Vor 75 Jahren wurde, mitten in den gesellschaftlichen und kulturellen Neuaufbrüchen nach dem Zweiten Weltkrieg, der „Deutsche Bund für Freies Christentum“ gegründet. Was damals zu dieser Gründung bewogen hat und was liberales Christentum angesichts gegenwärtiger Herausforderungen an Kirche und Religion bedeutet, beschreibt Wolfgang Pfüller in seinem Beitrag anlässlich dieses Jubiläums.

 

Als der „Deutsche Bund für freies Christentum“ im September 1948 in Frankfurt/M. gegründet wurde, herrschte sichtlich Aufbruchsstimmung. Zum „Deutschen Kongress für Freies Christentum“ vom 21.-23.9.1948 waren mehr als 150 Personen „aus allen Teilen Westdeutschlands“ erschienen, die Vorträge wurden von etwa 300-400 Menschen besucht, auf der Pressekonferenz waren „die hauptsächlichsten Nachrichtenbüros aus Staat und Kirche vertreten“, die Gründung des Bundes wurde „einmütig“ beschlossen.1 Es bestand ganz offensichtlich ein dringendes Bedürfnis nach einem ungebundenen, von kirchlichen Maßregelungen und traditionellen Bekenntnissen freien Christentum, und dies gerade in Anbetracht des vorherrschenden „Bekenntnischristentums“ in der Tradition der Bekennenden Kirche.

Nun, diese Zeiten des Aufbruchs sind lange vorbei. Inzwischen ist der BFC eine weitgehend unbekannte, eher schwindende, kleine Gruppe liberaler Christen überwiegend protestantischer Provenienz.2 Indessen ist es nicht die Absicht dieses Artikels, die Geschichte sowie die Aussichten des Bundes erneut darzulegen.3 Vielmehr sollen im Folgenden die wichtigsten Charakteristika liberalen Christentums4, dessen Anliegen der Bund vertritt, herausgearbeitet und auf ihre Haltbarkeit bzw. Zukunftsfähigkeit überprüft werden. Dabei sind einschlägige Rückblicke auf die Geschichte natürlich nicht ausgeschlossen.

 

1  Freie Entscheidung

„Wir halten es für unmöglich, daß Bekenntnisse als Glaubensgesetze aufgerichtet werden, daß Pfarrer wegen ihrer theologischen und kirchlichen Ueberzeugungen bedrängt, ausgeschaltet, ja sogar aus dem Dienst der Kirche ausgeschieden werden.“ „Wir brauchen aber nichts notwendiger als einen innerlich und äußerlich unabhängigen Pfarrer- und Religionslehrerstand.“5 Ungeachtet der Jahrhunderte alten und unabsehbar fortwährenden Debatte um den menschlichen freien Willen bleibt festzuhalten: Entscheidungen in religiösen Fragen müssen selbstbestimmt getroffen werden. Das liberale Christentum fordert und fördert die freie religiöse Entscheidung. Freie Christinnen und Christen sind allein (der Idee) der Wahrheit verpflichtet, also weder einer „heiligen Schrift“ noch gleich gar kirchlichen Bekenntnissen. Andreas Rössler, der Nestor des BFC, formuliert das so: Freiheit zur Wahrheit „ist das eigentliche Markenzeichen freien Christentums.“6 Oder mit den Worten Wilhelm Gräbs: Liberale Frömmigkeit „erkennt die religiöse Autonomie der Menschen an und verteidigt sie. […] Liberale Frömmigkeit ist persönliche Frömmigkeit, freie Überzeugung, die sich nicht mit der Beugung unter unverständliche Dogmen verträgt.“7

Ich denke, dieses Charakteristikum liberalen Christentums ist höchst aktuell, zumal in offenen Gesellschaften, in denen Religion immer weniger eine Angelegenheit der Herkunft als vielmehr der eigenen, individuellen Wahl ist.8 Dabei obliegt es dem liberalen Christentum freilich nicht nur, die freie religiöse Entscheidung zu verteidigen, sondern auch eine offene Gesellschaft, die solche Entscheidungen ermöglicht und fördert. In diesem Punkt dürfte sich das liberale Christentum im Übrigen sogar mit seinem Gegner, dem evangelikalen Christentum, einig sein9 – ich komme auf diese Gegnerschaft noch zu sprechen.

 

2  Religiöse Erfahrung

Liberales Christentum nimmt seinen Ausgang nicht von (vermeintlichen) Offenbarungen, von heiligen Schriften oder gar von kirchlichen Bekenntnissen, sondern von individuellen (oder auch gemeinschaftlichen) religiösen Erfahrungen. Damit steht es ganz in der Tradition der liberalen Theologie etwa eines Friedrich Schleiermacher oder auch eines Albert Schweitzer. Daran zeigt sich freilich sogleich, dass es für liberales Denken keineswegs unumstritten ist, was religiöse Erfahrung sei. Schleiermacher spricht vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“, Schweitzer von der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Und das sind nur zwei, wenngleich bedeutende Stimmen aus der Vielstimmigkeit liberalen Christentums.

Natürlich kann ich in diesem Rahmen nicht ausführlich erörtern, was unter religiöser Erfahrung zweckmäßigerweise zu verstehen ist.10 Kaum strittig dürfte es sein, dass Erfahrungen ein höheres Maß an Reflexion beinhalten als etwa Erlebnisse, Empfindungen oder auch Gefühle. Ja, vielleicht kann man mit Wilhelm Gräb sagen: „Wie jede Erfahrung ist auch die religiöse Erfahrung ein Ineinander von Erleben und Deutung.“11 Und sicher kann man daraufhin sagen, dass das religiöse Moment des Erlebens bzw. der Erfahrung genau in dessen bzw. deren Deutung liegt. Weitaus umstrittener hingegen dürfte es sein, dieses religiöse Moment genau zu bestimmen. Dabei ist der von Gräb unterbreitete Vorschlag sicher diskutabel, wenngleich ich ihn für zu eng halte.12 Danach wird das Erleben zur religiösen Erfahrung, „wenn sein Transzendenzbezug als solcher gedeutet wird, als Gottesbegegnung, als Erfahrung des geöffneten Himmels, als Staunen über das Wunder des ­Lebens.“

Diese wenigen Andeutungen mögen jetzt genügen, um in etwa zu zeigen, dass und wie liberales Christentum bei der religiösen Erfahrung ansetzt. Dieser Ansatz aber zielt darauf, religiösen und besonders christlichen Glauben in der menschlichen Lebenswelt zu verankern, ihn den Menschen lebensnah zu vermitteln. Und ich meine, auch dieses Charakteristikum liberalen Christentums ist sehr aktuell. Denn Erfahrung spielt für heutige Menschen eine große Rolle, da sie ihr Leben in vielfältiger Weise prägt, während alte Traditionen ihrem Leben eher fern liegen, gleichviel ob sie mit einem Offenbarungs- oder auch nur einem Autoritätsanspruch versehen werden. Und dies zumal derlei Ansprüche zumindest bei nachdenklichen, reflektierten Zeitgenossen kaum mehr auf Akzeptanz stoßen dürften.

 

3  Kritische Rationalität

Liberales Christentum ist einer kritischen Rationalität verpflichtet, wie sie in der Aufklärung angebahnt und speziell von Immanuel Kant etabliert wurde. Diese Rationalität ist nicht zuletzt selbstkritisch, da sie auf ihre Grenzen reflektiert, um die Revisionsbedürftigkeit ihrer Ergebnisse weiß und sie daher ständig kritisch überprüft. Muster einer solchen Rationalität sind die recht verstandenen Wissenschaften im Allgemeinen sowie die historisch-kritische Forschung im Besonderen. Diese werden denn auch vom liberalen Christentum gewöhnlich hochgeschätzt. Und im Blick auf die historische Forschung darf man ohne Übertreibung sagen, dass hierzu von Seiten des liberalen Christentums bzw. genauer der liberalen Theologie in Bezug auf die biblischen Schriften, speziell die Geschichte Jesu, sowie die Geschichte des Christentums Überragendes geleistet worden ist. Ich nenne hier nur die Namen von Albert Schweitzer, Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann.

Nun ist gerade der Name des Letzteren für die Gegner des liberalen Christentums bzw. der liberalen Theologie vor allem mit seinem Anliegen der „Entmythologisierung“ nach wie vor ein rotes Tuch. Ich kann dem hier nicht ausführlich nachgehen, will aber wenigstens exemplarisch die Problematik aufzeigen. Für Alexander Garth etwa hat liberales theologisches Denken nicht nur keine Erfolgsaussichten, worauf ich in Punkt 6 noch zu sprechen komme. Vielmehr schwächt es den christlichen Glauben, mehr noch, es zerstört ihn, da es fundamentale Glaubensinhalte negiert. „In weiten Teilen der Theologenschaft werden fundamentale Glaubensinhalte, die konstitutiv für das Christsein sind, als veraltet, unwissenschaftlich, unglaubwürdig, fundamentalistisch, mythologisch, mittelalterlich apostrophiert: Trinität, Gottheit Jesu, Wunder, Sühnetod und leibliche Auferstehung Jesu, Jungfrauengeburt.“13

Garth ist nicht nur mit seiner Benennung der „fundamentalen Glaubensinhalte“ nicht weit von den „five fundamentals“ des Fundamentalismus am Beginn des 20. Jh. entfernt, er denkt auch ganz in dessen Bahnen. Er erklärt nämlich einige willkürlich ausgewählte traditionelle Bestände des christlichen Glaubens nicht nur als fundamental, sondern hält sie auch für unumstößlich, gleichsam für unerschütterliche Fundamente. Soweit aber pflegt er lupenreines fundamentalistisches Denken.14 Und dieses Denken sowie die entsprechende Praxis mögen so erfolgreich sein wie immer: Einer kritischen Überprüfung halten sie in keiner Weise stand. Daher sind sie für ein liberales Christentum unannehmbar.

Ich denke, fundamentalistisches Denken stellt für liberales Denken keine wirkliche intellektuelle Herausforderung dar. Anders ist das mit dem seit Längerem grassierenden relativistischen Denken. Diese Herausforderung begleitet das liberale Christentum und besonders den Bund m.E. seit seinen Anfängen. Zwar wendete man sich schon immer gegen „Bekenntniszwang“, „Dogmenzwang“, „Lehrgesetzlichkeit“ u.ä.15; was hingegen im liberalen Christentum (bis auf Weiteres!) verbindlich, gültig, sein sollte, konnte man nicht sagen, da der Glaube eine individuelle Angelegenheit war und man demzufolge nur individuelle Glaubensbekenntnisse formulieren konnte.16 Damit aber drohte und droht relativistisches Denken, worunter ich hier, ohne auf die Problematik des Relativismus insgesamt eingehen zu können, ein Denken verstehe, für das alle Denkresultate gleich gültig bzw. gleichwertig sind. So aber kann man keine gemeinsame Basis finden und auch nicht formulieren, was noch christlich bzw. nicht mehr christlich ist. Daher hat sich der Vorstand des BFC im 70. Jahr des Bundes zu Recht darum bemüht, eine verbindliche Basis freien Christentums im Sinne eines Minimalkonsenses zu formulieren.17 Leider wurde dieser Vorschlag nicht breit genug rezipiert und diskutiert, vielleicht nicht zuletzt, weil eine verbindliche Basis für ein liberales Christentum nicht für nötig erachtet wurde, da es doch von der individuellen religiösen Entscheidung lebt. Ich kann den Vorschlag hier nicht weiter verfolgen, wollte nur darauf hinweisen, dass die Problematik des Relativismus im BFC sehr wohl gesehen wird, was freilich an der bleibenden Relevanz kritischer Rationalität nicht das Geringste ändert.18

 

4  Gesellschaft statt Kirche

In seinen Anfängen war der Bund stark auf die evangelische Kirche sowie auf deren für dringend gehaltene Reformen bezogen. Man sah sich zwar als „eine Minderheit im offiziellen Kirchentum“, aber als notwendig, damit „die Kirchen nicht erstarren und unlebendig werden“. Man beanspruchte gar „ein Wächteramt prophetischer Kritik an und in den Kirchen“. Nicht zuletzt wandte man sich gegen eine Kirche, die die Weite der „Volkskirche“ scheut und sich stattdessen in die Enge einer „Bekenntniskirche“ (im Sinne kirchlicher Bekenntnisse) zurückzieht.19

Diese Zeiten sind lange vorbei. Mittlerweile sieht der BFC seine Aufgabe weniger darin, in die Kirchen als vielmehr in die Gesellschaft bzw. die Öffentlichkeit hineinzuwirken. Man vergleiche dazu nur zwei der sechs Ziele, die der Vorstand des BFC 2018 so formuliert hat: „Der Bund versteht sich als Forum für offenen religiösen Dialog und sucht daher auch den Dialog mit anderen christlichen und religiösen, aber auch nichtreligiösen Positionen.“ Er will „mit Vortragsangeboten in kirchlichen Gemeinden und anderen religiösen wie nichtreligiösen Organisationen sowie mit schulischen Bildungsangeboten liberales christliches Denken und eine liberale christliche Einstellung verbreiten.“20 Demzufolge möchte liberales Christentum nicht nur ein „Sauerteig, dessen das Christentum nicht entbehren kann“ (A. Schweitzer), sein, sondern ein Sauerteig, der darüber hinaus die Gesellschaft durchsäuert. Denn diese braucht die Ermöglichung der freien Entscheidung – gerade angesichts latenter und offener psychischer Gewalt, d.h. teils raffinierter, teils massiver Manipulation, psychischen Drucks (Mobbing, Hetze) und schamloser Verführung. Sie braucht ebenso die Ermöglichung religiöser Erfahrung – gerade angesichts von Konsumismus, Egoismus und Indifferentismus. Und sie braucht nicht zuletzt dringend eine kritische Rationalität – gerade angesichts von Verschwörungsgeschichten bzw. -fantasien, absichtlichen Falschmeldungen und weit verbreiteter Leichtgläubigkeit.

 

5  Interreligiös statt intrareligiös

„Begegnung der Religionen, interreligiöser Dialog, formale und inhaltliche Toleranz, universale Offenbarung – hier schlägt das Herz des freien Christentums, und hier sieht es eine seiner wichtigsten Aufgaben. Nirgends profiliert sich das freie Christentum so deutlich, seit die historisch-kritische Auslegung der Bibel und der Bekenntnisse sowie der symbolisch-gleichnishafte Charakter allen religiösen Denkens und Redens in weiten Teilen des Protestantismus und sogar der Gesamtchristenheit Allgemeingut geworden ist.“21 An diesen Sätzen zeigt sich eine deutliche Schwerpunktverlagerung des BFC, nachdem wichtige innerchristliche Anliegen mittlerweile weitgehend realisiert sind. Das bestätigt nicht zuletzt der, wie erwähnt, 1995 beschlossene Untertitel für den BFC: Forum für offenen religiösen Dialog. Diese Offenheit liberalen Christentums brachte von Anfang an eine grundsätzlich positive Sicht anderer Religionen mit sich, die freilich traditionell inklusivistisch bestimmt war, sich aber neuerdings zumindest auch pluralistisch versteht.22

In dieser Hinsicht dürfte das liberale Christentum und mit ihm der BFC besonders zukunftsfähig sein. Denn der interreligiöse Dialog, am besten in gegenseitiger Offenheit und ohne jeglichen Anspruch auf unumstößliche Wahrheit, ist sicher auf absehbare Zeit eine der wichtigsten Aufgaben nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Dass dabei die freie Entscheidung, die religiöse Erfahrung sowie die kritische Rationalität einen eminenten Stellenwert besitzen, dürfte ohne weitere Erklärung plausibel sein.

 

6  Klasse statt Masse

„Ohne Zweifel ist christliche Freiheit bzw. freies Christentum nicht eine Sache der Majorität, sondern stets nur der Einzelnen. Die aber […] müssen den Mut eines Willens zur Minorität haben, auch um der Sache selbst willen, die, wenn die Masse sie zu ihrem Anliegen machen würde, ohne Frage und notwendig in ihr Gegenteil umgewandelt werden würde. Die Geschichte der religiösen Freiheit beweist das.“23

Ganz in diesem Sinn hat der Bund keine Massenbewegung ausgelöst, sondern ist eine Minderheit geblieben, die als Randerscheinung von den Kirchen weithin akzeptiert ist.24 Das kann nun auch kaum anders sein. Wenn man Religion bzw. speziell das Christentum als Erfolgsmodell, will sagen als Massenphänomen erleben will, sollte man nach Afrika, Lateinamerika, Asien oder auch ggf. in die USA gehen. Freilich ist Erfolg alles andere als ein triftiges ethisches Kriterium, schon gar nicht für die Maßgaben kritischer Rationalität. Für ein fundamentalistisch imprägniertes Christentum sieht das natürlich anders aus.25

Dass liberales Christentum aufgrund seiner offenkundigen Erfolglosigkeit ausstirbt, glaube ich indessen nicht. Denn mag nach dem Bonmot von Albert Einstein die menschliche Dummheit auch unendlich sein – es wird wohl immer auch suchende, fragende, zweifelnde, nachdenkliche Menschen geben, die der kritischen Reflexion einen hohen Stellenwert beimessen und das Wagnis eines reflektierten Vertrauens einer vermeintlichen gläubigen Sicherheit vorziehen.26 Und wenn gar Markus Spieker mit seiner ambitionierten „Weltvorhersage“ recht hat, stehen die Chancen des liberalen Christentums allgemein sowie des BFC besonders gar nicht so schlecht. Denn nach Spieker geht es für die Zukunft um „Räume, in denen der Glaube innovativ vermittelt und gelebt wird“. Und solche Räume werden neben „der Verankerung im christlichen Glaubensfundament“ vor allem durch Freundschaft eröffnet und gestaltet. „Die Kathedralen des 21. Jahrhunderts werden Freundeskreise sein. Orte, in denen sich Menschen freundschaftlich miteinander und mit Gott verbinden.“27 Auch wenn liberales Christentum unter dem „Glaubensfundament“ etwas deutlich anderes als Spieker verstehen wird; auch wenn seine „Freundeskreise“ viel eher interreligiös als innerchristlich sein mögen: die Perspektive der Freundeskreise ist auch für das liberale Christentum sowie für den BFC durchaus verheißungsvoll.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Deutscher Kongress für Freies Christentum (Frankfurt/M. 21.-23. September 1948), Bericht, hg. von Pfarrer Erich Meyer, Frankfurt/M., 3. Aus der „Ostzone“ hatte sich freilich nur ein Vertreter aus Berlin über die Zonengrenze gewagt, obwohl es namhafte liberale christliche Gruppen auch in Sachsen und Thüringen gab. – Der Bund wurde im Oktober 1962 in „Bund für Freies Christentum“ umbenannt, und bei dieser Benennung ist es ungeachtet mancher Diskussionen bis heute geblieben. Allerdings entschied der Vorstand 1995, den Namen mit einem Untertitel zu versehen. Dieser lautet durch Beschluss der Mitgliederversammlung vom selben Jahr „Forum für offenen religiösen Dialog“. Vgl. dazu A. Rössler, 60 Jahre Bund für Freies Christentum 1948-2008. Entwicklungen und Perspektiven, in: W. Zager (Hg.), Liberales Christentum. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Neukirchen-Vluyn 2009, (19-102) 79. – Ich rede im Folgenden abgekürzt vom Bund (1948-62 bzw. 1948 bis heute) oder vom BFC (ab 1962).

2 Bereits 1988 war die Zahl der Einzelmitglieder „auf 168 zusammengeschmolzen“, im September 2022 waren noch 113 Einzelmitglieder registriert. Vgl. zu 1988 A. Rössler, 40 Jahre Bund für Freies Christentum (1948-1988). Marksteine – Entwicklungen – Persönlichkeiten, in: Freies Christentum 40 (1988), (69-87) 82.

3 Außer den in Anm. 1 und 2 genannten Arbeiten Rösslers vgl. auch ders. und K. Bangert, 70 Jahre Bund für Freies Christentum. Eine kurze Geschichte, in: Freies Christentum 70 (2018), 86-89. Auch auf der Internetseite des Bundes kann man sich leicht einen Überblick verschaffen: www.bund-freies-christentum.de. Dort sind auch die derzeitigen Mitglieder des Vorstands, die kommende Jahrestagung (29.9.-1.10.2023) u.v.a.m. zu finden.

4 Zu wichtigen Charakteristika liberaler Theologie, die ja ein Teil des liberalen Christentums ist, vgl. W. Pfüller, Liberale Theologie gestern, heute und morgen, in: M. Großmann (Hg.), Gebildete Menschlichkeit. FS für Hans-Georg Wittig zum 80. Geburtstag, Nordhausen 2022, 149-178.

5 Deutscher Kongress, a.a.O. (Anm. 1), 2 und 25. Vgl. auch E. Meyer, Ende des Protestantismus?, „Freies Christentum“. Schriftenreihe des Deutschen Bundes für freies Christentum (Beihefte zur Monatsschrift „Freies Christentum“), Heft 2, 1952, 4, wo dieser den Protestantismus besonders dadurch gefährdet sieht, dass „der Mensch“ es kaum noch wagt, „eine selbständige Entscheidung aus eigener Gewissenshaltung zu treffen“. Vgl. auch die zweite „Entschließung“ des IV. Deutschen Kongresses für freies Christentum in Frankfurt/M. (27.-30.9.1954), in: Kirche und freies Christentum, „Freies Christentum“, Heft 14/15 (Doppelheft), 1954, 27: „Der Deutsche Bund für freies Christentum sammelt alle diejenigen evangelischen Christen, die wissen, daß die Freiheit der Entscheidung und die Wahrhaftigkeit der Überzeugung unveräußerliche Wesensmerkmale evangelischen Glaubens sind, und die deshalb jeden dogmatischen Zwang innerhalb der Kirche ablehnen.“

6 A. Rössler, Frei zur Wahrheit. Dreifache Freiheit im freien Christentum, in: W. Zager (Hg.), Wie frei ist unser Wille?, Leipzig 2020, (207-231) 224f. Gern wird dabei auch auf Joh. 8,32b verwiesen, wo der Satz zu lesen ist: „die Wahrheit wird euch frei ­machen“.

7 W. Gräb, Was bedeutet liberales Christentum im 21. Jahrhundert?, in: W. Zager (Hg.), Liberales Christentum, a.a.O. (Anm. 1), (1-17) 2.

8 Vgl. dazu W. Pfüller, Atheistische Spiritualität – Patchwork-Religiosität – Mehrfache Religionszugehörigkeit. Stichwörter zur Situation säkularisierter, multireligiöser Gesellschaften, in: ders., GOTT WEITER DENKEN. Stationen interreligiöser Theologie, Nordhausen 2019, 19-47.

9 So meint A. Garth, Untergehen oder umkehren. Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat, Leipzig 2021, 21: „Die Religionssoziologie konstatiert zwei religiöse Megatrends, die eine stimmige Erklärung für den Niedergang des Volkskirchenmodells liefern: 1. Der Niedergang institutioneller bzw. geerbter Religion. 2. Der Aufschwung individueller bzw. gewählter Religion.“ Dass Garth diesen Aufschwung für die Kirche durch einen „Paradigmenwechsel“ von der Volkskirche zur missionarischen Kirche nutzbar machen will (25), muss hier nicht weiter diskutiert werden.

10 Vgl. W. Pfüller, Das Problem der „religiösen Erfahrung“, in: ders., Theologie als Theiologie, Frankfurt/M. u.a. 1998, 31-43, sowie neuerdings ders., Religionslos, nicht areligiös. Von der Religion zum Religiösen, erscheint in: FZPhTh 70 (2023).

11 W. Gräb, Glaube aus freier Einsicht. Theologie als Lebensdeutung (Schriften zur Glaubensreform 3), Gütersloh 2015, 23. Folgendes Zitat: ebd., 24.

12 Vgl. W. Pfüller, Religionslos, a.a.O. (Anm. 10).

13 A. Garth, a.a.O. (Anm. 9), 74. Garth möchte daher auch nicht von liberaler, vielmehr von reduktiver Theologie reden, „weil hier etwas Wesensmäßiges wegreduziert wird. Theologie wird zurechtgestutzt auf ein für säkulare Menschen erträgliches Maß.“ (83)

14 Vgl. W. Pfüller, Fundamentalistisches Denken im Christentum und im Islam – und seine Überwindung, in: ders., Interreligiöse Perspektiven. Studien zur Religionstheologie und zur Komparativen Theologie, Berlin 2012, 147-161.

15 So meint A. Rössler, Denkwege eines freien Christentums, Nordhausen 2020, 283, völlig zurecht, dass jede Glaubensgemeinschaft verbindliche Glaubenssätze („Dogmen“) brauche, zeigt aber nicht, welche Sätze das für ein freies Christentum sein könnten. Vielmehr formuliert er nur die altbekannte Ablehnung einer „Sicht des Dogmas etwa im römisch-katholischen Verständnis, wonach das Dogma eine unfehlbare Glaubenswahrheit ist, eine Art Glaubensgesetz, das um der ewigen Seligkeit willen gehorsam zu bejahen ist.“

16 Immerhin formulierte Gustav Mensching, seinerzeit prominentes Vorstandsmitglied des Bundes, die folgende bemerkenswerte Kurzformel: „Christentum ist seinem innersten Lebenskern nach die Religion der in Jesus Christus erlebbar gewordenen rettenden Gottesliebe und der in ihr begründeten Nächstenliebe.“ Ders., Freies Christentum einst und heute, „Freies Christentum“, Heft 3, 1952, 17.

17 Vgl. Freies Christentum 70 (2018), 90-93. Die drei Sätze des Minimalkonsenses lauten: 1. Wir glauben an eine göttliche Wirklichkeit als die alles umfassende und alles durchdringende Heilsmacht. 2. Wir sind überzeugt, dass Jesus von Nazareth als Sinnbild einer grenzenlosen, hingebungsvollen Liebe das bislang deutlichste Zeichen dieser Heilsmacht ist. 3. Wir wollen unser Leben und Verhalten an dieser Liebe ausrichten und hoffen, dass sie über alle Zeiten hinaus wirksam bleibt. (90)

18 Auch sollte man dem liberalen Christentum bei aller kritischen Rationalität und entsprechender Nüchternheit keine Gefühlskälte vorwerfen, wie das etwa M. Spieker, Übermorgenland. Eine Weltvorhersage, Basel 2019, 186, tut. Nach Spieker nennen Soziologen „die bei uns verbreitete vernunftorientierte Art, sich Glaubensdingen zu nähern“, „kalte Religion“. „Wo der kühle Intellekt im Mittelpunkt steht, wird keine emotionale Wärme produziert, und deshalb überleben solche Glaubensformen nur, wenn die Grundtemperatur durch steuerliche Subventionen künstlich über dem Gefrierpunkt gehalten wird.“ – Abgesehen von der Überlebensfrage, die ich in Punkt 6 erörtern werde: Liberale Frömmigkeit ist durchaus nicht gefühlskalt, denn sie ist zwar kritisch-rational orientiert, aber sehr wohl gefühlsbasiert. Das belegt schon die Bedeutung der religiösen Erfahrung (s. Punkt 2). Geradezu schlagend aber belegt es Albert Schweitzer, ein Muster liberalen Christseins. Seine liberale Frömmigkeit wurde nicht von ungefähr mystisch genannt. Vgl. dazu sein Erleben der Einheit des menschlichen und göttlichen Willens bzw. des Willens Jesu; vgl. ebenso sein Erleben der Einheit allen Lebens, das ihn zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben führte – mit dem Basissatz: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. – Im Übrigen kommt es genau auf die „Grundtemperatur“ des Gefühls an: Sowohl Unterkühlung wie Überhitzung sind nicht zuträglich, wobei Letztere, die jederzeit in Fanatismus umschlagen kann, in der Geschichte (und Gegenwart) der Religionen ganz sicher den weitaus größeren Schaden angerichtet hat – Erfolg hin oder her.

19 Vgl. Deutscher Kongress, a.a.O. (Anm. 1), 1 und 12. Man vgl. auch die erste „Entschließung“ des IV. Deutschen Kongresses für freies Christentum: „Der Deutsche Bund für freies Christentum […] steht mit seinem Glauben, Leben und Arbeiten in der Evangelischen Kirche in Deutschland. […] Er selbst hat seine Arbeit darauf eingestellt, die geschichtlich gewordenen reformatorischen Kirchen zu einer lebendigen, von freier Gewissensentscheidung getragenen Gemeinschaft zu machen.“ – a.a.O. (Anm. 5), 27. Vgl. schließlich die „Hanauer Sätze zur religiösen und kirchlichen Erneuerung“ von 1968, die sich vor allem in den Sätzen 6-12 mit kirchlichen Agenden, dem Gesangbuch, Taufe und Abendmahl, Konfirmations- und Religionsunterricht, den kirchlichen Gemeinden befassen. Abgedruckt sind diese Sätze etwa in: Freies Christentum 40 (1988) 94-96, sowie in: Offenes Christentum. Ein Lesebuch, hg. von H.-H. Jenssen, Aachen 1998, 39-42.

20 Freies Christentum 70 (2018), 94.

21 A. Rössler, Einführung zum Abschnitt „Toleranz und Absolutheitsfrage“, in: Offenes Christentum, a.a.O. (Anm. 19), (204-205) 204.

22 Vgl. A. Rössler, 60 Jahre, a.a.O. (Anm. 1), 84f.

23 G. Mensching, Freies Christentum, a.a.O. (Anm. 16), 1.

24 Inzwischen (seit 2017) erscheinen die jährlichen Tagungsbände des BFC sogar in einer eigenen Reihe („Veröffentlichungen des Bundes für Freies Christentum“) in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.

25 Vgl. etwa Garth, a.a.O. (Anm. 9), 69, mit den die religiöse Markttheorie bejahenden Spitzensätzen: „Auch Religion funktioniert nach dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Wer überzeugend, vollmächtig, authentisch, begeisternd und nahe an den Menschen agiert, der wird als religiöser Player erfolgreich sein“.

26 Vgl. A. Rössler, „Wo das Evangelium ist, da ist Freiheit“. Die Bedeutung des Protestantismus heute – aus der Sicht Albert Schweitzers, in: W. Zager (Hg.), Liberales Christentum, a.a.O. (Anm. 1), (159-177) 163: „Geistige Sicherheit bietet der freie Protestantismus wenig, weil er das Suchen fördert und den Glaubenszweifel als Durchgang zur tieferen Wahrheitserkenntnis für gut heißt. Das scheint nicht wenige Christen zu überfordern.“

27 Spieker, a.a.O. (Anm. 18), 306f.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. theol. habil. Wolfgang Pfüller, Jahrgang 1951, 1986-2001 Dozent mit Schwerpunkt Syst. Theologie in Eisenach, 2001-2003 Schulpfarrer ebenda, 2003-2012 Gemeindepfarrer ebenda, 2012-2015 Ruhephase Altersteilzeit, ab 2015 Pfarrer i.R., seit 2007 Vorstandsmitglied des BFC; jüngste Veröffentlichung: "GOTT ­WEITER DENKEN. Stationen interreligiöser ­Theologie" (2019).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2023

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