Die Corona-Pandemie hat die traditionellen Gottesdienstgewohnheiten kräftig durcheinandergewirbelt und in Frage gestellt. Danach darf manches wieder zur Ruhe kommen; in die eingefahrenen Gleise sollten wir jedoch nicht mehr zurückkehren, sondern vielmehr die Chance zum Aufbruch und zu kreativer Veränderung nutzen, meint Carsten Haeske.*

 

Ein ver-rückter Gottesdienstraum

Der Kirchraum der Evang. Kirche am Markt in Essen-Kettwig im November 2021: Eine Künstlerin hat die Kirchbänke verschoben und aufgetürmt und so einen „ver-rückten“ Raum kreiert.1 Entselbstverständlichung im Kirchraum: Vermeintlich Unverrückbares kommt in Bewegung. Das Neue eröffnet neue Perspektiven in der altbekannten Ordnung.

Für mich ist das ein Bild für das, was Corona mit dem Gottesdienst gemacht hat. Die Pandemie hat die Rahmenbedingungen für den Gottesdienst auf den Kopf gestellt. Sie hat einen „ver-rückten“ Raum kreiert, der das Selbstverständliche entselbstverständlicht und Neues freigesetzt hat. Beim Gottesdienst kam alles in Bewegung: die Orte, die Zeiten, die Formate; die Medien, die Liturgien, die Rituale, die Beteiligung.

In dem ver-rückten Essener Kirchraum war Gottesdienst nicht mehr möglich wie bisher. Der Weg zum Altar war verbaut. Die Kanzel – nicht mehr das Zentrum, auf das sich alle Augen richten. Der Mittelgang – versperrt! Die Liturgin musste einen neuen Ort finden und eine neue Rolle. Auch die Gemeindeglieder waren gezwungen, neue Plätze und damit neue Perspektiven einzunehmen. Die Ausrichtung des gottesdienstlichen Geschehens veränderte sich, ebenso wie das Sehen und Gesehenwerden. Der neue Kontext provozierte eine neue Art, Gottesdienst zu feiern.

Das eigentlich Spannende aber war: Durch das Verrücken der alten Sitzordnung entstanden neue Räume. In der neuen Mitte tat sich ein Frei-Raum auf, ein Kommunikationsraum, der dazu herausforderte, den Gottesdienst neu ins Gespräch zu bringen.

 

 

Das traditionelle Bild vom Gottesdienst ist ver-rückt

Die Pandemie hat unser Bild vom Gottesdienst verrückt. Das Pflichtprogramm konnte nicht länger stattfinden. Aber dadurch entstanden neue Räume; Freiräume für Diskussion und Innovation. Durch den veränderten Kontext brachen neue Fragen auf, ganz praktische, aber auch hoch theologische, etwa zum Abendmahl: Kann man es digital feiern? Wie verändert es sich, wenn es plötzlich ausschließlich mit Einzelkelchen gefeiert wird? Und: Hat es überhaupt jemand vermisst? Oder zum Segen bei den Kasualien: Können Angehörige bei der Konfirmation die Jugendlichen einsegnen? Dürfen Eltern selbst ihr Kind taufen, wenn die Pfarrperson aus etwas Entfernung im Raum die Taufformel spricht? Lange wurden gottesdienstliche Themen nicht mehr so intensiv diskutiert.

Die Pandemie hat die Hemmschwelle für Experimente gesenkt. Plötzlich war vieles möglich, was zuvor undenkbar schien. Bei den Verantwortlichen zeigte sich eine große Bereitschaft zur Weiterentwicklung und Veränderung gottesdienstlicher Formate. Selten zuvor waren Haupt- und Ehrenamtliche in diesem Umfang so kreativ. Sie brachen aus Routinen aus und entwickelten neue Ideen und Konzepte, mit Lust und Zeit und Fantasie. Weil der Freiraum dafür da war.

Einige der neuen Formate waren sehr schlicht: Balkonsingen, Kerzen-ins-Fenster-Stellen, Glockengeläut, Kreidebotschaften auf der Straße, Ostersteine; so schlicht, dass ich mir oft nicht sicher war: Ist das schon oder noch oder überhaupt Gottesdienst? Inzwischen haben auch diese Formen einen Namen: „para-gottesdienstlich“, weil es da von meiner eigenen Gestimmtheit abhängt, ob ich darin einen Gottesdienst erkenne oder nicht.

 

Veränderte Gottesdienstlandschaft

Corona hat als Katalysator die bereits bestehende Ausdifferenzierung der Gottesdienstlandschaft drastisch beschleunigt und den experimentellen Charakter des Gottesdienstes gestärkt. Was als „Gottesdienst“ wahrgenommen wird, ist fluider geworden, flexibler und mobiler, kürzer und elementarer, sinnlicher und interaktiver. Und auf allen Ebenen vielfältiger: analog, hybrid und digital. Die Zukunft des Gottesdienstes bleibt mehrgleisig. Das ist gut so, weil dies die Chance erhöht, mit dem Evangelium sehr unterschiedliche Menschen zu erreichen.

In der Vielfalt stellt sich die Frage: Was ist „richtiger“ evangelischer Gottesdienst? Luther bestimmt in seiner später berühmt gewordenen Torgauer Formel den Gottesdienst nicht inhaltlich, sondern formal, als Dialog zwischen Gott und Mensch.2 Weil es ihr auf diese Begegnung ankommt, hat evangelische Gottesdiensttradition schon immer eine große Freiheit gegenüber der Form besessen. Auch die Bekenntnisschriften legen sich inhaltlich nicht auf ein bestimmtes Gottesdienstformat fest. Die Confessio Augustana, die Gottesdienst und Kirche zusammendenkt, hält „Wort und Sakrament“ für „genug“ („satis est“, CA7). Wie Verkündigung und Sakramentsverwaltung geschehen soll, ist nicht vorgegeben.

Ein solch funktionales Verständnis eröffnet große Freiräume für die Gestaltung von Gottesdiensten. Im Umkehrschluss könnte man sagen: Keine Liturgie an sich ist heilig. Gottesdienst kann nicht von einer bestimmten Form her definiert oder auf sie begrenzt werden. Vielmehr stehen verschiedene Gottesdienstformen gleichberechtigt nebeneinander. Evangelischen Gottesdienst gibt es nur im Plural. Die Vielfalt ist geradezu sein Marker. Neuerdings wird daher vorgeschlagen, statt von „dem“ Gottesdienst nur noch von „gottesdienstlichem Leben“ zu sprechen; ein Begriff, der Offenheit zum Ausdruck bringt und theologisch nicht besetzt ist.3

 

Aufbruch und Abschied

„Aufbrechen“ hieß das Projekt in Essen-Kettwig. Das ist doppeldeutig: Das Alte aufbrechen, hinterfragen. Aber auch: Aufbrechen zu neuen Ufern. Aufbruch bedeutet auch Abschied. Die Ortspfarrerin schreibt dazu: „Der verschobene Raum lässt mich spüren, was Aufbruch von uns verlangt. Sich entheimaten. Befremden. Den Unwillen, die Verlorenheit empfinden. Es gibt noch keine Lösungen, nichts ist fertig. Aber die Bewegung ist da.“4 Ich finde, das beschreibt treffend die Situation, in der wir uns zurzeit in Bezug auf den Gottesdienst befinden. Veränderungen erscheinen bedrohlich, denn sie bedeuten auch Verlust von Vertrautem. Mit Widerständen ist zu rechnen, Protest und Trauer sind wahrscheinlich.

Auch in Essen gab es Widerstand. Das Projekt war überhaupt nur durchsetzbar, weil sich die Künstlerin verpflichtete, den verrückten Raum nach acht Wochen wieder zurückzubauen, die alte Ordnung wieder herzustellen. Und dennoch gab es Ärger in der Kerngemeinde. Einige treue Gemeindeglieder blieben fern, weil sie nicht auf ihren Stammplätzen sitzen konnten.

Solche Beharrungstendenzen gibt es nicht nur im Kleinen. Mit dem Abklingen der Pandemie zeigten sie sich in den Landeskirchen auch im Großen. Der anfängliche Elan ebbte ab. Kirchengemeinden fielen in die gottesdienstlichen Formen vor der Pandemie zurück. Sie kehrten zurück in die Handlungssicherheit gebenden Routinen, obwohl sie zugleich beobachten, wie das Vertraute bröckelt.

 

Gottesdienste im Sog des Relevanzverlustes der Kirchen

Die sonntägliche Feier ist schon lange nicht mehr der liturgische „Normalfall” (Meyer-Blanck). Vielmehr lässt sich seit Jahren „eine dramatische Marginalisierung”5 des Sonntagsgottesdienstes feststellen. Schon vor Corona hatten sich die Besuchszahlen im Sonntagsgottesdienst seit der Wende, also in nur einer Generation, halbiert.6 Durch Corona sind sie gefühlt nochmal um Hälfte eingebrochen, auch wenn das regional differenziert betrachtet werden muss. Die Beteiligung schwindet nicht nur aus demographischen Gründen, sondern v.a., weil der Relevanzverlust von Kirche den Gottesdienst mit voller Breitseite trifft. Gottesdienst in seiner agendarischen Form wird, wenn überhaupt, nur noch von den Insidern als plausibel erlebt. Und wenn die Zahlen künftig weiter sinken, worauf vieles hindeutet,7 dann macht ihn das nicht attraktiver. Viele der Älteren haben inzwischen zum Fernsehgottesdienst gewechselt und andere haben entdeckt, dass man den Sonntagvormittag auch ganz anders verbringen kann als in der Kirche.

Für die Gemeinden entsteht damit nicht nur soziologisch, sondern auch theologisch ein Problem: Das Überangebot des Immergleichen und Ähnlichen für einige Wenige engt die Möglichkeit ein, das Evangelium zu kommunizieren. Das aber genau ist unser Auftrag: Dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen mit der Botschaft von Gottes Liebe in Kontakt kommen. In einer pluralen Gesellschaft braucht es dafür plurale Gottesdienstformate, einfach um die Kontaktflächen mit dem Evangelium zu vergrößern.8

Im Gegensatz zum Sonntagsgottesdienst haben die biographiebezogenen Gottesdienste in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Schulgottesdienste, Tauffeste und Segnungsgottesdienste, etwa zum Valentinstag, sind beliebt. Auch die Kasualien haben sich in den letzten Jahren ent-selbstverständlicht, schon vor Corona. Aus der Selbstverständlichkeit sie wahrzunehmen, ist eine Wahloption geworden.9 Heute zählt das Besondere, die individuelle Gestaltung, die im Vorfeld oft mit einem zeitaufwändigen Aushandlungsprozess verbunden ist. So bekommt das Kasualgespräch häufig den Charakter eines Verkaufsgesprächs, was wiederum mit dem Selbstverständnis vieler Kolleginnen und Kollegen kollidiert, die darin eher eine missio­narisch-diakonische Möglichkeit sehen.

 

Strukturwandel und Haltungswechsel

Im Lockdown machten gerade viele kirchlich Distanzierte (Menschen also, die einen Sonntagsgottesdienst nicht vermissen) die Erfahrung, dass etwas fehlt, wenn keine Trauerfeier, Taufe oder kirchliche Hochzeit begangen werden kann. Umgekehrt waren Pfarrerinnen und Pfarrer plötzlich bereit, Dinge zu ermöglichen, die sie zuvor noch abgelehnt hatten, wie eine Trauung unter freiem Himmel. Nicht selten vollzog sich (etwa bei Schulgottesdiensten oder Konfirmationen) auch ein Haltungswechsel: von der Komm- zur Geh-Struktur, aber auch ein Wechsel von der Institutionsperspektive hin zur Perspektive der Kasualbegehrenden, woran sich in vielen Fällen die Frage nach der individuellen Relevanz des Gottesdienstes entschied.

Und noch etwas veränderte sich in der Corona-Zeit: Kasualien fanden oft in Häusern oder Gärten statt. Familien mochten das, weil sie als Gastgebende quasi ein „Heimspiel“ hatten. Und Pfarrerinnen und Pfarrer erhielten positive Rückmeldungen für die individuelle Gestaltung der Feier. Daher kommt jetzt häufiger die Frage, ob man nicht dauerhaft bei dieser Praxis bleiben könne. Ich denke, hier müssen wir aufpassen, dass diese Gottesdienste durch den privaten Rahmen nicht ihren öffentlichen Charakter verlieren. Kasualien sollten weiterhin an Orten stattfinden, die für alle offen sind.

Vor dem Hintergrund aller Veränderungen beschäftigen mich zurzeit v.a. zwei Fragen: Wie halten wir die Vielfalt und die vielen positiven Erfahrungen, die veränderten Haltungen und innovativen Impulse aus der Coronazeit wach und wie schaffen wir uns Freiräume, um sie weiterzuentwickeln?

 

Zeit für Richtungsentscheidungen

Gottesdienstverantwortliche, die zu den alten Formaten zurückkehren und parallel dazu versuchen, die neuen Formate beizubehalten, überfordern sich. Das Additionsprinzip führt schnell zu Erschöpfung und ist langfristig mit knapper werdenden Ressourcen an Personal und Zeit und Finanzen nicht zu schultern. Außerdem fördert es eine Haltung, die das Neue eher als Zusatz betrachtet, als Kür, die im Zweifelsfall wieder entfallen kann, während das Althergebrachte als Pflicht gilt. Das lässt sich am Beispiel der digitalen Gottesdienste sehen, die von vielen lediglich als Überbrückungsformate angesehen und daher nach Rückkehr in die analoge Welt meist wieder eingestellt wurden.

Daher nochmal: Wie erhalten wir die neuen Ideen zum Gottesdienst und wie kommt künftig Innovation ins System? Geht das nur von unten nach oben oder auch umgekehrt? Ich denke: Ohne Leitung und ohne Unterstützung wird es nicht gehen! Die gegenwärtige Situation verlangt proaktives, gemeindeübergreifendes Leitungshandeln. Jetzt ist die Zeit für Richtungsentscheidungen.

Mit dem bottom up ist das so eine Sache. In der Kirche sind viele aktiv, die eher auf Bewahrung als auf Veränderung ausgerichtet sind. Gerade die, die zu entscheiden haben (in Kirchenvorständen und Synoden), wollen oft den Status quo bewahren! In der Regel entscheiden gerade die über die Zukunft, die sich in den jetzigen Formaten wohlfühlen und keinen Änderungsbedarf sehen. Und das verhindert den Aufbruch.

Aber auch mit dem top down ist das so eine Sache. Viele wittern da Bevormundung. Meiner Erfahrung nach können „von oben“ getroffene Entscheidungen aber auch entlastend sein. Ein Beispiel aus meiner westfälischen Kirche war dafür die dringliche Empfehlung, aufgrund der Pandemie die präsentischen Weihnachtsgottesdienste 2020 abzusagen; eine Entscheidung, die in den Gemeinden überwiegend dankbar und mit Erleichterung aufgenommen wurde.

 

 

Kreativdirektor*innen für die Kirche?

Wie also kann Unterstützung „von oben“ aussehen? Eine Kollegin aus der Nordkirche hat vorgeschlagen, in der Kirche theologische Kreativdirektorinnen und -direktoren zu installieren. Genau das könnte die Aufgabe der mittleren Leitungsebene sein: „nicht im laufenden Geschäft des Alltäglichen unter[zu]gehen, sondern im Sinne des … epískopos (Bischof) aus der Distanz des Überblicks heraus Ideen in die kirchliche Arbeit ein[zu]speisen.“10

Bei Gottesdienstberatungen merke ich immer wieder: Kirchengemeinden denken Gottesdienstentwicklung fast ausschließlich parochial. Beim Gottesdienst gibt es nur wenige Kontakte und Kooperationen über die eigenen Gemeindegrenzen hinaus. Superintendentinnen und Dekane könnten hier den übergemeindlichen Blick einbringen, gottesdienstliche Veränderungen mutig vorantreiben und so selbst zu Agent*innen des Wandels werden.

 

Zehn konkrete Vorschläge

1. Bestandsaufnahme machen!

Gottesdienstentwicklung ist (auch!) Aufgabe der mittleren Leitungsebene. Voraussetzung ist eine kritische Bestandsaufnahme des gottesdienstlichen Lebens im jeweiligen Gestaltungsraum. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich Fragen zum Gottesdienst zu stellen: Warum tun wir, was wir tun? Wo hängen wir fest? Was hat sich überlebt? Was kann bleiben? Was soll sich verändern? Wo tun sich neue Wege auf? Und: Was werden wir lassen? Wenn nichts passiert, bleibt alles so, wie es ist, nur unter erschwerten Bedingungen. Damit wäre nichts gewonnen.

2. Zum Lassen ermuntern!

Es ist grundsätzlich nicht sinnvoll, dass Gemeinden flächendeckend gottesdienstliche Parallelprogramme anbieten. Nicht alle müssen alles machen, kirchliches Handeln ist ohnehin immer fragmentarisch. Leitende auf der mittleren Ebene sollten Gemeinden ermutigen sich zu beschränken und auch dazu auffordern zu „lassen“. Kirchenvorstände trauen sich, oft wider besseres Wissen, nicht, etwas zu ändern. Es braucht die Erlaubnis, Gottesdienstformen, die nicht mehr tragen, aufzugeben, und klare Ansagen, was nicht mehr geht. Wenn uns Corona eines gezeigt hat, dann das: Wo es Freiräume gibt, da entstehen Kommunikation und Innovation, Kraft und Fantasie für Neues.

3. Nach geistlichem Potenzial suchen!11

Es geht nicht darum, der Logik eines alternativlosen Rückbaus zu folgen. Auch wenn das zunächst einleuchtend erscheint und gut gemeint ist, Rückbau erschwert die Teilhabe am Gottesdienst, gerade in den ländlichen Räumen. Vielversprechender ist es, Gemeinden in eine Suchhaltung zu bringen, die fragt: „Wie kann hier mit den vorhandenen Ressourcen etwas entstehen und nachhaltig werden, was unserm Kontext entspricht und im besten Sinne Gottesdienst ist?“ Die Suche kann damit beginnen, Formate wahrzunehmen, die gottesdienstlichen Charakter haben könnten: Was in unserer Region hat geistliches Potenzial? Welche Angebote passen in unseren Kontext?12

4. Experimentierräume öffnen!

Leitende auf der mittleren Ebene können ein Klima der Veränderung im gottesdienstlichen Leben fördern und zu einer Kultur des Experiments ermutigen. Hilfreich für die Einrichtung einer solchen Ermöglichungskultur ist die Haltung des Zutrauens. In „Erprobungsräumen“ können experimentelle Formen von Gottesdienst bewusst gefördert werden, finanziell sowie durch Beratung und Begleitung.

Schon jetzt stehen Leitungsgremien vor der Entscheidung, wie viel der verbleibenden Ressourcen (an Zeit, Geld, Technik und Personal) sie künftig in welche Gottesdienstformate investieren werden. Leitende können Gemeinden ermutigen, Gottesdienstressourcen nicht „wie üblich“ zu verteilen, sondern gezielt Prioritäten zu setzen. Sie selbst sollten Geld für neue Ideen mittelfristig auch im Haushalt des Dekanats oder Kirchenkreises verankern. Budget-Entscheidungen sind im Kern immer auch theologische Entscheidungen, denn sie beeinflussen, in welchem Maße und über welche Kanäle das Evangelium kommuniziert wird.

5. Strategien für digitale Gottesdienste entwickeln!

„Unsere Gottesdienstkultur wird nach der Pandemie nicht mehr dieselbe sein. Auf die neu entdeckten digitalen Formate werden wir künftig nicht mehr verzichten“ (A. Kurschus). Diese bieten zumindest die Chance, mit dem Evangelium Menschen zu erreichen, die die Schwelle eines Kirchraums nicht überschreiten würden. Leitung auf der mittleren Ebene kann die Gründung von Projektgruppen fördern, die sich zum Ziel gesetzt haben, digitale Formate qualitätsvoll und dauerhaft zu etablieren, und Planstellen dafür einrichten.

6. Unterstützen!

Sowohl für die Reduzierung von Gottesdiensten als auch für die Etablierung neuer Gottesdienstformate ist Leitungsunterstützung erforderlich. Werden Gottesdienste reduziert oder in ihrem Format verändert, so ist der Konflikt mit den regelmäßig am vertrauten Gottesdienst teilnehmenden Menschen vorprogrammiert. Um Kirchenvorstände für das Wagnis zu gewinnen, Prioritäten zu verschieben und sich auch anderen Altersgruppen und Milieus zuzuwenden, brauchen diese Rückendeckung. Leitungspersonen können bei Konfliktgesprächen vermitteln, indem sie darauf hinweisen, dass die Form, die das Evangelium kommuniziert, nicht mit dem Evangelium selbst verwechselt werden darf. Zugleich können sie Kolleginnen und Kollegen den Rücken freihalten und sie ermutigen, neue Ideen auszuprobieren, und Strukturen dafür schaffen, um dies dauerhaft zu ermöglichen.

7. Kooperation stärken!

Es ist Zeit, regionale Gottesdienstkonzeptionen und gemeinsame Strategien für die arbeitsteilige Zusammenarbeit in der Region zu entwickeln. Gemeinden in einem Kooperationsraum sollten ihre Gottesdienstprofile untereinander abstimmen mit dem Ziel, eine möglichst vielfältige Gottesdienstlandschaft in der Region zu entwickeln, auch im ländlichen Raum. Um die Parochiefixierung in den Köpfen zu überwinden, braucht es bei allen Beteiligten die Bereitschaft, Konkurrenzdenken und Eigeninteressen zurückzustellen und stattdessen auf das solidarische Miteinander zu fokussieren und Aufgaben gemeinsam und übergemeindlich zu schultern. Bei Pfarrkonferenzen z.B. könnte thematisiert werden, dass es ein wesentliches Element des evangelischen Glaubens ist, Kirche gemeinschaftlich und übergemeindlich zu denken.

Zugleich lässt sich überlegen, wie der Gottesdienst selbst zur gemeinsamen Kraftquelle für Innovation werden kann. Bei sich abzeichnender Pfarrstellenreduktion werden für den Gottesdienst verstärkt Fragen der berufsübergreifenden Zusammenarbeit sowie der Mitwirkung des Ehrenamts relevant. Interprofessionelle Pastoralteams können zu Orten der gemeinsamen Gottesdienstplanung werden.

8. Qualität sichern!

Der Gottesdienst braucht eine tiefgreifende Qualitätsdebatte. Das setzt Offenheit, Kollegialität und die grundsätzliche Bereitschaft voraus, sich im Interesse der feiernden Gemeinde weiterentwickeln zu wollen. Ein wichtiges Qualitätsinstrument ist Feedback. Um Bestehendes weiterzuentwickeln, ist es wichtig, Resonanzräume für Rückmeldungen zum Gottesdienst zu schaffen und eine neue Gesprächskultur. In den letzten Jahren wächst im Pfarrdienst die Bereitschaft, für eigene Gottesdienstentwürfe die Rückmeldungen anderer zu erbitten. Durch kollegialen Austausch wird Team- und Kritikfähigkeit, aber letztlich auch die Qualität von Gottesdienst und Predigt gestärkt. Gottesdienst- und Predigtcoaching sind adäquate Instrumente, sich qualifiziertes Feedback auch zum eigenen Auftritt im Kirchraum oder im virtuellen Raum geben zu lassen. (Dazu eine wertschätzende Idee aus Westfalen: Hier verschenkt ein Kirchenkreis Gottesdienst-Coaching-Gutscheine als Dank für die Mitarbeit bei Visitationen.)

9. Gastfreundschaft pflegen!

Es soll Gemeinden geben, in denen bei der Entwicklung einer gastfreundlichen Grundhaltung, die Menschen zum Wiederkommen verlockt, noch Luft nach oben ist. Für diese regt die Badische Landeskirche Gottesdienstteams an, die sich die „Pflege einer Kultur der Gastfreundschaft zur Aufgabe“ 13 machen. „Sie üben eine Haltung des Respekts, des Interesses, der Sensibilität und der Freundlichkeit gegenüber ‚Neuen‘ im Gottesdienst ein, und werben dafür in der ganzen Gemeinde. Sie pflegen den Kontakt zu Gästen und ‚Neuen‘ und geben den Verantwortlichen für den Gottesdienst hilfreiche Rückmeldungen über deren Erfahrungen. Insbesondere achten sie darauf, dass es im Zusammenhang mit dem Gottesdienst nicht zu Erfahrungen des Ausgeschlossenseins (z.B. durch Gruppenbildung beim ‚Kirchkaffee‘) kommt, dass Gottesdienste auch für ‚Gäste‘ mitvollziehbar sind und dass Menschen sich auch ‚auf Zeit‘ beheimatet fühlen können.“14 Leitende können Gemeinden dazu anregen, die Haltung, sich neuen Gästen aktiv zuzuwenden, in Schulungen einzuüben.

10. Kasualien als Chance sehen!

Biographiebezogene Gottesdienste bieten die große Chance, an den Schwellensituationen des Lebenslaufs Menschen zu erreichen, die nur selten an Gottesdiensten teilnehmen. Leitende sollten für eine Haltung werben, die sich Zeit nimmt für die individuellen Mitgestaltungswünsche der Kasualbegehrenden. Hier geht es um persönliche Relevanz. Auf Kirchenkreis- bzw. Dekanatsebene kann Leitung die Entwicklung von Kasualagenturen fördern und Debatten um neue Modelle der Kirchenmitgliedschaft anstoßen.

Diese Impulse klingen wie Zumutungen. In der „Zu-Mutung“ steckt aber auch der „Mut“ aufzubrechen. In komplexen Systemen ist es egal, an welcher Stelle man damit beginnt.

„Die alten Kirchenbänke haben sich
auf den Weg gemacht.
Jahrzehntelang standen sie verlässlich an ihrem Platz.
Waren uns eine sichere Bank.
Über Nacht haben sie sich aus ihrer
festen Verankerung gelöst.
Neue Positionen eingenommen.
Ihren Standpunkt geändert.
Sich auf Neues eingelassen.
Sind aufgebrochen.
Die alten Kirchenbänke –
sind uns ein Stück voraus.“15

 

Anmerkungen

* Für die Veröffentlichung ergänzte und überarbeitete Fassung meines Impulsvortrags vor der westfälischen Superintendent*innen-Konferenz am 5.12.2022 in Bielefeld.

1 Ev. Kirchengemeinde Kettwig (Hg.), aufbrechen. Installation in der Ev. Kirche am Markt zu Kettwig von Dorothee Bielfeld, Essen 2021 (Ausstellungskatalog, ISBN 978-3-9823956-0-9). Vgl. auch www.bielfeld.de/aufbrechen.html.

2 Im Gottesdienst geschehe nichts anderes, als „dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“ (Martin Luther, Predigt bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau, 1544, WA 49, 588, 16-18).

3 Benjamin Stahl, Transformations- und Reformationsprozesse gottesdienstlichen Lebens, Vortrag bei der Liturgischen Konferenz am 22.11.22 in Hildesheim.

4 Silke Althaus in: Ev. Kirchengemeinde Kettwig (s. Anm. 1), 29.

5 Christian Grethlein, Gottesdienst in Deutschland – im Umbruch! Einige Überlegungen zur Zukunft des evangelischen Gottesdienstes, ZThK 118 (2021), 122-140, 134.

6 A.a.O, 123f.

7 V.a. beunruhigt hier der prognostizierte massive Rückgang der Kirchenmitgliedschaft. Ging die Freiburger Studie (2019) noch davon aus, dass die beiden großen Kirchen in Deutschland bis 2060 die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren werden, so dürfte diese Prognose längst durch die Corona-Pandemie überholt sein. Demografische Verluste, fehlende Taufen und steigende Kirchenaustritte und wachsende Distanz zur Kirche werden sich in den kommenden Jahren drastisch auf den Kirchgang auswirken. Dazu kommt, dass die jüngere Generation schon jetzt Gottesdienste deutlich seltener besucht als die ältere. Vgl. Carsten Haeske, „Je jünger desto seltener“ – Die Generationen im Gottesdienst, PGP 2 (2020), 46-48.

8 Vgl. dazu etwa Uta Pohl-Patalong, Kirche gestalten, Evang. Theol. 82/6 (2022), 438-449, 445.

9 Vgl. Emilia Handke, Besondere Momente segnen. Kasualtheoretische Perspektiven, Evang. Theol. 82/6 (2022), 407-421, 408.

10 Michael Domsgen, Kirchenentwicklungsprozesse quergelesen. Ein Blick auf das, was ist, was es braucht und was fehlt, Evang. Theol. 82/4 (2022), 256-265, 264.

11 Vgl. dazu Stahl (Anm. 3).

12 Im letzten Winter ergaben sich z.B. neue Chancen im Umfeld von Winterkirchen (gemeinsames Essen, generationsübergreifender Gottesdienst, Verkündigung auf Augenhöhe, kürzere und interaktivere Formate). Vgl. das Padlet t1p.de/Winterkirche.

13 Landessynode Baden (Hg.), „Leben aus der Quelle 2.0“ (2018), 65f, zit. nach: Matthias Kreplin, Menschen für den Gottesdienst gewinnen. Impulse zur Weiterentwicklung des gottesdienstlichen Handelns, Pastoraltheologie 109 (2020), 357-370, 362.

14 Landessynode Baden (Hg.), „Leben aus der Quelle 2.0“ (2018), 85f, zit. ebd. (Anm. 13).

15 Christian Hündlings, in: Ev. Kirchengemeinde Kettwig (s. Anm. 1), 6.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Carsten Haeske, Jahrgang 1963, Pfarrer und Pädagoge, stellvertretender Leiter des Instituts für Aus-, Fort- und Weiterbildung der Evang. Kirche von Westfalen (Villigst), Fachbereichsleiter Gottesdienst und Kirchenmusik, Ausbilder für Liturgische Präsenz, systemischer Coach, Vorsitzender des Ausschusses für Gottesdienst und Kirchenmusik der EKvW sowie des Liturgischen Ausschusses der UEK.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2023

1 Kommentar zu diesem Artikel
11.06.2023 Ein Kommentar von Dr. Kurt Schröder,21037 HH Spadenl. Weg2 Ein Hauptproblem: die Gemeinde kann sich den Pastor nicht aussuchen, der Pastor nicht die Gemeinde. Bei jedem Konzert entscheidet der Hörer, ob er bereit ist , für seine Teilname zu bezahlen.
Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.