Während der Corona-Pandemie geschah im regionalen Privathörfunk etwas Neues: Die Rundfunkmacher entdeckten das Gottesdienstformat und suchten die Zusammenarbeit mit Kirchen vor Ort. Christoph Lefherz berichtet über ein Experimentierfeld in Nordbayern, das sich als innovativ und erfolgreich für Gemeinden und Sender erweist.

 

„(Jingle) Radio Plassenburg, mein Sender, meine Tipps! (Programmchef) Ich bin Markus Weber und ich freu mich sehr, dass wir heute eine waschechte Premiere haben, nämlich den allerersten Radiogottesdienst in unserer Geschichte. Gerade jetzt, in diesen Corona-Zeiten, in denen die Gottesdienste in den Kirchen ausfallen, wollen wir Ihnen eine Alternative bieten und ich wünsche Ihnen jetzt schon eine gute Zeit!“

Das war direkt am Anfang des Corona-Lockdowns 2020. Unter dem Eindruck der abgesagten, später untersagten Gottesdienste sendeten oberfränkische Privatradios Radiogottesdienste – ein neues Phänomen. Bis heute schreibt „Evangelisch.de“: Im Privatfunk finden sich keine Gottesdienstübertragungen mit Rücksicht auf das Programmumfeld.

Auch aufsehenerregend, weil das Zuhörer*innen-Feedback zu 100% positiv und in der Menge überwältigend war selbst für Radioleute. Außerdem haben von der Service-Moderatorin bis zum Morning-Show-Man die Zugpferde des Radioprogramms die Gebete gesprochen und Bibeltexte gelesen.

Evangelische Dekanate und Privatsender in Nordbayern haben sich in einer Ausnahmesituation zusammengetan. Es hat gefunkt, und zwar so erfolgreich, dass ein Sender bis heute jeden Sonn- und Feiertag einen Gottesdienst ausstrahlt – das kann nicht nur an Corona liegen. Vielleicht ist es das hemdsärmelig erfundene neue Gottesdienst-Format, vielleicht hat Corona aber nur das beschleunigt, was in der Luft lag – und auch in anderen deutschen Regionen funktionieren könnte. Denn die Radiogottesdienste passen zu langfristigen Entwicklungen und zukünftigen Strategien von Kirchen und Sendern.

 

Gottesdienste im Radio

Die kirchlichen Verkündigungsgenres im Radio kann man an einer Hand abzählen: Kurzandachten leisten sich viele Sender ob der Lokalität. Gottesdienstübertragungen gibt es in großen ARD-Anstalten, allerdings nur im reichweitenschwachen Programm. Radiogemäßer sind die sog. „Morgenfeiern“ wie im Bayerischen Rundfunk – eine halbe Stunde Predigt mit Liedeinspielung und Mini-Liturgie am Ende zieht auf dem bayerischen Marktführer B1 1.135.000 Hörer*innen (Funkanalyse Bayern). Doch es kann mehr Gottesdienst sein und näher an einfachen Menschen.

„Das Corona-Virus zwingt uns zu ungewöhnlichen Maßnahmen. Und ich dank Radio Mainwelle, dass die sofort dabei waren, als wir einen Radiogottesdienst angefragt haben. Wenn Sie wollen, zünden Sie doch jetzt eine Kerze an, und gemeinsam feiern wir diesen Gottesdienst.“ Mit Glockenläuten und trinitarischer Formel eröffnete der Bayreuther Pfarrer und Kabarettist Hannes Schott am 22. März 2020 die Reihe der Radiogottesdienste – ohne zu wissen, wohin sie sich entwickeln würden.

Hannes Schott war nicht der offizielle Radiobeauftragte des Dekanats, aber gern gefragter Interviewgast. Er hatte schon Andachten-CDs produziert, Redakteure verheiratet und deren Kinder getauft. Er sprach den Chefredakteur von Radio Mainwelle Bernd Rasser auf die ausfallenden Gottesdienste an, und der erfand gleich den Arbeitstitel „Gedanken zum Tag XXL – der kleine Mainwelle-Gottesdienst“. O-Ton Rasser: „Weil wenn, dann muss man es gleich g’scheit machen.“ Rasser bestimmte den Rahmen und die Verpackung: ausschließlich mit Pfarrer Hannes Schott und dem Produzenten Michael Götz wegen der Kontaktbeschränkungen.

Zur gleichen Zeit entstand die gleiche Idee in der Nachbarstadt Kulmbach. Programmchef Markus Weber von Radio Plassenburg (sieht sich als einen gläubigen Menschen, aber „keinen, der jeden Sonntag in die Kirche rennen würde“) sprach seine evangelische Andachten-Koordinatorin Heidrun Hemme an. Die fünf miteinander verbandelten oberfränkischen Privatsender in Hof, Kulmbach, Coburg, Bayreuth und Bamberg diskutierten auch eine gemeinsame Lösung. Letztlich lief es in Kulmbach mit einem Team von 8-12 Pfarrer*innen, in Bayreuth sehr personenzentriert, die anderen drei Sender gingen erst indivuelle Wege, dann übernahmen sie die Gottesdienste aus Bayreuth.

An Pfingsten sollte Schluss sein, aber inzwischen hatten die Hörer*innen die Sender mit Whatsapps, Mails, Anrufen und über social media derart positiv bombardiert, dass die Gottesdienste fortgesetzt wurden.

Das Konzept: Agende 1 auf Sparflamme

Schott hatte drei Blaupausen für die Radiogottesdienste im Kopf: Eine preisgekrönte Radio-Andacht auf Fränkisch mit Tiefgang und Unterhaltungswert. Daneben seine eigenen „Take away-Gottesdienste“, er hatte sich über Facebook für einen Gottesdienst zuhause verlosen lassen und einen Gottesdienst als Omnibusreise organisiert, Liturgie in den Sitzreihen. Und er stellte sich seine gewohnte Gemeinde vorm Radio vor. So entstand ein etwa 15-minütiges Gottesdienstkonzept mit diesen essentiellen Zutaten:
¬ Glocken
¬ Trinitarischer Gruß und freie Begrüßung
¬ Eingangslied
¬ Gebet des Tages
¬ Lesung
¬ Predigt (teilweise unterbrochen von Lesungen/Musik)
¬ Predigtlied
¬ Fürbittengebet, Vaterunser, Segen
¬ (manchmal Bekanntmachungen)
¬ Glocken und Nachspiel

Das Vaterunser, gelegentlich Ps. 23 oder Glaubensbekenntnis kamen manchmal vor als Elemente, die Hörer*innen mit kirchlicher Verwurzelung mitsprechen könnten. Erkennbarkeit als Gottesdienst und Niederschwelligkeit sind der Spagat der Radiogottesdienste für Schott: „Ich kann jetzt nicht Kyrie und Gloria machen, wo ich die Liturgie erst erklären muss, und was übers Radio überhaupt nicht rüberkommt. Wie schaffe ich es aber, dass es als Gottesdienst erkennbar ist?“

Die Themen zog Schott aus seinen „Best of-Predigten“: zeitlose Predigten zu bekannten Bibeltexten, in Sprache und Einstieg sehr einfach. Das andere Radiogottesdienst-Team orientiert sich thematisch meist an den Perikopen. Manche halten exakt die Predigt, die sie (inzwischen) an dem jeweiligen Sonntag auch in der Kirche halten.

 

Mediengemäßes Verhalten – medium forms the message

In der Anmutung orientieren sich die Radiopfarrer*innen an Radiohörer*innen in ihrem Umfeld, die wünschen sich: Kurz sollen die Radiogottesdienste sein, Predigten ohne komplizierte Gedankengänge, gut zum Nebenbei-Hören, nah am Leben, von früher her vertraut bei den Liedern und insgesamt nicht so kirchlich.

Die spätberufene Pfarrerin Heidrun Hemme jobbte früher als „Mädchen für alles“ in einem Allgäuer Privatsender, dementsprechend formatiert sie beispielsweise eine 8-minütige Predigt radiogerecht durch: Nach einer Minute Einleitung erklingt der Protestsong „Blowin‘ in the wind“ in voller Länge. Nach einer kurzen Zwischenmoderation lesen drei Konfirmandinnen die Übersetzung. Dann legt Hemme den Bibeltext zusammen mit dem Lied in knapp drei Minuten aus und unterfüttert ihn mit eingespielten Statements der Jugendlichen. Das klingt fast so straff und unterhaltsam wie ein professionelles Feature. Auch sonst, in den „normalen“ Gottesdiensten beteiligt die Dorfpfarrerin möglichst andere Sprecher*innen aus dem gleichen Grund: Hörer*innen könnten besser folgen.

Und es gäbe durchaus noch mehr Schätze zu heben für die Predigt im Radio-Meer: einen Bibeltext auf nachrichtliche Qualitäten abklopfen, die Kunst des Portraits auf biblische Urgestalten anwenden, Reportage-Einstiege und O-Ton-artige Zeugnisse, Meinungen als Kommentar verpacken oder glossatorisch unterhalten.

 

 

Cross over: Radio-Profis im Gottesdienst

Eine auffällige Besonderheit der Radiogottesdienste war von Anfang an, dass die gewohnten Radio-Stimmen aus Nachrichten, Service und Unterhaltung auftauchen. Mainwelle-Programmchef Bernd Rasser: „Das waren ja keine Kreuzzug-Gottesdienste, es geht darum, allgemeingültige Messages zu vermitteln. Unabhängig von Religionen versuchen wir jeden zu erreichen.“

Dass seine Radiomitarbeiter*innen die Rollen wechseln und statt Nachrichten Gebete lesen, Bibeltexte statt Staumeldungen, sieht Rasser durch die Sender-Philosophie gedeckt. Authentizität sei ihm wichtig, die Profis haben ehrenamtlich mitgewirkt. Es gab vermutlich in den großen bayerischen Privatsendern nie zuvor direkte Gebete. Programmchef Markus Weber setzt sich dafür bei Radio Plassenburg höchstpersönlich ans Mikro: „Ich kann dann umschalten. Unter der Woche bin ich ‚The Morning Man‘, da wird weniger gebetet, aber am Sonntag passt es. Ich gehe auch nicht ins Aufnahmestudio und lese es runter. Und wenn ich es schaffe, dass es beim Hörer so ankommt, freut es mich.“

 

Musik: Mitsingen und Formatsprengendes

Gottesdienstmusik war wegen der Kontaktbeschränkungen live schwierig. Hannes Schott suchte mit Hilfe des Dekanatskantors eine Handvoll CDs mit Kirchenliedern und Orgelmusik zusammen. Anfangs waren es Lieder, die sowohl im katholischen Gotteslob als auch im Evangelischen Gesangbuch enthalten sind: „Ich habe als Rückmeldung gekriegt: die singen tatsächlich mit!“

Auch die Lieder im anderen Radiogottesdienst laden zum Mitsingen ein, doch das Konzept auf Radio Plassenburg klingt diverser. Da wird Sakropop eingespielt, Neues Geistliches Lied, Aufnahmen aus konzertanter klassischer Kirchenmusik, Chorstücke, Taizé-Gesänge, Amateuraufnahmen, Ausschnitte eines Kindermusicals, Meditationsmusik, Bläserchöre und von Weltgebetstags-CDs. Pfarrerin Hemme stellt sich Hörer*innen vor, die selten oder gar nicht in die Kirche gehen. Denen möchte sie zeigen, dass die Kirche nicht nur auf das Gesangbuch beschränkt ist, sondern weiter denkt und glaubt.

Es fällt auf, dass bei der extrem weiten Musikvielfalt ausgerechnet zwei Genres fehlen, die nahe gelegen hätten: weder Anbetungsmusik noch christliche Popmusik, die nahtlos ins Radioformat gepasst hätte. Bei Radio Mainwelle lag das daran, dass der Programmchef wollte, dass die Musik von früher vertraut und mitsingbar ist. Damit konserviert Bernd Rasser allerdings auch das Gottesdienstbild auf dem Niveau von vor Jahrzehnten.

Interessanterweise denkt der Radiomann Weber stärker über die Inhalte der Musik nach als die Kirchenvertreter*innen: „Im Optimalfall ist die Musik der rote Faden, der die Wort-Elemente verbindet und die Predigt aufgreift. Das ist nicht immer der Fall. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Standard-Songs genommen werden, weil halt auch Lieder mit rein müssen.“ Und Weber würde sehr wohl christliche Popmusik spielen – aber er hält sich mit seinem Geschmack zurück. „Das ist ja explizit der Radiogottesdienst, da können auch kirchliche Songs vorkommen. Ich will keine Orgel hören, dafür sind wir dann halt doch auch Radio. Beide Elemente verschmelzen in diesem Radiogottesdienst.“

Als Übergang zwischen Radiogottesdienst und normalem Programm wurden auf beiden Sendern mit der Zeit bestimmte Radiosongs als Brücke gespielt: „You’ll never walk alone“, oder „Hinterm Horizont geht’s weiter“. Diese Lieder zählten ähnlich einem Orgelnachspiel auch zum Gottesdienst, die Podcasts enden nicht mit dem Glockenläuten, sondern mit diesen Liedern.

 

 

Wie entsteht so ein Gottesdienst und wer entscheidet?

Die evangelische Kirche hat in Bayern meist kein Senderecht in privaten Rundfunksendern. Man muss den Programmchef gewinnen, gegebenenfalls auch den Geschäftsführer. Auch auf der Kirchenseite muss irgendjemand Verantwortung übernehmen – Heidrun Hemme grinst: „Ich habe das einfach entschieden, ich mach das. Wir haben im Sender überlegt, wen wir ansprechen und die haben alle sofort Ja gesagt.“ Hemme bindet ihren Dekan ein, als es um die Finanzierung geht.

Die Kirchenseite bringt sämtliche Inhalte ein, formuliert die Gebete vor und beschafft die Musik. Die Senderleute beraten bei Formulierungen, nehmen die Takes auf, sprechen selbst Texte und produzieren die Gottesdienste für Radioprogramm und Podcast. Und behalten die Kontrolle, sagt Programmchef Weber: „Also, ich rede da wenig rein. Wir müssen auf die GEMA achten, und im Endeffekt bin ich derjenige, der schon noch den Hut aufhat. Wenn der Gottesdienst 35 Minuten hat, sage ich: Leute, das können wir nicht machen, und dann wird er überarbeitet. Wenn bestimmte Grenzen überschritten werden – zu fromm, zu politisch, zu flott oder zu Kindergottesdienst-lastig … dann gebe ich schon mal Tipps. Im Endeffekt wäre ich derjenige, der die Notbremse zieht.“

Auf Radio Mainwelle war ein Pfarrer Zugpferd und Gesicht der Radiogottesdienste, analog dem Personality-Gedanken im Privatradio. Und Senderchef Rasser stellte sich mit Pfarrer Schott aufs Foto, zwei bekannte Gesichter aus sehr unterschiedlichen Institutionen werben für ein gemeinsames Projekt. Genauso wie bei den meisten digitalen Corona-Kirchenangeboten standen auch hier die Pfarrer*innen alleine als Kirchenvertreter*innen im Rampenlicht.

 

Werbung und Finanzierung

Fixierte Vereinbarungen der Zusammenarbeit gab es nicht. Die Werbung lief typisch: die Gemeinden per Schaukasten, Radio Mainwelle beispielsweise warb großflächig mit Zeitungsanzeigen, denn Bernd Rasser wollte auch Zielgruppen erreichen, die seinen Sender normalerweise nicht hören: „Wir haben Social Media gemacht, ganz viel Facebook, Instagram und natürlich On Air mit Promos. Also, du bist nicht drum rum gekommen. Wir haben ihn sogar in den Nachrichten gehabt mit einem O-Ton.“

 

Gründe der Zusammenarbeit

„Schönen guten Morgen, auch an alle, die vielleicht zum ersten Mal dabei sind, weil sie von unserem Radiogottesdienst erfahren haben, den wir Ihnen ja anbieten hier auf Radio Plassenburg.“

Hier hat nicht einer einem anderen aus der Not geholfen, die Partner*innen haben gegenseitig profitiert. Die Sender gewinnen vielleicht neue Hörer*innen durch ein neues Angebot. Daneben riskieren sie, dass andere abschalten. Das kann man aber weder aus den Hörer*innen-Reaktionen noch aus den Einschaltquoten ablesen. Auch die Kirche erschließt sich neue Kundschaft. Pfarrerin Hemme: „Ich erreiche viel mehr Leute, als man sich vorstellen kann“. Selbst ein kleiner Lokalsender hat sonntagfrüh vier- bis fünfstellige Einschaltquoten.

Und die Radiogottesdienste erfüllen anscheinend auch ein tieferliegendes Bedürfnis. Bei Terroranschlägen rufen Privatsender regelmäßig nach kirchlichen Expert*innen, die seelische Bedürfnisse abdecken sollen: Trost, Hoffnung, einen Halt in der Krise. Darüber hinaus erkennt Mainwelle-Chef Rasser einen regelmäßigen Bedarf: „Es gibt Feste, wo du als Radiosender erkennst: Ich sollte da vielleicht ein bisschen mehr machen als nur Geschenk- und Umtauschtipps.“ Und er vermisst gleichzeitig die ehemalige Anziehungskraft der Volkskirche, die Menschen über tradierte Rituale ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln: „Selbst bei mir auf dem Dorf bin ich manchmal schockiert, wie leer die Kirche ist und dann bei uns on air, mit 20.000 Hörern am Morgen in der Stunde, sagt der Hannes ganz bewusst: Wir beten miteinander das Vaterunser. Ich glaube, es hat funktioniert, dass viele Menschen aus einer Region miteinander dieses Gebet sprechen oder zumindest sich anhören.“

 

Radio und Kirchen: ungleiche Partner*innen in ähnlicher Lage

Rasser sieht Parallelen. Beide Institutionen müssten sich erstens auf einem immer vielfältigeren, wachsenden Markt behaupten. Um gehört zu werden, seien sie zweitens beide angewiesen auf starke Charaktere, die die Institution verkörpern. In diese Richtung weisen auch die letzten zwei Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) und viele Radioberater*innen: Es geht um die Personen, Personality. Den Unterschied zu Mitbewerber*innen machten (drittens) die Inhalte aus, der Content. Rasser subsummiert Glaubwürdigkeit und Geschichten: „Content ist King.“ Rasser glaubt viertens, dass Kirche und Privatradio bei den Gottesdiensten zusammenarbeiten, weil sie sich auf eine neue Zielgruppe geeinigt haben. „Anfangs hat man es in erster Linie für die gedacht, die nicht in die Kirche gehen können“. Unter diesen Voraussetzungen hätten sich diese Gottesdienste aber für den Sender nie gelohnt. Man kann vermuten, dass die Umsetzung sogar holperiger gewesen wäre, wenn die Kirchenseite missionarischer gedacht hätte und die Radioseite bewusster auf Kund*innenfang gegangen wäre.

Einerseits soll der Radiogottesdienst wie ein gewohnter Gottesdienst klingen, fordert Rasser. Gleichzeitig soll er nicht so stil- und raumgreifend sein, dass er das Format des Senders verändert. Im Radiogottesdienst soll Nähe zum Gottesdienstgeschehen aufkommen, Interaktion. Die Hörer*innen werden aufgefordert, sich zum Gottesdienst-Hören auf Distanz zu verabreden, getrennt und doch gemeinsam zu feiern. Eine Kerze möge man aufstellen, die Lieder werden mit Nummer abgekündigt.

Andererseits schlagen die Gewohnheiten des schnellen Privatradios durch, es gibt einen Programmüberblick, schnelle Schnitte in der Predigt, Lieder werden auf dem „Ramp“ angekündigt (erste Sekunden eines Liedes, während derer noch nicht gesungen wird), Gebete werden manchmal über ein Musikbett gelegt – bis hin zu Gottesdiensten, die mit einem Sponsor-Jingle enden.

 

 

Berufsbeschreibung Radiopfarrer*in

Bei den Radiogottesdiensten treffen Pfarrer*innen auf mediengeprägte Erwartungen, sie müssen ihr liturgisches Verhalten daran ausrichten. Das Profil eines Radio-Geistlichen definiert Rasser: „ohne mahnenden Zeigefinger, aber du hörst schon ein bisschen den Pfarrer raus“. Außerdem:
¬ Sachkompetenz
¬ eigene Meinung
¬ Leute anleiten können
¬ Humor, auch bei ernsten Themen
¬ eigene Erlebnisse einbauen
¬ Dialekt
¬ kein Gottesdienst-Element in die Länge ziehen, immer abwechseln nach dem AIDA-Marketingprinzip (Attention-Interest-Desire-Action).

Und Rasser warnt: Wer das nicht beherrsche, bei der oder dem wirke der Radiogottesdienst wie aus einer anderen Welt.

 

Kontinuität

Während die Gottesdienste auf Radio Plassenburg bis dato jeden Sonntag inklusive aller Feiertage stattfinden, haben Schott und Radio Mainwelle bald nach Ende des Lockdowns umgestellt auf „nur noch an hohen Feiertagen oder in erneuten Lockdowns“, ebenfalls bis heute. Die Gründe sind vielschichtig. Schott ist von Bayreuth nach Nürnberg gezogen, versorgt von dort noch die Sonder-Radiogottesdienste. Zudem sieht Schott sein inhaltliches Repertoire fürs erste erschöpft, auf Dauer gehe das allein nicht nebenbei.

 

Teilhabe der Hörer*innen

Die normalen gottesdienstlichen Mitwirkungsformen fehlen im Radio: Mitsingen, Klingelbeutel, Abendmahl, Liturgie, am Ausgang die Qualität kommentieren. Die „Radiokirche“ wirkt immer voll, selbst wenn nur wenige zuhören.

Schott hat in den Gottesdiensten die Hörer*innen kontinuierlich zur Interaktion aufgefordert: Sie möchten Bilder von ihren Adventskränzen oder Ostergestecken schicken, Fürbittengebete schreiben oder Aufnahmen ihrer Gemeindechöre übermitteln. Direkte Gebete oder Gottesdienstthemen seien nicht von den Hörer*innen gekommen, aber beispielsweise um die 100 WhatsApp-Nachrichten nur von einem Sonntag. Der Sender hat sie im laufenden Radioprogramm verwendet als Werbung für den Sonntag.

Die Reaktionen der Hörer*innen waren laut Aussagen der Senderchefs zu 100% positiv. Eine Auswertung zeigt: Die meisten Hörer*innen bedanken sich bei Sender und Pfarrer, der Radiogottesdienst wird als gemeinsame Aktion wahrgenommen und nicht als „Kirche im Radio“. Mehr als zehn Prozent sprechen die musikalische Gestaltung der Radiogottesdienste direkt an. Die inhaltlichen Hörer*innen-Reaktionen sind positiv, sie hätten dieses Format gerne öfter: „Bin zwar keine Kirchgängerin, könnte mir aber vorstellen, nach ‚Corona‘ dies beizubehalten“, „dürft ihr jeden Sonntag machen“ und „der Sonntag hat wieder Bedeutung, bitte, bitte beibehalten“, und kurz und einprägsam: „Augenpippi“.

Bernd Rasser sagt, für Radio Mainwelle sei eine solide positive Resonanz, wenn 20 bis 30 Hörer*innen innerhalb einer Woche schreiben, mailen oder anrufen. Die Radiogottesdienste hatten eine für ihn überwältigende Resonanz: „Also, wir sprechen wirklich von hunderten WhatsApps und Anrufen, die gesagt haben, sie wollen davon mehr. Das hat mich wirklich überrascht.“ Hörer*innen meldeten sich vor allem, wenn ihnen etwas nicht gefiele oder um etwas zu gewinnen. Aber sehr selten, um einfach ihre Zustimmung zu bekunden. Und er hört aus den Hörer*innen-Bekundungen heraus, „dass es die Leute irgendwie da trifft, wo du sie sonst eben nicht triffst“.

 

Veränderungen der Medienpartner*innen

Mehr gemeinsame Zeit im Studio oder eine gemeinsame Promotion-Aktion wirkt sich aus. Programmchef Weber stellt fest: „Das passiert schon, dass der Radiogottesdienst über ein Thema ging. Und wir machen dazu was im normalen Programm. Natürlich in einer anderen Form mit anderen Ansprechpartnern. Was wir vorher nicht gehabt hätten, muss ich ehrlich sagen.“ Ähnliche Dinge hört er auch von den Pfarrer*innen, dass sie neue Themen aufgreifen, weil sie im Sender waren.

Für die Radiogottesdienste wäre es interessant, wenn sich die bisherigen Verantwortlichen zusammensetzten, um Konzept, Liturgie und begleitende Aktionen weiterzuentwickeln. Und dass in anderen Regionen das Konzept angepasst umgesetzt würde. Letztlich sollte eine Radiogottesdienst-Liturgie Eingang finden ins Evangelische Gottesdienstbuch.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Christoph Lefherz, Jahrgang 1966, arbeitet für den Evang. Presseverband für Bayern e.V. im bayerischen Privatfunk, ELKB-Beauftragter für Verkündigung in privaten Medien; eine ausführliche wissenschaftliche Ausarbeitung bietet seine Masterarbeit für den Lehrstuhl Christliche Publizistik der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen: darin werden die Radiogottesdienste auch mit aktuellen kirchlichen Reformdebatten und Medientrends abgeglichen, die Diskussion der Elemente wird mit den Untersuchungen digitaler Verkündigung vertieft.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2023

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