Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ringt die evangelische Kirche um ihre friedensethische Position: Wo verlaufen die Grenzen der Gewaltfreiheit? Wie weit reicht das Recht auf Selbstverteidigung? Sind Waffenlieferungen ein Akt der Solidarität? Und wenn ja, gilt das unbeschränkt? Rolf Wischnath versucht, unterschiedliche Positionen im aktuellen Widerstreit zu charakterisieren und darin einen eigenen Standpunkt zu gewinnen.*

Pazifist“ – Heute wieder ein Schimpfwort.
Wer hätte das gedacht?
(Walter Jens)

 

I  „Friede“ im Verständnis der Evangelischen Kirche in Deutschland

Eine Absage an die „Lehre vom gerechten Krieg“

In der Nachkriegszeit, in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, geschah etwas Wichtiges: In der „EKD“ wurde die kirchliche Lehre vom „gerechten Krieg“, wonach Krieg unter gewissen Bedingungen gerechtfertigt sei, final auf dem Müllhaufen der Theologiegeschichte entsorgt. Die evangelische Kirche schloss sich dem uneingeschränkten Gewaltverbot der Bergpredigt und dem Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen an. Hatte der Protestantismus die Lehre vom sog. „gerechten Krieg“ bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verfochten und hatte die Mehrheit des deutschen Protestantismus (mit Ausnahme der Bekennenden Kirche) die Machthaber im Ersten und Zweiten Weltkrieg unterstützt, so wurde jetzt eine Grenzziehung vollzogen. „Auf der Gewalt ruht kein Segen, und Kriege führen nur tiefer in die Bitterkeit, Hass, Elend und Verwahrlosung hinein. Die Welt braucht Liebe nicht Gewalt, sie braucht Frieden nicht Krieg“. Mit diesen Worten erteilte die erste Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) im Jahr 1948 dem Krieg (als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen) eine strikte Absage.

Eine besondere Hinwendung in den Auseinandersetzungen betraf dann in den 1950er Jahren die atomaren Waffen. Ihnen galt eine strikte Verwerfung. Dass sie allenfalls noch für eine ganz kurze Zeit ihre abschreckende Wirkung behalten mögen, sagte damals eine Minderheit der (inzwischen) verfassten EKD. Die Verwerfung der Nuklearwaffen geschah darum nicht einstimmig.

Staatliches Selbstverteidigungsrecht

Doch nun hat der russische Angriff auf die Ukraine eine Debatte angestoßen, ob nämlich die protestantische Friedensethik nicht von vorn anfangend erneuert werden muss. Denn der kirchliche Friedensappell mit Aufrufen zum Gebet und zur Andacht ist zu blass und bleich angesichts der so ungehemmt gewaltsam vorgehenden Truppen Putins. Wollte man das in der EKD hinsichtlich des Ukraine-Russland-Kriegs „maßgebendste “ Votum zur neuen Friedensethik suchen, stoßen wir auf eine Erklärung des mächtigen und repräsentativsten Gremiums der EKD. Es handelt sich um die sog. „Kirchenkonferenz“. Ihr gehören alle Bischöfe, Präsides, Kirchenpräsidenten, Landessuperintendenten (es gibt nur noch einen in Detmold) und ihre leitenden Juristen an. Der epd vom 24. März 2022 vermeldet das Votum der Kirchenkonferenz so: „Die 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland [also nicht nur eine wichtige Gruppe in der EKD, sondern alle Landeskirchen] haben das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine im Krieg mit Russland betont. ‚Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine im Blick auf die gegen sie gerichteten Aggressionen ist unbestritten‘, heißt es in der Erklärung der Kirchenkonferenz. Friede sei … letztlich nicht mit Waffengewalt herzustellen. ‚Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg.‘“

Bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine fordert die Kirchenkonferenz „konkrete Friedensbemühungen“. Die Kirchenkonferenz spricht den Betroffenen der Gewalt „ihre Achtung und ihr tiefes Mitgefühl aus.“

Dem bleibenden Wunsch nach Gewaltfreiheit stehe allerdings angesichts eines Aggressors, der Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begeht, auch die Option gegenüber, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Es gibt darum auch ein kirchliches Ja zu den Waffenlieferungen. Es ist ein unbedingtes Ja. Denn „Hass und Gewalt dürfen nicht das letzte Wort haben. Das letzte Wort hat der Frieden: ‚Christus ist unser Friede‘ Eph. 2, 20“. Höher kann man vom Frieden nicht sprechen.

Vier friedensethische Postulate

Im Blick auf den langen Text der Kirchenkonferenz halte ich vier friedensethische Postulate fest:

1. Uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine. Sie soll auf vielerlei Weise konkretisiert werden durch Fürbitte, Unterstützung ihres Kampfes, große materielle Hilfe für die Geflüchteten und Seelsorge.

2. Die gerechte Notwehr mit Waffen ruft unvermeidbar und alternativlos nach der Bejahung eines Verteidigungskrieges mit Hilfe von schweren Waffen und von weitergehenden Waffenlieferungen.

3. Die politischen und kirchlichen Verantwortungsträger müssen der Ukraine weiterhin die verlässliche Zusage vielfacher Unterstützung geben. Gleichzeitig aber gilt der Ruf nach Friedensschritten.

Und nachdrücklich unterstreiche ich das vierte Postulat – nämlich:

4. Die EKD bittet die Bundesregierung dringlich, von der Kürzung der Mittel für Entwicklungshilfe abzu­sehen.

Das Leitbild vom „gerechten Frieden“ und die ultima ratio militärischer Gewalt

Nun aber steht die Evangelische Kirche in Deutschland hinsichtlich ihrer geltenden Friedensethik noch in einem anderen, weiteren theologischen Horizont, als er in den Postulaten vorgetragen worden ist: Die Evangelische Kirche wird ja oft verdächtigt, sie hänge einem prinzipiellen Pazifismus an. Das ist unrichtig: Die protestantische Friedensethik steht seit den 1960er Jahren vielmehr im Spannungsfeld zwischen dem grundsätzlichen, prinzipiellen Pazifismus und dem, was der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber als „Verantwortungspazifismus“ bezeichnet hat. 2007 war Wolfgang Huber als Ratsvorsitzender der wichtige Autor und Verantwortliche der EKD-Denkschrift mit dem Titel: „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“. Das Leitbild des „Gerechten Friedens“ etabliert die Denkschrift. Seither gilt die Rede vom „Gerechten Frieden“ als Kernstück der EKD-Friedensethik.

Schon diese Denkschrift stellt klar, dass zur Wahrung und Wiederherstellung des Rechts auch der Einsatz militärischer Gewalt ethisch legitimierbar ist. Zu folgen allerdings sei dem Grundsatz, militärische Mittel nur als „ultima ratio“ einzusetzen. „Ultima ratio“ ist lateinisch und bedeutet: dass das unausweichlich letzte, am schwersten wirkende und auszulösende, kriegerische Mittel zur Lösung eines Konflikts nur ergriffen werden darf, wenn andere mögliche und angemessen mildere Mittel keine Aussicht auf Erfolg haben. Darin vor allem unterscheidet sich die Denkschrift von einem radikalen, prinzipiellen Pazifismus, bei dem jede Form von Gewalt abgelehnt wird.

Legitime Waffenlieferungen?

In der EKD-Position bekommt die Waffenfrage einmal mehr ein starkes, ja entscheidendes Gewicht. In der Öffentlichkeit ist wahrzunehmen, dass die EKD den Waffenlieferern beipflichtet, ihre Lieferung durch Verbündete und ihre Anwendung in der Ukraine billigt.

So sagt die Vorsitzende des Rates der EKD, die Präses der Evang. Kirche von Westfalen (EKvW), Annette Kurschus, dass Waffen notwendigerweise erforderlich seien, um den Angreifern in der Ukraine zu wehren, Menschen in der Ukraine zu beschützen und weitere Eroberungen durch die russischen Truppen zu verhindern. „Es gibt keine christliche Pflicht zu absolutem Gewaltverzicht.“ Und doch gilt für sie die Erkenntnis: „Keine Waffe allein wird den Frieden schaffen. Der Einsatz von Waffen muss zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen“. Und sie unterstreicht, sie könne Politikerinnen und Politikern, die Waffen an die Ukraine liefern wollen, nicht vorwerfen, dass das unchristlich sei. Zwar könnten Christinnen und Christen für sich selbst entscheiden, dass sie ausnahmslos auf Gegengewalt verzichten und Gewalt prinzipiell verwerfen: „Ich bewundere die Ukrainerinnen und Ukrainer, die das tun“, sagt Annette Kurschus; es sei aber etwas ganz anderes, wenn sie als Christin, gar als leitende Angestellte der Kirche, welche selbst nicht unmittelbar bedroht sei, Angegriffenen und sich Wehrenden die Waffenlosigkeit moralisch gebiete. Das sei ganz unmöglich.

Nun gibt es dieser Tage (im Mai) einen neuen Akzent auf der diesjährigen Frühjahrssynode der Evang. Kirche von Westfalen (EKvW) in Bethel bei Bielefeld. Die Präses hält es weiterhin für richtig sowie ethisch vertretbar, dass die Ukraine im russischen Angriffskrieg militärisch unterstützt wird. Doch inzwischen sei aus dem Angriffskrieg ein „Stellungskrieg“ geworden, der Hunderttausende Menschen getötet habe und durch den große Landflächen irreparabel zerstört seien. Deshalb sei es dringend an der Zeit, dass die Waffen schweigen, damit verhandelt werden könne. Das bedeute – so Annette Kurschus –, es müssten die Bedingungen, Kompromisse und auch Kosten für einen Waffenstillstand erörtert werden, – auch wenn das die Frage nach möglichen Sicherheitsgarantien beinhalte. „Diese Fragen müssen zeitnah politisch geklärt werden, auch wenn sie unangenehm sind, damit es schnell zum Waffenstillstand kommen kann.“ Jedoch gibt es in der EKD kein Lehramt, das deren Position zur allein richtigen erklären könnte. Vielmehr sehe und höre ich, dass es in der Evangelischen Kirche drei weitere Ansichten (Positionen) in der derzeitigen „Friedensethik“ gibt, die in Konkurrenz zueinander stehen.

 

II  „Friede“ im Verständnis der Militärseelsorge

Zunächst sei hingewiesen auf einen Beitrag, der unter der Überschrift (alles nur in Großbuchstaben) steht:

EVANGELISCHE MILITÄRSEELSORGE
MASS DES MÖGLICHEN
PERSPEKTIVEN EVANGELISCHER FRIEDENSETHIK
ANGESICHTS DES KRIEGES IN DER UKRAINE
EIN DEBATTENBEITRAG

Der Text umfasst 69 Seiten, ist von vier Theologen, zwei Militärdekanen und einer Militärpfarrerin – alle der Bundeswehr verpflichtet – erarbeitet und vom Militärbischof Bernhard Felmberg feierlich herausgegeben worden. Die entscheidende theologische Aussage besteht allerdings darin, dass auch – wie bei allen Veröffentlichungen der Militärseelsorge – der neue Text auf seiner Titelseite unter ein Logo gestellt ist. Es zeigt ein Doppelkreuz, also die Verdoppelung und Unterstreichung des Wortes vom Kreuz – mit der Umschrift „DOMINI ­SUMUS“. Das Wort stammt von Johannes Calvin (1509-1564), ist jedenfalls früher nicht feststellbar und so von keinem anderen Reformator gebraucht worden: „Wir sind des Herrn“ resp. „Wir gehören dem Herrn“.

In der Schrift MASS DES MÖGLICHEN – PERSPEKTIVEN EVANGELISCHER FRIEDENSETHIK sind wichtige Akzente einer Friedensethik zu finden:

1. Frieden bleibt Leithorizont politischen und militärischen Handelns.
2. Eine Friedensethik darf an den sicherheitspolitischen und soldatischen Herausforderungen nicht vorbeigehen.
3. Es ist ein kirchlicher Kernauftrag, das Bewusstsein dafür wachzuhalten, dass bewaffnete Gewalt im Notfall und im Ausnahmezustand wahrgenommen werden muss.
4. Für das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung ist ausnahmslos und unerschütterlich einzutreten – auch und besonders mit militärischen Mitteln.
5. Besitz, Drohung und Einsatz von Nuklearwaffen sind zwar friedensethisch abzulehnen, aber das „Konzept der strukturellen Angriffsfähigkeit“ ist auf die Komponente der nuklearen Abschreckung unbedingt angewiesen. Nukleare Abschreckung muss sein, auch um den Preis des ethischen Dilemmas. Zitat: „Die Gefahr einer nuklearen Erpressung durch eine Atommacht oder eines Angriffskriegs innerhalb von Europa bleiben außerhalb ihrer Vorstellung“ (22).
6. Die Kirche hat die Aufgaben, für die Soldatinnen und Soldaten eine Friedensspiritualität zu entwickeln.

Mit den sog. „geistlichen Kernpraktiken“, nämlich „dem Umgang mit der Heiligen Schrift in Gottesdienst, mit der Verkündigung und den Sakramenten, dem Gebet, der Gemeinschaft, dem Bildungshandeln … leisten die Kirchen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Resilienz. Evangelische Friedensethik fragt nach den individuellen und kollektiven Ressourcen, die Einzelne und die politische Gemeinschaft widerstandsfähig machen und dazu helfen, in Krisen und in einem disruptiven Schock standzuhalten“ (63). „Disruptiv“ heißt „verstörend“ und „zerstörend“.

Einfacher gesagt, die Militärseesorge möge dafür sorgen, dass im Fall des Falles militärischer Anstrengungen und Zerstörungen die Soldaten nicht die Nerven verlieren und nicht seelisch verrohen mögen. Militärseelsorge ist mithin Institution der Tapferkeit, der Tröstung, der Abmilderung bei Angst. Bei Trauer und Verstörung möge sie regulierend eingreifen, um Resilienz zu schaffen – auch im Falle der das Leben zerstörenden Katastrophe.

Ich füge noch an, dass nach meinem Eindruck in und mit MASS DES MÖGLICHEN eine theologische Erörterung verbunden ist, die sich einem glanzvollen Kulturprotestantismus verdankt und auch den beeindrucken kann, der diesen Ansatz nicht teilt. Insgesamt ist es allerdings so, dass MASS DES MÖGLICHEN die Politik der Bundesregierung und mit ihr der Bundeswehr hinnimmt und unterstützt – passend wie ein Schlüssel im Schloss.

 

III  „Friede“ im Verständnis eines prinzipiellen Pazifismus

Nun kommt ein völlig anderer Ton in die friedensethische Debatte. Es handelt sich um die Stimme eines prinzipiellen, grundsätzlichen Pazifismus. Hierbei ist die Ausgangsfrage, eine alte Frage: Was würde Jesus dazu sagen?

Was würde Jesus dazu sagen?

Den Versuch einer Antwort haben Matthias Kreck – ein bekannter Mathematiker– und ich vor einem Jahr beschrieben. Der Beitrag ist veröffentlicht in dem Buch „Entrüstet euch – von der bleibenden Kraft des Pazifismus“, das Margot Kässmann und Konstantin Wecker im Juni 2022 herausgegeben haben. Ich fasse diesen Text zusammen:

Als die Häscher Jesus gefangen nehmen und einer seiner Wegbegleiter ihn mit dem Schwert verteidigt, entgegnet er ihm: „Stecke dein Schwert an seinen Ort. Denn wer das Schwert nimmt, der soll durch das Schwert umkommen.“ Ein Mensch, der wie kein anderer unschuldig war, wird zum Opfer von Gewalt und verbietet die Gegenwehr. Er folgt damit der Leitlinie, die sich wie ein roter Faden durch sein Dasein zieht: „Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden“. Und er sagt: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“ Und darüber hinaus heißt es: „Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen.“ „Segnet, die euch verfluchen.“

Der Mann aus Nazareth verbietet Gewalt. Aber bezieht sich das auch auf Gegengewalt? Ja … Jesus sind die Konsequenzen klar. Es sind die Konsequenzen, die er für sich selber erwartet und am Kreuz erfährt. Darum kann er von sich und seinen Nachfolgern fordern: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“

Aber das ist nicht das Einzige, was Jesus zu den Konsequenzen sagt. Er verbindet es mit einer Verheißung. In den Seligpreisungen sagt er denen, die Frieden stiften, „dass sie Gottes Kinder heißen werden“. Und denen, „die da Leid tragen“, sagt er: „Denn sie sollen getröstet werden“. Zusammengefasst ist das der wahre Frieden.

Die Autoren führen weiter aus: Der Krieg in der Ukraine ist schon jetzt grenzenlos geworden. Und die Kämpfe können noch Jahre dauern – vor allem in den Seelen der Menschen. Das lässt sich – wie in unserem Text ausgeführt wird – an vielen Beispielen erörtern.

Was wäre aus der Alternative geworden? Wir wissen es nicht. Aber wenn Jesus Frieden verheißt, dann hat dieser Friede zwei Seiten: nämlich die des Friedens Gottes, der höher ist als alle Vernunft und der sich einmal ganz auf Erden wie im Himmel durchsetzen wird. Und die andere Seite ist ein hier und jetzt zu achtendes Postulat, das keinen Menschen aufgibt, die Opfer nicht und noch nicht einmal den Gewaltherrscher im Kreml und erst recht nicht die mit einem Panzer ausgerüsteten und missbrauchten russischen Soldaten. Einige von ihnen waren nicht bereit, die sich ihnen entgegenstellenden Wehrlosen zu überfahren. Dies mag nur eine Geste gewesen sein. Aber möglicherweise war es auch die Folge einer Feindesliebe, die diese Soldaten zumindest hat dazu bewegen können, nicht zu schießen.

Viel „Menschenvernunft“ spricht gegen das Gebot der Feindesliebe. Was alles wäre auf die Menschen in der Ukraine zugekommen, wenn das Land sich mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit verteidigt hätte? Und welch ein Aufschrei wäre erfolgt, wenn die christlichen Kirchen das in der Nachfolge Jesu Notwendige gesagt hätten. Aber wäre denn die Nachfolge Jesu ein höherer Preis gewesen als das alles zerstörende Elend, das nun das Land überzieht? Und sollten Christen nicht auf die höhere Vernunft, auf die Gottes, vertrauen und auf die Kraft, die Paulus verheißt: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.“

Soweit Matthias Kreck und Rolf Wischnath.

Woher wissen wir, was er sagen würde?

Der Text ist auch im digitalen Programm von „Zeitzeichen“ veröffentlicht und dort wild kritisiert worden. Er hat aber auch enorme Zustimmung erfahren; hier nur eine für mich wichtige und nachdenklich machende Stimme und Anfrage eines Kritikers:

Was würde Jesus dazu sagen? Was hätte Jesus getan? Die das fragen, glauben ja, sie hätten das genau gewusst, sie könnten die Antwort geben. Sie reklamieren das selbst für sich. Sie wissen das und sie wissen auch, was Jesus heute tun würde. Besonders sicher sind sie darin, dass ihr Gegenüber nicht in seinem Sinne handelt. So eine Arroganz! In Wahrheit ist keiner von uns Jesus. Und jeder ist überfordert, wie er zu denken, zu sprechen und zu handeln. Jesus hat sich wohlweislich in den Himmel verabschiedet, damit wir selber Entscheidungen fällen und nicht immer ihn fragen, was wir tun sollen. In Kenntnis des Evangeliums und mit der Gabe des Heiligen Geistes sind wir berufen, anstehende Entscheidungen zu treffen. Uns wird zugemutet, ein erwachsenes Verhalten selber zu verantworten.“ (Te Deum – Das Stundengebet im Alltag. Hrsg. von der Benediktinerabteil Maria Laach. Mai 2023, 182)

 

IV  „Friede“ im Verständnis eines pragmatischen (anwendungsbezogenen) Pazifismus

Diese Fassung einer Friedensethik im Horizont des Russland-Ukraine-Kriegs leuchtet „praktisch“ und unter den heutigen Kriegsereignissen am ehesten ein. In ihr beziehe ich mich auch auf den Text von Olaf L. Müller – einem stringent denkenden Philosophen an der Humboldt-Universität Berlin – veröffentlicht als Reclam-Heft 2022 unter dem Titel „Pazifismus – Eine Verteidigung“.

Müller gebraucht den Ausdruck „pragmatischer Pazifismus“. Ich verstehe „pragmatisch“ als „praktisch“, „anwendungsbezogen“. Von Müller übernehme ich seine Einführung: „Pazifisten haben es nicht leicht: Man wirft ihnen Blauäugigkeit oder blinden Dogmatismus vor. Ich verteidige demgegenüber einen Pazifismus ohne Prinzipienreiterei, einen ‚pragmatischen Pazifismus‘. So gut wie alle kriegerischen Handlungen sind unmoralisch. Pazifismus darf deshalb nicht darauf hinauslaufen, mit geschlossenen Augen starre moralische Regeln zu predigen, sondern er muss auf friedliebende Art und Weise die politische Wirklichkeit betrachten und nach den Wegen suchen, die am ehesten pazifistisch in Richtung ‚Frieden‘ weisen. Ein so verstandener Pazifismus ist anstrengend und bietet keine Garantie dafür, am Ende schuldlos zu bleiben.“

Pessimistischer Pazifismus?

Für den pragmatischen Pazifismus gibt es eine entscheidende Ausgangsfrage, die in der EKD und bei der Militärseelsorge kaum zu finden ist. Es geht um die Folgenabschätzung: Was für Folgen haben die Kriegshandlungen in der Ukraine? Machen wir uns bewusst: Auch die kriegerischen Handlungen eines auf dem Papier noch so berechtigten Verteidigungskrieges können maßlos und unverhältnismäßig werden. Und zwar dann, wenn ihre Folgen aus dem Ruder laufen, wenn etwa die Verteidigung die gesamte Menschheit an den Abgrund bringt oder wenn sie bis zum letzten Blutstropfen weitergeführt wird – oder aber bis zu einem Sieg, der für einen viel zu großen Preis an Opfern erkauft worden ist. Einfacher gefragt: Wann ist der Punkt erreicht, wo das, was man verteidigen will, nicht mehr da ist, weil es zerstört wurde? Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, sagt: „Im schlimmsten Fall werden wir sterben, aber wir werden uns niemals ergeben.“ Im Kalten Krieg hieß die Parole: „Lieber tot als rot!“

Pragmatische Pazifisten pflegen einen gewissen Pessimismus. So machen sie sich größte Sorgen darüber, ob sich die Verbrechen im Russland-Ukraine-Krieg überhaupt noch kontrollieren lassen. Früher als andere fürchten sie, dass sich auch aus zunächst überschaubaren militärischen Kämpfen am Ende ein Weltenbrand entwickeln kann bis hin zum atomaren Inferno. Ich teile diese sehr deprimierende Ansicht. Und ich bin der Überzeugung: Der Russland-Ukraine-Krieg wird in der atomaren Katastrophe enden. (Und ich hoffe so sehr, dass ich mich in dieser Erwartung gründlich irre.)

Kriegsfolgenabschätzung und eine Gegenstrategie

Aber stellen wir doch einmal die Folgenabschätzung an: Was hat der Krieg seit dem 22. Februar 2022 für Folgen gehabt. Was ist geschehen in den über 500 Tagen seither? Was geschieht? Der Überfall Russlands auf die Ukraine kostet schon jetzt viele tausend Menschenopfer in der Ukraine, aber eben auch in Russland. Darüber hinaus geschehen:

¬ Gefangennahmen und Versklavungen und Vergewaltigungen
¬ Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes
¬ Flüchtlingsströme strömen von Ost nach West, die nicht abreißen

Der Einsatz von Atomwaffen droht wie noch nie. Er ist sogar in der Logik des Abschreckungssystem wahrscheinlich, wenn ein unterlegener Putin in seinem Krieg seine letzte Karte ausspielt, weil – abgründig! – bei ihm mit einem rationalen Kalkül nicht mehr zu rechnen ist. Unbeschreibliche Hungersnöte sind entstanden und entstehen besonders in den Ländern des Südens, die früher aus der Kornkammer Ukraine ernährt worden sind. Sie sind schon eingetreten zusätzlich zu den unzähligen Hungersnöten, die aus unserem Gesichtskreis entschwunden sind. Und: Aufrüstung, Aufrüstung, Aufrüstung. Hass, Hass, Hass.

Pragmatische Pazifisten stellen dem gegenüber die Forderungen:

¬ Widerstand ja, aber gewaltlos, wenigstens gewaltbegrenzend
¬ Darum: Keine Angriffswaffen wie die amerikanischen F-16-Kampfjets
¬ Schärfste Ablehnung und Verwerfung der Streumunitionen, die nur im Angriffskrieg „sinnvoll“ sind
¬ Unter keinen – wirklich keinen – Umständen ein Einsatz von Atomwaffen
¬ Wenn schon: dann mehr eindeutige Defensivwaffen
¬ Beistand für Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine
¬ Grenzenlos Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen
¬ Mehr humanitäre Unterstützung der Ukraine
¬ Mehr Geld dafür
¬ Wirtschaftliche Sanktionen, wie sie geschehen und enger geschnürt werden müssten
¬ Feuerpause und Waffenstillstand
¬ Intensivste diplomatische und friedensgerichtete Bemühungen
¬ Unbedingt Verhandlungen – auch mit Putin
¬ Bezugnahme auf den von lateinamerikanischen Staaten verfassten und vom brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva vorgetragenen Friedensplan
¬ Jedwede Veränderungen mit gewaltlosen Mitteln (wie bei den friedlichen Revolutionen 1989 im Ostblock)
¬ Kirchliche Parteinahme
¬ Verabscheuung des Moskauer Patriarchen der Orthodoxen Kirche und Kriegspredigers Kyrill.

Schuld und Irrtum

Aber nach dieser Auflistung falle ich mir selber ins Wort: Ich sitze oder stehe hier im sicheren Deutschland, wo ich doziere über prinzipiellen oder pragmatischen Pazifismus. Und es ist doch billig und anmaßend, den Menschen in der Ukraine Ratschläge zu geben. Recht eigentlich ist das schwer erträglich – sehr schwer. Trotzdem sollte man auch darauf hinweisen können, dass es in Russland und in der Ukraine viele gibt, die anders denken als ihre Machthaber. Und wenn schon Tag für Tag nach mehr und immer mehr Waffen gerufen wird, gehört es zur politischen Verantwortung zu fragen, was mit diesen Waffen geschehen soll. Und wie viele Opfer werden dabei in Kauf genommen?

Aber auch ein Pazifismus jedweder Couleur ist sehr irrtumsbehaftet. Und keineswegs macht er schuldfrei. Der Versuch einer Vorausdeutung kann sehr anmaßend sein. Und auch ein prinzipieller oder pragmatischer Pazifismus macht nicht unschuldig oder ist „richtig“. Der Vater des Programms eines gewaltlosen Widerstandes Theodor Ebert – langjähriges Mitglied der Kirchenleitung der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg – schreibt: „Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, sie zu suchen, ihnen nachzugehen und auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu finden.“

Ich weiß nicht, wie und wann dieser Krieg endet. Vielleicht gibt es eine Verhandlungseinigung und die Waffen schweigen. Das wäre natürlich zu hoffen. Denkbar ist aber auch, dass Russland sich militärisch durchsetzt. Was dann? Dann ist vielleicht auch für die Ukrainer der Zeitpunkt gekommen, letztlich nur noch zu gewaltfreien Mitteln in ihrer Situation zu greifen.

Unter den gegenwärtigen Umständen gib es auch für Pazifisten keine Wege, auf denen sie gehen können und dabei schuldlos blieben. Es gibt keine weißen Westen. Keine Glorie. Keine Ansprüche. Keine Orden. Keine im Wasser gewaschenen Hände. Keine Irrtumsfreiheit. Keine Schuldlosigkeit. Möglicherweise sind auch meine beiden Haltungen eines prinzipiellen und eines pragmatischen Pazifismus Irrtürmer. Aber welcher Weg ist irrtumsfrei?

 

V  Ein bleibender Widerspruch?

Nun ist abschließend noch die Frage zu stellen, wie ich es halte mit den widersprüchlichen Aussagen des III. Teils „Friede“ im Verständnis eines prinzipiellen Pazifismus und dem IV. Teil „Friede“ im Verständnis eines pragmatischen (anwendungsbezogenen) Pazifismus?

Ich versuche nicht einen Ausgleich im Sinne eines „teils / teils“ oder „dann und wann“ oder „mal dies mal jenes“. Ich lasse vielmehr den Widerspruch zu und spreche von einer „Dialektik“. „Dialektik“ ist eine philosophische Methode. Sie stellt eine Position, von der sie ausgeht, durch gegensätzliche Behauptungen infrage. Und in der Synthese beider Positionen gewinnt sie eine neue Erkenntnis, die sehr wohl zusammengedacht werden kann. Meine Dialektik, mit der ich versuche, meine eigene friedenethische Position zu beschreiben, besteht aus zwei Sätzen:

Der prinzipielle Pazifismus bewahrt davor, den Frieden nur auf Erden zu suchen.
Der pragmatische Pazifismus bewahrt davor, den Frieden nur im Himmel zu suchen.
Und den Worten der deutsch-österreichischen Schriftstellerin Catarina Carsten möchte ich mich anschließen:

Zu den Siegern
mit hochgerissenen Armen
werde ich nicht gehören.
Aber vielleicht zu denen
die mitten im Meer
den Wimpel der Hoffnung hissen
beim Schiffbruch.

 

Anmerkung

* Vortrag beim Ökumenischen Gesprächskreis in Berlin-Wannsee am 27. Juli 2023.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Rolf Wischnath, Jahrgang 1948, ­Reformierter Moderator der Evang. Kirche in ­Berlin-Brandenburg (1990-1995), Generalsuperintendent für das östliche Brandenburg (1995-2004), Honorarprofessor der Universität Bielefeld (seit 2008).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2023

2 Kommentare zu diesem Artikel
30.09.2023 Ein Kommentar von Lo Petersmann Sehr geehrter Herr Wischnath, danke, dass Sie so deutlich die christlich-pazifistische Position vortragen, auch wenn Sie sich ihr nicht eindeutig anschließen. Die Kirche, die sich seit vielen Jahrhunderten als staatstragend versteht, traut sich verständlicherweise nicht, an der Überzeugung Jesu festzuhalten. Die entfalten Sie klar unter der Überschrift „Was würde Jesus dazu sagen?“ Leider halten Sie Ihre Argumentation selbst nicht durch. Es geht doch nicht um einen Konjunktiv, um eine Vermutung. Was Jesus dazu gesagt und getan hat, ist ja völlig eindeutig: So (in üblicher Weise gewalttätig) ist es bei euch nicht (Mk.10,43). Entsprechend gab es in der Gemeinschaft Jesu selbstverständlich kein Schwert, wie man in Mk.14,48 deutlich sehen kann. Erst Matthäus hat das Schwert im Jüngerkreis erfunden, und daraufhin fügen die späteren Evangelisten dem Schwertschlag eines Jüngers jeweils ein korrigierendes Verbot Jesu hinzu. Eine Kirche, die im Gegensatz zu Jesus seit 1700 Jahren dem gewalttätigen Imperium als Kompagnon dient, muss natürlich die menschenfreundliche Position Jesu fallen lassen, mindestens aber (wie ich es bei Ihnen empfinde) ins Schlingern kommen. Hätte es einen Aufschrei gegeben, wenn die Kirchen sich im Sinn Jesu zum Ukraine-Krieg geäußert hätten? Ja, natürlich, weil sie seit Jahrhunderten gegen das Militär im eigenen Land nicht aufgeschrien haben. Für Menschen, die sich an Jesus orientieren möchten, geht es doch um die einfache Frage, wem sie folgen wollen: Jesus oder dem Imperium bzw. einer Kirche, die sich mit ihm arrangiert hat. Leo Petersmann
28.09.2023 Ein Kommentar von Martin Jaeger Mit hoffnungsvollem Interesse begann ich den Artikel von Rolf Wischnath zu lesen. Eine gut recherchierte, kritische Darstellung der verschiedenen kirchlichen / christlichen Positionen wäre für die aktuelle Diskussion hilfreich. In vielen Punkten stimme ich Wischnath zu, vor allem seiner Kritik an der Position der Militärseelsorge, auch seiner Liste mit Forderungen „pragmatischer Pazifisten“, obwohl sie völlig ungeordnet ist. Seinen entscheidenden Schwachpunkt teilt er allerdings leider mit allen Positionen, die er sonst kritisiert, und er ist damit gut auf der Linie des offiziellen Narratives: Er tut so, als habe der Konflikt am 24. Februar 2022 plötzlich begonnen. Damit ist natürlich Putin der Alleinschuldige. Die gesamte Vorgeschichte, der Anteil der USA, NATO und Deutschlands an dem Konflikt und die Spannungen innerhalb der Ukraine, vor allem die Situation des russischen Bevölkerungsteils sind ausgeblendet. Nur so ist zu erklären, dass sein Pazifismus-Begriff, trotz der wichtigen konkreten Forderungen, in einer nebulösen Dialektik endet. Nachfolge Jesu ist selten einfach, beinhaltet oft Scheitern und lässt sich nicht in irgendwelchen Theorien oder gar Dogmen fassen. Sie besteht immer in konkretem, praktischem Handeln. Pacem facere, Frieden-Machen, in der Nachfolge Jesu • muss konkret sein, • darf den Gegner nicht dämonisieren, sondern muss versuchen, ihn zu verstehen, • muss den eigenen Beitrag zum Entstehen des Konfliktes wahrnehmen und bekennen, • setzt in der Situation eines Krieges alles daran, dass die Waffen sofort schweigen, da erst dann Friedensverhandlungen möglich sind, • sucht danach allen Beteiligten und Betroffenen gerecht zu werden, • setzt sich für Versöhnung ein, • nimmt Unfrieden fördernde Einflüsse wahr und versucht sie zu minimieren, o z.B. zusätzliche Milliarden für Rüstung, statt für soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit, etc., o die Klimaveränderung, die Konflikte erzeugt und für deren Reduzierung viel zu wenig getan wird, o kapitalistische, ausbeuterische Wirtschaftsstrukturen, o Machtstreben, national und international, o usw.
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