Wird die Religion unterbestimmt, wenn sie – soziologisch – lediglich unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit oder Funktion betrachtet wird? Dierk Schäfer nimmt einen Artikel im „Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt“ aus dem vergangenen Jahr zum Anlass, das Feld von Religion und Soziologie bzw. Kirche und Soziologie neu aufzurollen.

 

Religionskritiker und besonders Kirchenfeinde werden der Religion jede positive Funktion absprechen. Ein Artikel im „Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt“ vor einem Jahr sieht das anders. Er trägt den Titel „Funktionalisierte Religion“. Doch wie schon der Untertitel zeigt („Wie soziologische Theorien die Religion um ihren Eigensinn bringen“), sind die ­Autoren Ivo Bäder-Butschle und Detlef Lienau mit der Funktionalisierung von Religion „nicht so glücklich“.

Man kennt die immer wieder auftauchenden Berichte über die psychohygienische Funktion von Religion, die auf einen Nenner gebracht belegen, dass religiöse Menschen glücklicher sind als andere und sich das auch somatisch auswirkt: weniger Stress ist gut für die Gesundheit. Der Interessierte kennt Ergebnisse der Religionssoziologie, die sich mit den oberflächlichen bruta facta begnügt: Wie oft nehmen Sie am Gottesdienst teil? Welche Grundaussagen Ihrer Konfession kennen und teilen Sie. – So in etwa.

Der erwähnte Artikel zeigt, dass die Religionssoziologie ein paar Windungen in der Reflexion zugelegt hat, aber auch in der Abstraktion, und dass sie das Spezifikum von Religion ausspart. Religion ist (wen wundert es?) ein Phänomen sui generis und soziologisch nicht zu fassen. Psychologisch wohl, doch die Frage, wie Religion wem nützt, dem Einzelnen und/oder der Gesellschaft, geht an diesem Spezifikum vorbei. Früher hätte man es wohl tremendum genannt.

 

Vier soziologische Ansätze und ihre Kritik

Doch inzwischen macht die „Soziologie … der Theologie als kirchenorientierende Leitwissenschaft ernsthaft Konkurrenz. Angesichts der sich schnell wandelnden Gesellschaft und erkennbarer Anpassungsprobleme der Kirche steigt der Beratungsbedarf durch Soziologie.“ Und so präsentieren die Autoren vier Theoriebeispiele und „fordern einen weitergehenden Betrachtungsansatz“.1 Hier soll zunächst in Kürze die Position der Autoren dargestellt werden2, den Volltext kann man nach­lesen.3

Da ist zunächst der Resonanzansatz von Hartmut Rosa: „Das gute Leben macht sich nicht an Ressourcen, sondern an Resonanz fest. Leben wird dort als erfüllt und sinnvoll erfahren, wo Menschen Resonanzbeziehungen erleben: Wo sie etwas in ihre Welt einbringen können und die Welt darauf eingeht, oder wo umgekehrt die Welt etwas vom Einzelnen will und der Einzelne darauf eine eigene Antwort geben kann. … Religion ist eine mögliche Resonanzachse. „Gott ist … die Vorstellung ­einer antwortenden Welt.“

„Ein zweiter aktueller allgemeinsoziologischer Entwurf ist Andreas Reckwitz’ Singularisierung. Danach wird die in der Moderne gültige Logik des Allgemeinen in der Spätmoderne abgelöst durch die Logik des Besonderen, in der Menschen sich in einem kuratierten Lebensstil durch Besonderes gegenüber anderen auszeichnen. Diese Auszeichnung als besonders geschieht in Valorisierungen, Zuschreibungen von Wert, die willkürlich und affektiv sind, ohne einer rationalen Logik zu folgen. Die Gesellschaft bricht auseinander in die Gewinner des neuen Bürgertums und Verlierer, die die Mechanismen der Singularisierung nicht beherrschen.“

„Hans Joas hat … ein eigenes Modell entwickelt, das Religion als eine Form sozialer Idealbildung versteht. Idealbildung – von Joas auch als Sakralisierung bezeichnet – gehört wiederum unausweichlich zum Menschsein dazu. Sakralisierungen stehen in einem Zirkel von Erfahrung und Deutung, wobei individuelle und soziale Momente ineinandergreifen. Werden sie zu Idealen verstetigt, werden sie handlungsleitend und so ethisch ­sozial wirksam.“

Detlef Pollack schließlich „betrachtet modernisierungstheoretisch Religion als eigenständigen gesellschaftlichen Funktionsbereich neben Wirtschaft, Recht etc. Es genüge aber nicht, Religion allein über ihre Funktion – etwa Kontingenzbewältigung – zu bestimmen. Pollack erweitert einen funktionalen Religionsbegriff um substanzielle Aspekte, was ihm ein Spezifikum von Religion gegenüber anderen gesellschaftlichen Systemen erschließt: Religion ist ein um ein eigenes Thema aufgebauter Funktionsbereich und zugleich funktional unbe­stimmt.“

Daran kann man anknüpfen: „In allen vier Entwürfen ist Religion für etwas gut. … Unsere These ist, dass ein solcher Ansatz die Tendenz hat, funktionale Leistungen von Religion auf Kosten dysfunktionaler Elemente zu privilegieren. … Sicherlich ist Religion auch ‚für etwas gut‘, aber wenn Funktionalität soziologisch zum Kernmerkmal von Religion wird, dann wird das ihrer Eigenlogik nicht gerecht. … Religionen folgen auch einer Eigenlogik und sind mehr als Epiphänomene des Sozialen. … Ein Spezifikum von Religion könnte ihr Umgang mit Wahrheitsfragen sein. Diese kommen aber in den soziologischen Entwürfen nicht in den Blick.“ Ja, wie denn auch?

 

Religion und Wahrheit

Die Autoren sind mit ihrer Fokussierung auf Wahrheit mutig. Dafür mag ein Hinweis stehen: Der Begriff Wahrheit umfasst im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ die Spalten 48 bis 1894. Sich dort einzureihen erfordert Mut.5 Ich habe nach einem kursorischen Überblick lediglich zehn Spalten6 gelesen und mich gefragt „Welche Wahrheit hätt‘ ich denn gern?“7 Doch das fragen sich die Autoren auch gar nicht. Es geht ihnen um ein Religionsverständnis, das pauschal „substanzielle“ Fragen umfasst, und das seien Wahrheitsfragen, die nicht substantiiert werden. Insofern machen sie nichts anderes als die gescholtenen Soziologen: wie die Religion sperrt sich auch die Wahrheit jeder grundlegenden Erfassbarkeit.

 

 

Sie hätten es kürzer fassen können, die Autoren. Denn dem bibelkundigen Leser fällt beim Stichwort „Wahrheit“ die Befragung Jesu ein, wie sie Joh. darstellt. Pilatus fragt: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus erweist sich als Philosoph und fragt: Was ist Wahrheit?8

Nun ist gerade der Rekurs auf biblische Wahrheiten aufschlussreich. Nur selten sind es historische, sondern theologisch bedeutsame Narrative.9 Das macht deutlich, dass auch Geschichten, nicht nur biblische, eine „innere Wahrheit“ in sich tragen (können). Und um kurz bei „historischen Wahrheiten“ zu bleiben – auch die zeugen nicht verlässlich von Faktizität.

Schon eine der philosophischen Wahrheiten werden die Autoren nicht gemeint haben. Auch nicht die „historischen“ Wahrheiten, denn auch die sind unsicher, wie wir beim Versuch mancher Nationen sehen, Wahrheiten zu unterdrücken oder schönzufärben für die nationale Gloria. Auf dem 43. Historikerkongress sagte Wolf Singer einleitend: „Wir sehen, was zu sehen nützlich ist. Wahrnehmungen und Erinnerungen sind also datengestützte Erfindungen. Und weil diese Erfindungen konstitutiv sind für unsere kognitiven Prozesse und nicht Folge vorsätzlichen Täuschenwollens, ist es schwierig zu entscheiden, welchen Berichterstattern wir mit Nachsicht begegnen sollen.“10 Das gilt auch für die religiösen Narrative. Wenn sie Wahr­heiten enthalten, dann nur selten historische. Die Frage nach „der Wahrheit“ ist eine andere.

 

Eine Wahrheit „hinter“ den Wahrheiten?

Es geht um einen kategorialen Überschuss, der funktional nicht erfasst werden kann. Die Wahrheit hinter den Wahrheiten sichert auch der Theologie ihren Platz an der Universität: „Die lange gängige These, in modernen Gesellschaften werde Religion bedeutungslos, hat sich als nicht haltbar erwiesen“, konstatierte der Wissenschaftsrat11. Obwohl der Wissen­schaftsrat das Schwergewicht seiner Argumentation auf den Nutzen der Theologien für Staat, Kirche und Gesellschaft legt, erkennt er auch das Selbstverständnis der christlichen Theologien an: „In ihrem Selbstverständnis definiert sich christliche Theologie zum einen durch einen Bezug auf Transzendenz, das heißt durch einen für sie spezifischen Erkenntnisgegenstand, und zum anderen durch das praktische kirchliche und öffentliche12 Interesse, eine Funktionselite auszubilden, welche die überlieferten christlich-religiösen Gehalte vernünftig zu übersetzen und zu kommunizieren versteht. … Zudem reflektierten Theologien im Wissenschaftssystem die Grenzen einer rein wissenschaftsförmigen Selbstdeutung des erkennenden Menschen. Sie halten nach Überzeugung des Rates ein Bewusstsein von der Kontingenz menschlichen Handelns aufrecht und geben der Frage nach den Bedingungen für ein Gelingen oder Scheitern menschlicher Existenz einen Ort.“13

Über die psychohygienische Funktion wird der Religion also auch gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt: „Die Theologien sollen zwar ihren Gegenstand kritisch reflektieren und so Ungewissheit und Distanz produzieren, zugleich aber Kompatibilität mit dem demokratischen Rechtsstaat erzeugen. Es gehe, so der Rat, um ‚Sozialisation‘ und darum, dem Fundamentalismus zu wehren.“14

Nun noch kurz zum Wagemutigen: Wer Wahrheit – durchaus nicht abwegig – zum wesentlichen Merkmal von Religion erklärt15, darf den Kampf der Religionen und der Kirchen um die Wahrheit nicht unerwähnt lassen. Dieser Kampf hat viel Leid über die Menschheit gebracht. Ich denke an die „bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem“16, die blutige Verfolgung der Albigenser, Religionskriege und die vielen Hexen- und Ketzerprozesse. Dazu kommen noch Wahrheiten und behauptete historische Gesetzmäßigkeiten im Kontext politisch-ideologischer Heilsgewissheiten. Die Autoren begeben sich auf ein gefährliches Terrain. Nur erwähnt seien hier auch die Hekatomben von Toten der politischen Heilsideologien.

 

Theologie und Soziologie – eine Win-Win-Gemeinschaft?

Die Autoren sind der Ansicht, beide, Theologie und Soziologie, könnten von der gegenseitigen Wahrnehmung profitieren „auch wenn ein Eingreifen Gottes für die Soziologie nicht bearbeitbar ist, kann sie ihre Theorien für das mögliche Wirken von Transzendenz offenhalten.“17 „Gerade der Aspekt der Funktionalität birgt für die gegenseitige Bereicherung von Soziologie und Religion großes Potenzial.“

¬ „Soziologie zieht aus der theologischen Perspektive einen Gewinn, indem die Eigenlogik von Religion deutlich wird, die sich einer einseitigen Funktionalisierung widersetzt.“ Umgekehrt schütze ein soziologischer Blick Kirche vor einer zu starken Entkopplung von gesellschaftlichen Entwicklungen.

¬ „Religion macht aus, dass es nicht um die Erfüllung mitgebrachter Interessen geht, sondern sich den Beteiligten eine Wertquelle jenseits der eigenen Interessen erschließt – und genau das kann sich in diesen selbstbezüglichen, sich nicht nachfrageorientiert anbiedernden Gemeinden ereignen.“

Hatten die Autoren zunächst darauf hingewiesen, dass einige der referierten soziologischen Modelle nicht nur den Nutzen der Religion erklären, sondern auch für nicht-religiöse Phänomene einsetzbar sind, so nehmen sie gegen Schluss für die Nutzbarkeit solcher Modelle auch die kirchlichen Gemeinden als Räume religiöser Eigenlogik in den Blick. Mit „selbstgenügsamen Sozialformen bilden [sie] den Nährboden für religiöse Kommunikation. Sie stellen (anders als Organisationen) die für religiöse Kommunikation notwendigen Atmosphären bereit“. Zu fragen wäre, „wie gemeindliche Orte religiöser Sozialisation unter Bedingungen zunehmender Singularisierung möglich sind.“ Zu fragen wäre auch, wie „unter diesen Bedingungen eine Parochie gelingen kann … Wie kann sich eine Gemeinde angesichts gesellschaftlicher Dynamisierung auch in ihren dazu in Spannung stehenden Momenten erhalten?“

Der Weg dahin ist beschwerlich. Das zeigen auch die Ergebnisse der klassischen Religionssoziologie.

 

Was glauben die Deutschen?“ Nicht mehr so viel – auch eine Wahrheit!

„Circa 60% der Deutschen glauben an Gott. Dennoch haben die beiden großen christlichen Kirchen in den letzten Jahrzehnten immer mehr Mitglieder verloren. Knapp 30 Millionen Deutsche, also 37% der Gesamtbevölkerung sind konfessionslos und gehören keiner Religion an.“ Aber: „Viele Deutsche definierten sich weiterhin als Christen, obwohl sie keiner Kirche mehr angehören.“18 Und was glauben sie? „Die Tendenz geht zur Bastelreligion. Schon vor gut dreißig Jahren stimmten nur noch 30,8% der Katholiken und 21,6% der Protestanten allen Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses zu.“ Nach einer Allensbach-Umfrage von 2002: Nur 39% der 16-29jährigen Katholiken glauben daran, dass Gott die Welt erschaffen hat. An den dreifaltigen Gott der Christen – Vater, Sohn und Heiliger Geist – glauben nur noch 44% der 16-29jährigen Katho­liken.19

„Würden alle jungen Katholiken das Glaubensbekenntnis sprechen, würden mindestens 56% von ihnen lügen!“20 Dies ist die Schlussfolgerung von fowid21. Fowid ist weltanschaulich-atheistisch gebunden, und man darf sich nicht wundern, dass man dort keine Wahrheit hinter den Wahrheiten sehen will. In Bezug auf das Glaubensbekenntnis, das gemeinsam gesprochen, aber von 56% der jungen Katholiken in wesentlichen Teilen nicht geglaubt wird, von Lüge zu sprechen, offenbart nicht nur theologische Unkenntnis, sondern Polemik.

 

Brauchen wir eine Reform unserer Glaubens„tatsachen“?

Das Glaubensbekenntnis22, so es denn im Gottesdienst vorkommt und gemeinsam gesprochen wird, ist auf dem Seziertisch der Wahrheit allerdings problematisch, denn es fordert Ich-Aussagen der einzelnen Gottesdienstbesucher als Bekenntnisaussagen, die ihrem Wissens­stand widersprechen könnten und das in der Mehrzahl auch tun.

Wir Theologen können das Bekenntnis kontextualisieren und die kognitive Dissonanz auflösen. Doch an welcher Stelle außerhalb des Fachdiskurses tun wir das? Es beginnt ja schon mit der trinitarischen Begrüßungsformel im Gottesdienst: „Wir beginnen diesen Gottesdienst im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“ Ich habe einmal erklärend hinzugefügt: „Es gehört zu den grandiosen Leistungen der frühen Christenheit, im Rückblick auf das Wirken und Leiden Jesu von Nazareth und mit Rückgriff auf Facetten des alttestamentarischen Gottes eine Gottesvorstellung entwickelt zu haben, die mit der Figur des Heiligen Geistes zukunftsoffen ist, zukunftsoffen auch über unsere Endlichkeit hinaus.“ Doch das kann man nicht jedes Mal machen, ganz abgesehen davon, dass manche Gottesdienstbesucher solche Aufklärung nicht wollen.

So verharren wir in ritueller Erstarrung, fordern weiterhin vielen unserer Gottesdienstbesucher ein sacrificium intellectus ab und setzen sie dem Spott von intoleranten Unwissenden aus. Brauchen wir eine Reformation unserer Glaubens„tatsachen“? Schon die Turbulenzen bei der Formulierung der bestehenden Glaubensbekenntnisse lassen eine Never-ending-Story befürchten.23

Doch laut der Shell Studie von 2019 finden es „69% aller Jugendlichen … gut, dass es die Kirche als Institution gibt (75% der katholischen Jugendlichen, 79% der evangelischen Jugendlichen, 45% der konfessionslosen Jugend­lichen). Die Bedeutung des Glaubens für das persönliche Leben allerdings nimmt für jugendliche Mitglieder der christlichen Kirchen seit 20 Jahren kontinuierlich ab (Beim Item ‚An Gott glauben‘ antworten 39% der katholischen Jugendlichen und 24% der evangelischen Jugendlichen mit ‚wichtig‘). (Hingegen hat der Glaube für 73% der muslimischen Jugendlichen ­Relevanz)“.24

 

 

Verschwindende Kirche?

„Zwischen Fundamentalismus und Moderne – Das Dilemma der Kirche(n) ist auch eins der Gesamtgesellschaft“ – so hatte ich einen Beitrag über die Ergebnisse der V. Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD untertitelt und hervorgehoben: „Wir haben es mit einem Schwinden von Religiosität überhaupt zu tun. Wer aus der Kirche austritt, dem ist sie nicht nur weitgehend gleichgültig, sondern man gibt auch an, für seinen Lebensalltag einfach keine Religion mehr zu benötigen.“25 Und so zeichnet Reinhard Bingener ein düsteres Bild von der Zukunft der evangelischen Kirche in seinem Artikel über „die scheinbar reiche Kirche“. Düster ist das Bild, weil die „Verfreikirchlichung“ der Großkirchen kaum abwendbar zu sein scheint.26

Ob bestehende Aktivitäten kirchlicher Gemeinden und der Kirche schon unter den Begriff „Verfreikirchlichung“ passen, darf bezweifelt werden. Da sind nicht nur die Kirchentage zu nennen mit ihrer hohen Beteiligung von Jugendlichen und der Präsenz hochrangiger Politiker; da gibt es das Flüchtlingsschiff der EKD („Schicken wir ein Schiff“) oder die Trauergottesdienste bei Aufsehen erregenden Unglücksfällen und Katastrophen. Und selbst über die zurzeit arg gebeutelte katholische Kirche schreibt die „Süddeutsche Zeitung“27: „Dabei kann die katholische Kirche ja noch überzeugen – nämlich da, wo ihre Mitglieder sichtbar die Botschaft Jesu leben. Wo Pfarrgemeinden Kleider und Möbel sammeln und Deutschkurse für die Flüchtlingsfamilie organisieren. Wo Pfarrer, Ordensfrauen und Mönche lieber Gefängnis riskieren, als zuzulassen, dass junge Frauen aus dem Kirchenasyl in einen unsicheren Staat abgeschoben werden. Wo Seelsorger in Vollschutzmontur Sterbende und Kranke auf der Corona-Station begleiten. Wo Hochschulpfarrer einem Obdachlosen erlauben, in der Garage der Hochschulgemeinde zu schlafen und ihn mit Lebensmitteln versorgen.“28 Auch die ökumenisch getragene Telefonseelsorge, die Vesperkirchen und die inzwischen bundesweit angebotene Notfallseelsorge sind hier zu nennen.29

Ob bei all diesen Aktivitäten die Wahrheit hinter den Wahrheiten aufscheint?

Noch jedenfalls sind wir nicht in einer rein funktionsbestimmten Gesellschaft angelangt, und auch die Kirche nicht, von Religion ganz zu schweigen.

 

Anmerkungen

1 Der Begriff „funktionale Religion“ führt bei Google zu algorithmusbedingten seitenweisen Verkaufsangeboten des Buches der Autoren. Ob es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung gibt? Wenn ja, kommt sie bei der Google-Suche erst viel später.

2 Alle Zitate sind, soweit nicht anders angegeben, dem Artikel entnommen.

3 Ivo Bäder-Butschle/Detlef Lienau, Funktionalisierte Religion – Wie soziologische Theorien die Religion um ihren Eigensinn bringen, https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/aktuelle-beitraege?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=5351&cHash=e82fc17486a0bb0fc04d3ec88a35b52f.

4 Mit allen Begriffserweiterungen. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (ed.), Basel (Darmstadt), 2004, Bd. 13.

5 „(D)ie Frage nach der Wahrheit [ist ein zentrales] Thema der Philosophie und der Logik“, https://de.wikipedia.org/wiki/Was_ist_Wahrheit%3F.

6 Wahrheit (christlich-theologisch), Sp. 123-133.

7 Angesichts der Vielzahl von Wahrheiten verzeihe man mir den Anklang an Robert Lemkes beliebte Quizsendung mit der rituellen Frage: „Welches Schweinderl hätten S’denn gern?“, https://de.wikipedia.org/wiki/Was_bin_ich%3F.

8 Joh. 18,37f. Es handelt sich um eine theologisch gut durchdachte Passage über einen Vorgang, der als solcher von niemandem protokolliert wurde, wenn er denn überhaupt stattgefunden hat.

9 Das habe ich ausführlicher am Beispiel der Weihnachtsgeschichte dargelegt: Dierk Schäfer, Gott wird Kind! Unorthodoxe Gedanken eines Pfarrers zur Weihnachtsgeschichte, https://dierkschaefer.wordpress.com/2021/12/20/gott-wird-kind-unorthodoxe-gedanken-eines-pfarrers-zur-weihnachtsgeschichte/.

10 Wolf Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen – Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft: Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags, FAZ 28. September 2000.

11 Der Wissenschaftsrat ist das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Deutschland, https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftsrat_(Deutschland).

12 Hervorhebung von mir.

13 Dieses und das folgende Zitat: Felix Grigat, Die funktionalisierte Religion, https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/die-funktionalisierte-religion-1700/#:~:text=%20Die%20funktionalisierte%20Religion%20%201%20Die%20Religion,reflektierten%20Theologien%20im%20Wissenschaftssystem%20die%20Grenzen...%20More%20

14 Hier ist aus der Funktion eine Aufgabenstellung geworden. Ob diese Rechnung überhaupt, aber insbesondere für den Islam aufgeht? Dabei steht vor dem Hintergrund des dramatischen Ansehensverlustes der Kirchen durch die Missbrauchsskandale gegenwärtig ihr Anspruch, sich in Sachen Moral und Ethik zu äußern, in Frage. Ich setze die Kenntnis von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch im kirchlichen Zusammenhang voraus, insbesondere das Münchner Gutachten, das seinerzeit hohe Wellen schlug (Westpfahl/Spilker/Wastl, Rechtsanwälte, Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019).

15 Da mutet es eher als Treppenwitz an, wenn ein ehemaliger Pontifex Maximus als Kardinal den Wahlspruch „Cooperatores Veritatis“ im Wappen führte (Mitarbeiter der Wahrheit), nun aber beim Lügen ertappt wurde.

16 Hans Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem. Geschichte der Kreuzzüge, Zürich 1973.

17 Da dürfte die Soziologie wohl überfordert sein, es sei denn, sie fragt ihre Probanden nach den religiösen Motiven für ihr Tun, das über das rituelle „Praktizieren“ ihrer Religion hinausgeht.

18 Beide Zitate: https://www.deutschland.de/de/topic/leben/glaube-in-deutschland:viele-deutsche-treten-aus-der-kirche-aus#:~:text=Was%20Deutschland%20glaubt.%20Rund%20zwei%20Drittel%20der%20Deutschen,kann%20sich%20f%C3%BCr%20oder%20gegen%20den%20Glauben%20entscheiden.

19 Die beiden letzten Zitate und das folgende: http://bit.ly/2DyNRdE, https://fowid.de/meldung/gottesvorstellung-nach-religionszugehoerigkeit-2002. Der auch weiterhin gebrauchte Begriff „lügen“ verdeutlicht nicht nur die theologiefremde, sondern auch kirchenfeindliche Haltung von fowid: „Nur 13 % der evangelischen Pfarrer in Berlin-Brandenburg glauben an die Erbsünde. Bei den 87 % dieser Pfarrer, die diesen menschenfeindlichen Unsinn nicht glauben, muss man annehmen, dass sie auch nicht glauben, dass Jesus wegen der von allen Menschen ererbten Sünde von Gott am Kreuz geopfert worden ist. Nur 33 % der evangelischen Pfarrer in Berlin-Brandenburg glauben an das Jüngste Gericht. Das bedeutet, dass 67 % dieser Pfarrer lügen, wenn sie vor ihrer Gemeinde das Glaubensbekenntnis sprechen! Nur ein Drittel von ihnen hält die Heilige Schrift für heilig.“ Bei aller offenbaren Feindschaft: das sind Anfragen, denen wir uns stellen müssen.

20 Diese Umfragen spiegeln auch die fortschreitende Säkularisierung. Selbst die CDU sieht sich davon erfasst. In einer Wahlanalyse wird sogar gefragt, „ob das christliche C in einer sich verändernden Welt nicht geradezu hinderlich sei … Das C könne … als Barriere für Nichtchristen dienen und Exklusivität signalisieren. Es gebe gute Gründe für eine Flurbereinigung in der Namensfrage“. So referiert Peter Carstens in: Selbst das C ist nicht mehr tabu, FAZ, Donnerstag, 27. Januar 2022, 3. Diese Wahlanalyse könnte partiell auch eine der Situation der Kirchen sein; gerade unter dem Aspekt „allgemeine Repräsentanz in der Fläche“ (im Osten Deutschlands) erscheint sie fast als Menetekel.

21 Die „Forschungsgruppe Weltanschauungen“ in Deutschland (fowid) https://fowid.de/ueber-uns.

22 Sehr aufschlussreich sind die theologischen Überlegungen dazu von Eugen Drewermann, https://youtu.be/CV-frrd3-Sg?sub_confirmation=1#BenediktXVI #JohannesPaulII #Drewermann #Papst #PapstBenediktXVI #PapstJohannesPaulII #BXVI#JPII.

23 Man denke allein an die Streitigkeiten um den Begriff homoousios und seine Folgen, https://de.wikipedia.org/wiki/Wesensgleichheit.

24 https://de.wikipedia.org/wiki/Shell_Jugendstudie#Religion_und_Kirche.

25 https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/12/eine-zeitdiagnose-die-mitgliedschaftsumfrage-der-ekd/, http://www.ekd.de/EKD-Texte/kmu5_text.html.

26 Dierk Schäfer, Die gesellschaftliche Verzwergung der Kirche, https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/07/03/die-gesellschaftliche-verzwergung-der-kirche/.

27 Die immerhin einen wichtigen Anteil hat an der Berichterstattung über schlimmste klerikale Pädokriminalität.

28 http://sz.de/1.5512588.

29 Die Notfallseelsorge nannte ich einmal das „letzte volkskirchliche“ Projekt.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dipl.-Psych. Dipl.-Theol. Dierk Schäfer, nach Studium der Theologie und der Psychologie wiss. Assistent an der Universität Tübingen, 15 Jahre lang Polizeipfarrer, weitere 15 Jahre Tagungsleiter an der Evang. Akademie Bad Boll mit den Schwerpunkten Öffentlicher Dienst, Kinder- und Jugendrecht, Notfallseelsorge und Datenschutz.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2023

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