen, er wird euch für sich arbeiten und Krieg führen lassen. Sie wollen aber trotzdem (1. Sam. 8). Nathan stellt den König David zur Rede, weil der sich aufgrund seiner Macht Ehebruch und Mord erlaubt hat (2. Sam. 12). Das war eine wichtige Rolle der Propheten: Sie haben die Geschichte des Volkes und seiner Könige mit Kritik begleitet.

Auf dieser Spur ist auch Maria, wenn sie nach der Ankündigung von Jesu Geburt Gott lobt: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ (Lk. 1,52). Und Lk. sieht dann Jesus selbst in der Nachfolge der Propheten, wenn der in seiner Antrittsrede eine Freudenbotschaft für die Armen und Freiheit für die Gefangenen und Geknechteten ansagt (Lk. 4,18). Das verwirklicht er in seinen Heilungen und Weisungen für ein anderes Leben. Auch die Botschaft von der Auferweckung Jesu widerspricht der Macht von Unterdrückung und Tod, speziell dem Tod, mit dem das Imperium regiert.

 

Eine neue Freiheit

Paulus kämpft besonders im Brief an die Gemeinden in Galatien für die Freiheit, die im Raum um Jesus zu atmen ist. Hier gelten die gewohnten Abgrenzungen und Rangordnungen nicht mehr: nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn ihr alle seid eins (Gal. 3,28).

Die Freiheit von Unterordnung wurde weder bei Paulus noch in der späteren Kirche durchgehend verwirklicht. Diesen Geist atmet aber die Menschenrechtserklärung von 1948, die für alle Menschen gilt.

Die Befreiungsbewegung gegen die Sklaverei hat sich unter anderem auf die Tradition vom Auszug aus Ägypten gestützt und daraus Mut und Kraft gewonnen: „Let my people go!“ Ich finde es beschämend, dass überall auf der Welt um Gleichberechtigung und Gleichachtung bis heute gekämpft werden muss. Es gibt in der Kirche und anderswo vielerlei soziale Arbeit für Arme und Leidende, Verachtete, Unterdrückte und Geflüchtete. Das beglückt mich. Ein Aber sage ich mit Worten von Bertolt Brecht:

Die Nachtlager

Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.

Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.

Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch
Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich ­dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht ­verkürzt.

 

In den Himmel kommen

In meiner Kinderzeit gab es das Kindergebet: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.“ Ich vermute und hoffe, das gibt es heute nicht mehr. Es setzt voraus, dass wir jetzt und hier Gott wohlgefällig leben sollen, damit wir dann und dort an einen jenseitigen Ort namens „Himmel“ kommen, wo es uns gut gehen wird. Diese Vorstellung wird genährt durch Stellen in der Bibel (z.B. Mt. 7,21) und im Gesangbuch (z.B. EG 482,6) und ist darum vermutlich bis heute in kirchlichen Kreisen populär. Die Vorstellung beruht wesentlich darauf, dass Mt. als einziger das Wort „Himmelreich“ verwendet als Ersatz für das sonst gebrauchte „Gottesreich“. Es meint „das Reich der Himmel“, wobei „die Himmel“ eine Umschreibung für Gott sind.

Das Gottesreich ist anscheinend bei Jesus etwas, was um ihn herum entsteht und wächst, das heilsame Kraftfeld Gottes, in dem nach seinen Regeln gelebt wird (z.B. Mk. 4,30-32; Lk. 10,18; 11,20; 17,21). Dafür gibt Jesus sein ganzes Engagement, sein Leben. Ins Gottesreich zu kommen bedeutet, sich der Bewegung Jesu anzuschließen. Dazu ist es nötig, das bisherige Leben weitgehend hinter sich zu lassen.

Jesus und seine Generation ist gestorben, ohne das Gottesreich über die Erde auszubreiten. Darum erwartete man dessen Vollendung in der Zukunft – oder gar nicht mehr auf der Erde, sondern „im Himmel“. Solche Gedanken legten die Texte dann auch Jesus in den Mund.

Die Erfahrung vom „Gottesreich jetzt“ kann in uns sein als Kraftfeld der Liebe, dem wir uns persönlich öffnen, und zwischen uns als Gemeinschaft, die von den Impulsen der Liebe geprägt ist. Ich bin überzeugt, es ging Jesus um die heilsame Veränderung unseres gemeinsamen Lebens auf der Erde. Auch nach dem Ende des persönlichen Lebens behält es eine bleibende Erinnerung und Nachwirkung für die Gemeinschaft.

 

Der Glaube rettet

Am Schluss einer Heilung sagt Jesus öfter zu dem geheilten Menschen: Dein Glaube hat dich gerettet (z.B. Mk. 10,52). Damit weist er von sich weg. Er ist kein Wundertäter. Die Kraft der Heilung liegt nach seiner Überzeugung im Vertrauen des kranken Menschen auf Gott. Im Kraftfeld seiner Liebe wird Heilung möglich. Darum geschehen auch in der Heimatstadt Nazareth kaum Heilungen. Man kennt ihn von früher und misstraut ihm (Mk. 6,5). Wie kommt ein Bauhandwerker dazu, Menschen zu heilen? Er wurde anscheinend mit seinen Worten und Heilungen auf der Spur der Propheten gesehen (Mk. 6,15). Dabei liegt es nah, dass er zuerst Erfahrungen machte mit Berührt-Werden. Mk. erzählt die erstaunliche Episode von einer kranken Frau, die sich vornimmt, ihn zu berühren, es dann tut, sofort bei sich die Heilung spürt, die auch Jesus spürt und die er mit Fragen zu verstehen sucht (Mk. 5,28-30) – so als möchte er den Vorgang nachträglich begreifen. An anderen Stellen wird erzählt, dass viele ihn berühren wollen (z.B. Mk. 6,56). Vielfach berührt er auch von sich aus kranke Menschen (z.B. Mk. 1,31; 5,41; 8,23).

Ein anderer Zugang zur Heilung ist eine Anrede, oft ein Befehl, gerichtet an den kranken Menschen: „Steh auf!“, oder an die Krankheit: „Fahr aus!“ (z.B. Mk. 5,41; 9,25; Lk. 7,14). Jesus spricht ein Machtwort, manchmal, nachdem er den Wunsch erfragt hat (Mk. 10,51).

In Mk. 5,19b und 20a ist ein deutlicher Unterschied zu erkennen zwischen der Überzeugung Jesu und der des Geheilten: Jesus sieht, was Gott getan hat, und der Geheilte verbreitet, was Jesus getan hat. So wird er zum Wundermann gemacht.

Manchmal spüre ich ein abgrundtiefes Vertrauen, mit dem er sich zugleich selbst in diesem Moment exponiert: Im Boot schreit er den Sturm an – und der hört auf (Mk. 4,39). Ich glaube nicht, dass er denkt, er könnte das machen. Aber er traut dem Leben zu, dass es sich verändert.

Heilung verbreitet Jesus auch bei Armut und Ungerechtigkeit. Viele Menschen in seiner Umgebung sind arm geworden durch Steuern und Verschuldung. So lebt auch Jesus mit seinen Leuten besitzlos und arm. Sie wohnen auf ihren Wanderungen bei Menschen, die ihnen Raum geben (Mk. 1,29-31). Sie haben Hunger, so dass sie unterwegs Ähren vom Feld essen (Mk. 2,23). Ein Reicher, der sich an Jesus orientieren will, soll seinen Besitz verkaufen und das Geld den Armen geben. Das möchte er nicht (Mk. 10,21). Aber ein Zöllner, der im Dienst der Besatzungsmacht zur Verarmung der Bevölkerung beiträgt, soll seine Arbeit verlassen und mit Jesus gehen. Das tut er (Mk. 2,14). Er feiert das sogar mit einem Festmahl, zu dem nicht nur seine Kollegen und andere zwielichtige Gestalten geladen sind, sondern auch Jesus mit seiner Begleitung. Ein buntes Miteinander, für manche empörend. Als viele Hungrige um ihn sind, teilt er mit ihnen, indem er alles weggibt, was seine Gruppe zu essen hat. Davon werden alle satt, wohl weil auch sie teilen, was sie haben (Mk. 6,38-42). So wird aus geteilter Armut mehr als genug.

Jesus heilt auch Menschen, die ausgeschlossen werden, weil sie die geltenden Regeln verletzen: Zöllner, die im Dienst der Besatzung sich selbst bereichern (Lk. 19,9), und Frauen, die unerwünschte sexuelle Beziehungen haben (Lk. 7,48). Ihnen wendet er sich zu und sieht sie nah beim Gottesreich, weil sie offen sind für seine Botschaft, die ihnen einen Raum der Güte gibt (Lk. 7,34; Mt. 21.31).

Jesus lebt in einer Welt, in der Gewalt regiert. Auch hier geht er einen Heilungsweg: Keine Gewalt! Bei gewalttätigen persönlichen Konflikten rät er zu provozierender Großzügigkeit (Mt. 5,39-41), sicher auf der prophetischen Spur von Elisas Gastmahl für die Feinde (2. Kön. 6,8-23). Von seinen Leuten erwartet er, dass sie lieber dienen als herrschen (Mk. 10,42f). Und er leistet bei Verhaftung, Verhör und Hinrichtung keinen Widerstand – aber seine Ausstrahlung ist auch nach 2000 Jahren lebendig.

 

Literatur

Leo Petersmann: Bei Licht betrachtet. Mein anderer Blick auf biblische Texte, BoD 2023

 

Leo Petersmann

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2023

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