Friedrich Christian Laukhard – Pfarrhaussprössling, Theologe, investigativer Journalist, Zeitgenosse der Französischen Revolution, Underdog und Whistleblower. Die Farben seines Lebens sind bunt und schillernd. Michael Finzer begibt sich angesichts seines 200. Todestages auf einen Streifzug durch dessen Leben.

 

1. Ursprünge aufklärerischen Denkens sowie sozial- und wirtschaftsethisch geprägten Verhaltens im Pfarrhaus Wendelsheim

Friedrich Christian Henrich Laukhard wurde als drittes Kind der Eheleute Philipp Burkhard Laukhard und Charlotte Dorothea d’Autel am 7. Juni 1757 im Pfarrhaus Wendelsheim/Rheinhessen geboren. Sein Vater, der lutherische Pfarrer von Wendelsheim, hatte in Halle studiert. Die beiden Söhne Friedrich Christian und Carl Philipp schlugen ebenfalls die theologische Laufbahn ein.1 Im Jahr 1763 wurde Philipp Burkhard Laukhard vom Rheingrafen Carl Magnus zu Grehweiler des Amtes enthoben. Dagegen klagte er erfolgreich beim Reichskammergericht in Wetzlar.2 Mut zur Wahrheit, Widerstandskraft und Radikalität im Umgang mit der Obrigkeit und deren Machenschaften haben also die Kinder des Pfarrers und seiner Ehefrau in Wendelsheim von den Anfängen ihres Lebens an gelernt. Im Falle des hochgebildeten Friedrich Christian sollte dies zu lebensgefährlichen Aktionen und Publikationen führen, welche ihn immer wieder in den Untergrund zwangen. Er veröffentlichte zeitweise unter Pseudonym zum Schutz der eigenen Existenz. Er entlarvte Korruption und Despotie in der damaligen Zeit. So war er im tiefsten Sinne der Geschichte ein „Kind der Aufklärung“. Naschert nennt den wissenschaftlichen Ansatz des Studenten und Hochschullehrers Laukhard eine „zynisch-aufgeklärte Religions- und Kirchenkritik“.3 Seine Neigung zur Provokation und schonungslosen Wahrhaftigkeit brachte ihm viele Gegner ein, einige davon waren viel mächtiger und finanzstärker als er, der zeitlebens mit dem Geld zwischen Soll- und Haben-Seite oszillierte und die Einnahmen aus seinen Publikationen auch zur Begleichung von Schulden benötigte. In den letzten drei Jahren seines Lebens (1819-1822) war er fast völlig in den Untergrund abgetaucht, verarmt und verschmäht. Er starb in der Nacht von 28. auf 29. April des Jahres 1822 in Kreuznach an der Nahe (heute Bad Kreuznach). Ende April 2022 war sein 200. Todestag.

 

2. Rheingraf Carl Magnus

Die Auseinandersetzung mit dem Rheingrafen war schon von seinem Vater praktiziert worden.4 Philipp Burkhard Laukhard war 1763 vom Rheingrafen seines Amtes enthoben. Drei Jahre vor der antinapoleonischen Verlautbarung hatte Laukhard seine Tyrannen-Entlarvung den Rheingrafen Carl Magnus betreffend publiziert, nämlich 1798.5 Die Friedrich-Christian-Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim hat dieses Buch im Jahre 2006 als Band 1 ihrer Schriftenreihe herausgegeben.6 „Der Verfasser, Friedrich Christian Laukhard (1757-1822), rheinhessischer Pfarrersohn und Universitätslehrer in Halle, mag ein ‚scheußlicher Trunkenbold‘ gewesen sein. Ein gewisses staatsbürgerliches Ethos und humanitäres Streben kann man ihm aber nicht absprechen. Er hatte einst im Elternhaus und später als junger Geistlicher das ‚System Carl Magnus‘ selbst miterlebt.“7

Der investigative Journalist Laukhard entlarvte insbesondere die korrupten Strukturen am Hof des Rheingrafen. Er deckte auf, dass eine Lotterie, welche angeblich sozialen und humanitären Zwecken dienen sollte, in Wirklichkeit das Luxusleben der Adligen finanzierte. Als besonders verwerflich empfindet es Laukhard, dass auch die Pfarrer gezwungen wurden, für die Lotterie im Gottesdienst bzw. von der Kanzel herunter zu werben. Für ihn bedeutete diese Tatsache eine völlige Zweckentfremdung homiletischer und liturgischer Aufgaben. Die sozialen Aufgaben des Evang. Pfarramtes wurden durch solche willkürlichen kapitalistischen Aktionen kompromittiert. In seiner Vorrede benennt Laukhard seine Intention, er macht damit das kommunikative Ziel seiner Verlautbarungen transparent öffentlich. Als strategische Kommunikation bezeichnen wir dies heute in der Öffentlichkeitsarbeit. „Es soll, als wahre Geschichte, lebhafte Abscheu vor Despotismus, Verschwendung, Leichtgläubigkeit, Betrug und dergleichen einflößen; und darum habe ich mich bemüht, die Begebenheiten so, wie sie am Grehweiler Hofe und anderwärts vorfielen, ungeschminkt, doch treu wieder vorzuführen.“8

 

3. Bonaparte und Cromwell

Im Jahr 1801 wurde das Buch „Bonaparte und Cromwell. Ein Neujahrsgeschenk für die Franzosen von einem Bürger ohne Vorurtheile“ veröffentlicht. Laukhard wird bei der Publikation als Übersetzer des Textes aus dem Französischen ins Deutsche genannt. Schon früh stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Verfasser.9

Dieser Text führte dazu, dass Laukhard am Ende seiner Zeit als Pfarrer in Veitsrodt (1804-1811) gefangengenommen und inhaftiert wurde. Napoleon Bonaparte und sein europaweites „Polizei- und Spione-System“ konnten die wahre Identität des Autors dieses anonym verfassten Buches ermitteln. Fast zweieinhalb Jahre musste Friedrich Christian Laukhard im Gefängnis in Vilsvoorde bei Brüssel verbringen. Auch im Vorwort zu dieser brisanten Schrift outet Laukhard sich namentlich.10 Am Ende des Textes wird seine Intention ganz deutlich: Seine These ist, dass die wirkliche Revolution noch gar nicht stattgefunden hat, die wirkliche Aufklärung weiter bzw. nochmals ganz neu erforderlich ist.

Dieses gesellschaftskritische, eminent politisch-geschichtliche Buch nimmt eben insbesondere Napoleon Bonaparte ins Visier. „Jetzt noch glauben alle Franzosen, die Majestät des Volkes befinde sich bei dem Volke selbst, und sei sichtbar in den vom Volk frei erwählten Repräsentanten. Aber bald wird das Volk die Augen auftun, und einsehen, dass es Sklave ist, und nach Grundsätzen regiert wird, welche Herrschsucht und Habsucht erfunden haben: dann wird es aufbrausen, seine Tyrannen niederwerfen.“11

Wiederum ist deutlich, was Laukhard wirklich will: Es geht um die Entlarvung, die Enttarnung des Scheins, die Aufdeckung der Scheinheiligkeit und die analytische Offenlegung der wirklichen Motive von Volksrepräsentanten. Der Mut, welchen ihn als religions- und staatskritischen Denker auszeichnet, muss natürlich von einem Schutz, von einer Fürsorge für die eigene Person begleitet werden. Da allerdings ist der Magister und Musketier vielfach nicht umsichtig genug gewesen.

Sich in dieser brandgefährlichen Situation, mit seiner Vorgeschichte an der Universität, als verschmähtem Professor, namentlich als Dolmetscher aus dem Französischen ins Deutsche zu nennen, ebenfalls mit abgekürztem Vornamen und voll ausgeschriebenem Familiennamen das Vorwort abzuzeichnen, war blauäugig.12 So folgte die Haftstrafe als Folge dieses Textes; der wahre Autor wurde nicht gleich enttarnt, aber über die Jahre eben dann doch. Vielleicht unterschätzte Laukhard auch die reale Macht des Napoleon Bonaparte, jedenfalls zeigte er sich hier wie auch an anderen Stellen seines Lebens als ziemlich naiv. Die antinapoleonischen Verbündeten befreiten ihn schließlich am 2. Februar 1814.13

Dirk Sangmeister resümiert: Laukhard, der „Außenseiter der Aufklärung“14, seine Ansichten und publizierten Äußerungen wurden für so gefährlich erachtet, dass das preußische Außenministerium tätig wurde. „Und dass er 1801 eine der frühesten anti-napoleonischen Schriften herausgab, verübelten ihm die Gefolgsleute Bonapartes so anhaltend, dass sie mehr als ein Jahrzehnt später kurzen Prozess mit ihm machten und ihn jahrelang wegsperrten, was das Ende aller Veröffentlichungen des Schriftstellers Laukhard markiert.“15

 

4. „Meine Kampagne in Frankreich“

Laukhards Autobiografie „Leben und Schicksale“ umfasste in ihrer maximalen Länge insgesamt fünf Bände, also die Teile I, II, III, IV und V.16 Die ersten beiden Bände waren im Jahr 1792 beim Verlag Michaelis und Bispinck in Halle erschienen. Der dritte Teil des Laukhard-Hauptwerkes umfasst die Jahre 1792-1793. In erster Auflage ist im Jahr 2022 eine neu editierte Version des dritten Teils seiner Lebensselbstbeschreibung veröffentlicht worden. Der Titel ist „Friedrich Christian Laukhard: Meine Kampagne in Frankreich“.17

In dieser Historiografie zweier Kriegsjahre (aus Soldatenperspektive) wird auch der von der Aufklärungsphilosophie und zeitgenössischen Ethik her „wehende Wind“ deutlich. Hans Peter Brandt verdeutlicht die inhaltlichen Verbindungen von Laukhards drittem Band seiner Autobiografie mit dem Denken Immanuel Kants (Königsberg/Ostpreußen, heute Kaliningrad/Russland). „Laukhard sah später bei der Niederschrift seiner Erlebnisse in Emanuel Kants 1795 erschienenem ‚philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden‘ das beste Mittel dem Krieg vorzubeugen, fügt jedoch skeptisch dazu, ‚aber dieser philosophische Erlöser predigt jetzt noch in der Wüste‘“.18

Immanuel Kants visionäre Schrift ist auch in heutiger Zeit noch sehr bedeutend bzw. relevant für Gegenwart und Zukunft. Die Utopie eines „ewigen Friedens“, die Vision eines weltumfassenden Friedenszustandes in Verbindung mit globaler Gerechtigkeit ist auch aus christlicher Sicht unaufgebbar. Biblisch kann man dies gut z.B. mit der Bergpredigt des Jesus von Nazareth begründen.

Der universal gebildete und hochintellektuelle Laukhard erfährt als Soldat, als Musketier eine ganz andere Seite des Lebens. Er durchlebt, durchleidet den Krieg von unten her, aus der Perspektive des Kämpfenden, als ein um sein Überleben ringender Mensch, dessen ganze Existenz hart auf die Probe gestellt wird. Dass er in diesem Kampf auch noch aktuell jeweils von den verschiedenen Phasen des Kriege Bericht erstattet, macht ihn und seine schriftstellerische Tätigkeit umso interessanter und relevanter in ihrer gesamten Bedeutung für die damalige Zeit und eben auch für uns heute Lebende. „‚Von einem Pfälzer‘ sind die Briefe unterschrieben, die vom Feldzug der Preußen gegen das revolutionäre Frankreich berichten. Der Autor heißt Christian Friedrich Laukhard, und man weiß nicht, was spannender ist: die Lebensgeschichte des ‚berühmt-berüchtigten Magistern‘ und Pfarrers wider Willen, der als Vagabund endet oder die Schilderungen des am Krieg zweifelnden Zeitzeugen.“19

In der kommunikationsanalytischen Retrospektive aktuell relevanter historischer Laukhard-Forschung wird deutlich, welches Repertoire er als Theologe und Öffentlichkeitsarbeiter hatte und auch wo und wie, mit welchen Mitteln und zu welchen Zwecken er dies umgesetzt hat. Erweist er sich in den Schriften über Napoleon Bonaparte (das Thema bzw. die Person Oliver Cromwell lasse ich hier jetzt einmal außen vor) und den Rheingrafen Carl Magnus zu Grehweiler als „Meister des investigativen Journalismus“, so ist er in der Kriegsberichterstattung insbesondere in den Jahren 1792-1793 tatsächlich als eine Art früher, revolutionärer „Whistleblower“ aktiv, wie Wolfgang Hörner dies formuliert hat.

 

5. Leben und Schicksale (in Auswahl)

Der erste Teil seiner eigenen Lebensschilderung ist in den ursprünglichen zwei Bänden (I-II) zu finden. Der Titel ist umfassend und findet fast auf einer ganzen Seite Platz:

F.C. Laukhards

vorzeiten Magister der Philosophie und jetzt Musketiers
unter dem von Thaddenschen Regimente
zu Halle

Leben und Schicksale

von ihm selbst geschrieben
und zur Warnung
für Eltern und Jünglinge
herausgegeben

Ein Beitrag zur Charakteristik der Universitäten
in Deutschland“20

 

Brandt schreibt in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Laukhards Autobiografie im Jahr 2013: „Mit dem jetzt vorgelegten Neudruck des 1. Bandes wollen wir eine komplette Neuausgabe seiner Selbstbiographie ‚Leben und Schicksale‘ beginnen. Sie ist die erste im 21. Jahrhundert und zugleich die einzige, die nicht mehr in der alten Frakturschrift, sondern im heute üblichen, flüssig lesbaren, Schriftbild erscheint. Am Text selbst und den ursprünglich beigefügten Fußnoten wurden keinerlei Kürzungen vorgenommen, die ursprünglich übliche Rechtschreibung beibehalten und nur ganz wenige Erklärungen oder Übersetzungen […] hinzugefügt.“21

Laukhards Lebensgeschichte, von ihm selbst erzählt, ist reichhaltig an Anekdoten, Zeitzeugnissen und spannendem Fabulieren. Diese Autobiografie, zumindest die erste Ausgabe, beinhaltet seine Kindheit und Jugend, seine Schul- und Studentenzeit.22

Die Fülle der Beobachtungen in „Leben und Schicksale“ muss viele Leserinnen und Leser in seiner Zeit mehr verwirrt als zum Verstehen herausgefordert haben. Jedenfalls ist ganz deutlich, dass er als Leserschaft nicht bloß Gebildete, Intellektuelle oder „Universitäter“ sieht, sondern dass er durchaus breite Bevölkerungsschichten wie Wirte, Soldaten und andere Berufsgruppen als Marktsegmente anspricht, im Grunde ist das ganze Volk die Zielgruppe! Immer wieder spricht er die potentiellen Konsumenten seines Werkes an, er will unterhalten, er will spannend erzählen. Dass dabei philosophisches und theologisches Gedankengut neben den Erfahrungen in Kneipen bzw. Wirtshäusern und Bordellen steht, dass er Witze sammelt und sich als Hobby-Sexualforscher versteht, das ist in seiner Komplexität nicht ganz einfach zu begreifen. Jedenfalls musste er sich zeitweise dem Pornografieverdacht aussetzen; seinen Lebenswandel bis in die nächtlichen Puffgänge, seine ständigen Verschuldungen, seine Saufgelage in allerbreitester Darstellung dem Volke vorzuführen, dazu gehört einerseits Mut, andererseits eine Art kindlicher Naivität und als existentieller Hintergrund die Einsamkeit des „Lonesome Riders“, des „ewigen Vagabunden“, welcher nicht zur Ruhe kommt. Michael Multhammer reiht Laukhards Lebensbeschreibung in die Reihe der Untergrundschriftsteller ein. Er fragt „nach dem Besonderen der Autobiographie von Dissidenten. Erzählen sie ihr Leben anders, weil sie einem größeren Legitimationsdruck ausgesetzt sind?“23

 

 

6. Fazit und aktuelle Relevanz

Das Leben des F.C. Laukhard, seine Biografie, insbesondere aber seine schriftstellerischen Werke sind in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft keineswegs zu unterschätzen. Seine Gedanken in der Vielfalt seiner hinterlassenen Werke sind eine „Fundgrube“ für der Aufklärung verpflichtete Zeitgenossen. Sie wirken fort in Richtung eines humanen Evolutionismus, einer vernunftbegabten Menschheit und Menschlichkeit im Leben der Völker in einer globalisierten Welt. Ihm gebührt ein entsprechender Platz in der geschichtlichen Würdigung seiner Zeit.

Die Vielfalt und literarische Komplexität seiner Schriften lässt seine Bedeutung für zeitgemäße Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung im Sinne journalistisch wirksamer Öffentlichkeitsarbeit so allmählich erst erahnen. Anders ausgedrückt: Erst durch neue und wieder neue Veröffentlichungen seiner Werke, deren Be- und Verarbeitung in verschiedenen Wissenschaftszweigen eröffnen sich die immensen formalen und inhaltlichen Innovationen dieses Mannes, der Leib und Leben riskierte, weder sich noch andere Personen schonte, der den Status Quo nicht als tabuisierte Grauzone betrachten wollte und dies auch nicht konnte. Er selbst bezeichnete sich als eine Persönlichkeit, welcher kein Opportunismus möglich war; sein Charakter, sein Gewissen, seine Bildung und seine Qualität als „literarisches Genie“ verboten ihm dies. Die Begriffe „Spätaufklärer“, „Radikalaufklärer“ oder „Totalaufklärer“ für Magister Laukhard und einige andere extravagante, originäre Persönlichkeiten24 sind eine heuristische Annäherung an ein historisches Phänomen.

Malte van Spankeren betitelt Professor Johann Salomo Semler in Halle als den bedeutendsten wissenschaftlichen Vertreter der protestantischen Aufklärungstheologie im 18. Jh.25 Die Aufklärung als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, als Motivation und Imperativ mit dem „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ wirkte in mannigfaltiger Form weiter. Menschen wie Laukhard gingen die von der Französischen Revolution (1789) ausgehenden Veränderungen und Impulse nicht weit genug.26

Der Lebenslauf und die vielfältigen Werke des Pfarrersohnes aus Wendelsheim in der zweiten Hälfte des 18. und im ersten Viertel des 19. Jh. legen wahrhaft „beredtes Zeugnis“ ab über seine Widerstandskraft, seinen Protest, seine Humanität, seine Visionen. Seine Bereitschaft, jeglichen Sachverhalt kritisch zu analysieren, selbst vor vermeintlichen Autoritäten in Staat und Kirche nicht halt zu machen mit dem „literarischen Sezieren“, die diversen Inhalte seiner Botschaften als freier und satirischer Schriftsteller „unter die Lupe zu nehmen“, all dies verblüfft, macht nachdenklich und lässt späten Respekt für einen Kämpfer „im Auftrag des Herrn“ aufkommen. In all dem reiht er sich ein in die Epoche der Aufklärung, welche das „Postulat einer traditionskritischen Autonomie des menschlichen Denkens“ an die oberste Stelle der Relevanzskala rückte.27

„Handle stets so, dass die Maximen deiner Handlungen als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnten“! Der von Kant entwickelte kategorische Imperativ als ethisches Postulat und Vernunftverpflichtung ist die Basis auch für Laukhards Ideen und Schriften.28 Der zu Lebzeiten vielfach geschmähte und gemobbte Magister widersetzte sich bewusst und unbewusst den gängigen Normen seiner Zeit. Das, was im NT „Skandalon“ heißt, hat auch Laukhard hervorgerufen, ganz im Sinne der provokativen Äußerungen und Zeichenhandlungen des Jesus von Nazareth. Wir wissen, wie dessen historische Existenz endete, in der Kreuzigung auf Golgatha, der „Schädelstätte“ vor den Toren Jerusalems im Jahre 30 A.D. Skandalös, anstößig, verrucht, provozierend, so wurden viele der Verlautbarungen des „Dissidenten“ Laukhard damals empfunden.

So sehr Friedrich Christian Laukhard ein „Denker der Aufklärung“ war, so war er eben nicht nur ein Vagabund und Taugenichts oder Tunichtgut, sondern auch ein Mensch, der mit seinen Ansichten und seinem Verhalten in Vielem gar nicht so in den Trend der damaligen Zeit, den gängigen Zeitgeist passen wollte. Zugleich war er Konterrevolutionär, Querdenker, Anarchist und „ewiger Rebell“. Und die Visionen, die Utopien, die er aufgrund seiner Ausbildungen und seiner immensen autodidaktischen Studien entwickeln konnte, sind damals nicht nur zum Teil verpönt gewesen, sondern zu einem großen Teil auch (noch) gar nicht verstanden worden. „Ich gestehe ganz offen und ohne alle Furcht, dass ich durch meine Erfahrungen gelernt habe, von dem System der französischen Republik besser und richtiger zu urteilen, als mancher politische Journalist, der aus Eigennutz, Hass oder Schreibsucht, bloß räsonieren und schimpfen will.“29

 

Anmerkungen

1 Vgl. das Buch: 500 Jahre Reformation in Rheinhessen. Ein Lesebuch für Alzey und Umgebung. Hrsg. von der Evang. Kirchengemeinde Alzey und dem Altertumsverein für Alzey und Umgebung. AIM Verlagshaus Frankfurt/M. 2017. Auf den S. 281-292 in diesem regionalkirchengeschichtlichen Werk ist ein Beitrag von mir zu finden. Titel: Friedrich Christian H. Laukhard. Vom Pfarrhaus Wendelsheim über die revolutionären Ideen der Aufklärung bis zur Europäischen Völkerverständigung.

2 Guido Naschert (Hg.): Friedrich Christian Laukhard (1757-1822). Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 2017. Am Ende dieses immer noch sehr aktuellen Bandes ist eine umfangreiche, sehr detaillierte Zeittafel zu finden, 211-214. Auf der Seite davor ist eine Landkarte zu „Leben und Schicksale“ und den entsprechenden Aufenthaltsorten F.C. Laukhards in den wichtigen Jahren 1792-1795 ­platziert.

3 Ebd., 10.

4 Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. Schriftenreihe der Friedrich-Christian-Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim Bd. 7, 16: „Der Graf von Grehweiler hatte ungefähr nur 40.000 Taler Einkünfte und führte doch einen fürstlichen Hofstaat, hielt sogar Heiducken und Husaren, eine Bande Hofmusikanten, einen Stallmeister, Bereiter und noch viel anderes unnötiges Gesinde. Dazu gehörte nun Geld, und seine Einkünfte reichten nicht zu.“ Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe von „Leben und Schicksale“ (LuS), welche die Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim im Jahr 2013 herausgegeben hat. Dieses Buch beinhaltet insgesamt 295 Seiten Text, auf zwei weiteren Seiten den Abdruck von einem seiner Briefe an die „Hochfürstl. Durchlaucht“ Friedrich August sowie ein Personenregister auf 21 folgenden Seiten am Ende. Die erste Ausgabe von LuS, mit der ich als Leser und Laukhard-Forscher in Berührung gekommen bin, ist die bei Koehler & Amelang in Leipzig erschiene Version, Erste Auflage 1989. Dort findet der Leser bzw. die Leserin auf den S. 507-510 einen Überblick über die einzelnen Überschriften in LuS sowie ein Verzeichnis des Anhangs ganz am Ende. Da ich in Vergangenheit und Gegenwart selektiv hauptsächlich mit den beiden genannten kurzen Versionen von „Leben und Schicksale“ gearbeitet habe und aktuell arbeite, will ich ab dieser Anmerkung folgende Abkürzung einführen: LuS2013 ist das erstgenannte aktuelle Werk aus eben diesem Kalenderjahr. LuS1989 ist das zweite genannte Buch, auf welches ich zunächst gestoßen war.

5 Ebd., 3.

6 Friedrich Christian Laukhard: Leben und Thaten des Rheingrafen Carl Magnus. Hans Peter Brandt schreibt in der Einleitung, dass dieser Text „als Lehrstück für die Erhaltung und Verteidigung von Bürgerrechten“ gelesen werden kann. Im einleitenden Teil ohne Seitenangaben.

7 Ebd., am Beginn der Einleitung.

8 Ebd., in dem Eingangsabschnitt „An die Leser!“ Ohne Seitenzahlen.

9 Friedrich Christian Laukhard: Bonaparte und Cromwell. Herausgegeben von der Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim 2011. In der Einleitung von Hans Peter Brandt wird der historische Kontext dieser umstrittenen Schrift dargelegt, 1-12.

10 Ebd., 13-17. Der „Ostersonntag“ 1801 wird als Datum des Erscheinens genannt.

11 Ebd., 91.

12 Ebd., 17. Auf S. 16 wird seine Lust an der „literarischen Inszenierung“ deutlich: „Um etwas zur Hemmung dieser unseligen Verstimmung beizutragen, habe ich die gegenwärtige Broschüre ins Publikum gegeben.“

13 Hans Peter Brandt in der Einleitung, ebd., 11.

14 Dirk Sangmeister: Vertrieben vom Feld der Literatur, 12 (im Vorwort).

15 Ebd., 13.

16 Brandt spricht von sechs Teilen mit „insges. 2.738 Seiten“, in „Laukhard als Autobiograph“. In: LuS2013, III. Dies ist allerdings als Vorankündigung zu verstehen. D.h. die Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim beabsichtigt, ein solches umfassendes Werk in Zukunft herauszubringen. Bisher existiert davon lediglich, aber immerhin Band 1 von 2013.

17 Herausgeber sind Reinhard Kaiser, Wolfgang Hörner, Tobias Roth und Stefan Reiserer.

18 Friedrich Christian Laukhards Leben und Leiden. Charivari Verlag Idar-Oberstein 2001, 33. Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Reclam Verlag Stuttgart 1993.

19 So formuliert es Wolfgang Hörner quasi als langen Untertitel in dem Aufsatz in der Rheinpfalz. In der Reihe „Abenteuerliche Lebensläufe“ der Heidenheimer Verlagsanstalt ist als erster Band dieser Buchreihe 1969 erschienen: F.C. Laukhard: Ein abenteuerliches Leben während der Französischen Revolution. Seine Zeit als Soldat von Anfang bis Ende dieser Phase seines Lebens wird ausführlich und sehr spannend auf den S. 75-161 erzählt. Dabei ist der weit größte Teil des Textes Laukhard im Originalton, wie er selbst diese Zeit in „Leben und Schicksale“ darstellt. Was diesen Band so lesenswert macht und ihn gewissermaßen als ideale Einstiegslektüre für Laukhard-Anfänger empfiehlt, ist die Tatsache, dass Laukhards eigene Sicht der Ereignisse ergänzt wird durch in kursiver Schrift gesetzten Kommentare des Bearbeiters Dr. Franz Dobmann, welcher darin den jeweiligen historischen Kontext erläutert.

20 LuS2013, Anfang des Buches.

21 Ebd., VII.

22 LuS2013, das erste Buch der geplanten insgesamt sechsbändigen Ausgabe von „Leben und Schicksale“ als Projekt der Laukhard-Gesellschaft Wendelsheim, reicht von seinen Anfängen in der Pfarrfamilie in Wendelsheim bis ins Jahr 1781, also der Zeit der beiden Vikariate, die aber nicht direkt ins Pfarramt führen.

23 So formuliert es Guido Naschert in seiner Einleitung, 15. „Wie kann ein radikaler Aufklärer, Republikaner, Religionsspötter – ein Nonkonformist – oder wie immer man ihn letzten Endes nennen möchte, für sich und sein Leben ein Allgemeines beanspruchen. Das Nonkonformistische als das Allgemeine? Eine contradictio in adjecto! Allem Anschein nach aber geschieht genau das, zumindest wenn man auf die formalen Bedingungen der Autobiographie zurückgreift.“ So ist der Wortlaut Multhammers in eben diesem Buch, 126. Vgl. Anm. 2! Vgl. zur allgemein-hermeneutischen Thematik auch Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1985.

24 Michael Multhammer nennt Laukhard in einem Atemzug mit Johann Christian Edelmann (1698-1767) und Johann Gottfried Seume (1763-1810) als solche Avantgardisten, Visionäre in seinem Aufsatz: „Für feinere Leser ist der Vortrag nicht“. Zu den Autobiographien der „Nonkonformisten“. In: Naschert, 113-143. Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792) ist hier noch in diese Reihe zu setzen. Vgl. dazu seine Autobiographie. Im Original ist sie in vier Bänden in den Jahren 1790-1791 bei Friedrich Vieweg dem Älteren in Berlin verlegt worden. Sie trug den Titel „Dr. Carl Friedrich Barths Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben“. Ich beziehe mich hier auf den Bd. 11 in der Reihe „Abenteuerliche Lebensläufe“, Heidenheimer Verlagsanstalt 1972, Titel: C.F. Bahrdt – Ein Abenteurer der Aufklärungszeit.

25 Sein Aufsatz über „Laukhard und die Hallesche Aufklärungstheologie“ dokumentiert die Hintergründe, die Laukhard stark beeinflusst haben. In: Naschert, 33. Der Beitrag in dem Buch befindet sich auf S. 21-38.

26 Guido Naschert fokussiert seine historisch-politisch-germanistische Analyse in dem Begriff „Radikalaufklärung“. Sein Aufsatz in dem von ihm selbst herausgegebenen Buch trägt den Titel: Laukhard und die Radikalisierung. Eine Fallstudie über Gründe, Motive und Faktoren „aufgeklärter“ Radikalisierung, ebd. 72-95. Vgl. Anm. 2! Laukhards Rollenübernahme geht nicht nur zurück auf die kritisch-aufklärerische Haltung und Unbeugsamkeit seines Vater Philipp Burkhard Laukhard, sondern ist speziell in seiner Studentenzeit intensiviert worden. Bei den Kämpfen zwischen Universitätsleitung und Studentenschaft in Gießen trat er schon als „Professor für Zotologie“ auf, sicher mehr als ein pubertärer Streich, auf jeden Fall ein Akt der Subversion!

27 Albrecht Beutel entfaltet in seinem Kompendium die Bedeutung von „Aufklärung“ als historischer Epochenbezeichnung, Zitat: S. 21. Auf S. 21-28 wird dies entfaltet, in geistesgeschichtlicher und kirchengeschichtlicher Hinsicht.

28 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, Marix Verlag Wiesbaden 2004. Die „Kritik der reinen Vernunft“ erschien in Erstpublikation am 23. April 1787, so Kant in seiner Einleitung dazu, 19. Ort der Abfassung war Königsberg/Ostpreußen, heute Kaliningrad, russische „Exklave“. Auf dem Klappentext, Rückseite des Werkes, kann man lesen (nach dem zitierten Kategorischen Imperativ): „Mit Immanuel Kant (1724-1804) verbindet sich ein philosophisches Werk, das vielen als der Höhepunkt der abendländischen Philosophie gilt. Seine größte Bedeutung erlangte Kant durch die drei Kritiken, die ‚Kritik der reinen Vernunft‘, die dem Rationalismus und dem Glaube an die Allmacht der Vernunft ein Ende setzten, die ‚Kritik der Urteilskraft‘ und die ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, in der Kant seinen kategorischen Imperativ entwickelte.“

29 „Meine Kampagne in Frankreich“, Vorwort „An den Leser“, 16-17.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. theol. Dipl.-Psych. Michael Finzer, Pfarrer der EKHN, Kommunikationswirt in der Kirche (GEP); Arbeitsakzente im letzten Jahrzehnt: verschiedene Publikationen in Richtung Bibel in hochdeutscher Sprache und rheinhessischer Mundart, diverse Veröffentlichungen als Lyriker und Theologe (z.B. über "Weinheilige und Rebenpatrone") in lokalen Heimatjahrbüchern; letzte Publikation: "Wein in der Bibel. Texte zum Thema Wein aus der Lutherbibel 2017 mit theologischen Kommentaren" (2018).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2023

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