Die Kreuzigung Jesu ist das zentrale Ereignis, auf welches die vier Evangelien zulaufen. Die Gesamtaussage des NT ist, dass Jesu Tod am Kreuz das Sühneopfer war, welches Gottes Zorn über die Sünden der Menschen besänftigte. So sagt es Paulus: Christus ist für uns gestorben … So werden wir durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir durch sein Blut gerecht geworden sind (Röm. 5,8f) und in V. 10 noch einmal: Wir sind mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes.1 Unzählige Aussagen von Theologen und Laien haben diese Formel bestätigt. Klopstock dichtet im ersten Gesang seines Messias, Gott sei auf die Menschen wegen ihrer Sünden derartig wütend, dass nur das Opfer seines Sohnes ihn begütigen könne. Karl Barth: So groß ist das Verderben des Geschöpfes, dass weniger als die Selbsthingabe Gottes zu seiner Rettung nicht genügen würde.2 Die Sühneopfertheorie ist also keine Theorie unter vielen, sondern Kern der christlichen Verkündigung.

Die Aussage, dass der allgütige Gott seinen einzigen geliebten Sohn in einen qualvollen Tod geschickt hat, um sich für die Sünden der Welt schadlos zu halten, ist aber schwer verständlich. Die EKD-Schrift Für uns gestorben (2015) sieht das und bemüht sich, sie für den modernen Menschen verständlicher zu machen: Wir mögen vielleicht die aus der Tradition überkommene Sühnetheologie noch nicht in allen Einzelheiten erklären können. Wenn wir aber verstehen, dass das Leben und Sterben Jesu für Gottes unbedingte Treue und vergebungsbereite Liebe zu uns stehen, haben wir das Herzstück des Kreuzesgeschehens bereits erkannt. (Punkt 2.5).

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass

• die religionsgeschichtlich begründete Änderung des Opferbegriffs zu einer falschen theologischen Sicht verführt

• die Übersetzung „θυσia – hostia – Opfer“ das Opfer Jesu fälschlich als Sühneopfer erscheinen lässt

• Gottes Opfer in einem Verzicht auf die Ausübung seiner Macht, Böses, hier die Tötung Jesu, zu verhindern, besteht.

 

Stetigkeitsillusionen

Wörter bleiben oft über lange Zeit unverändert, auch wenn der mit ihnen bezeichnete Begriff sich geändert hat. Der Hörer oder Leser eines älteren Textes steht dann in der Gefahr, einer Stetigkeitsillusion zu erliegen, wonach er meint, ein Wort habe immer noch die ursprüngliche Bedeutung, während der Schreiber oder Sprecher des Wortes die geänderte Bedeutung meint. So werden auch religiöse Riten oft vollzogen, obwohl niemand sie mehr versteht.3 Das gilt auch für das Opfer. Das deutsche Wort Opfer übersetzt das im NT meistens gebrauchte θυσia – thysia, was allgemein Opfern, Opferhandlung und damit Zusammenhängendes bedeutet.4 Das Opfer wurde in der Antike regelmäßig als Brandopfer gefeiert, wie es zur Zeit Jesu auch im Tempel von Jerusalem noch üblich war.5 Paulus mahnt (Röm. 12,1): begebet eure Leiber zum Opfer, das da Gott wohl gefällig sei, und gebraucht das Wort θυσia. In Eph. 5,2: Christus hat sich selbst für uns gegeben als Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch – osmhn euvdias. Scheinbar ist damit das Opfer Christi dem archaischen Opfer gleichgestellt.6 Aber Paulus meint es natürlich metaphorisch. Der Begriff θυσia verschmilzt schon im NT mit δωρον = Gabe (vgl. Mt. 5,23; Lk. 21,1). Luther übersetzt daher beides mit Opfer.

Es ist also nicht ganz sicher, was Paulus und das NT mit Opfer eigentlich meinen: das archaische Brand- und Sühneopfer oder eine mildere Form gottesdienstlicher Handlungen, die man zu seiner Zeit gleichsam aus historischen Gründen auch Opfer nannte, wie ja die römische Kirche noch heute vom Messopfer spricht.

 

Opfer“ ist nicht gleich „Opfer“

Wichtig dürfte vor allem Folgendes sein: Der Begriff θυσia kommt im NT in verschiedenen Bedeutungen vor und wird in der Vulgata verschieden übersetzt: Mt.9,13 (sacrificium); 23,19 (donum); Mk. 9,49 (victima). Wenn aber von dem Opfer Jesu die Rede ist, wird θυσia mit hostia übersetzt: Röm. 12,1; Eph. 5,2; Phil. 2,17: hier hat die Vulgata das Verb „immolare“; 4,18; 1. Petr. 2,5; Hebr. 9,26; 10,12. Das Bedeutungfeld von θυσia bzw. dem Verb θυuw ist ziemlich weit und umfasst u.a. auch die Eingeweideschau zur Erkundung der Zukunft. Dagegen hat hostia ein recht klares Bedeutungsfeld, die mit der Wortwurzel hostis = Feind zusammenhängt und bedeutet: Schlachtopfer gewöhnlich zur Versöhnung der Götter, daher hauptsächlich in der Bedeutung Sühneopfer.7 Ähnliches gilt für den Zorn Gottes in Röm. 1,18. Das von Luther mit Zorn übersetzte griechische Wort ist orgh. Es bedeutet zunächst die natürliche Anlage, Beschaffenheit der Seele, woraus sich die heftige Gemütsbewegung ergeben kann, die dann auch zum Zorn werden kann. Die Stelle kann also statt mit Zorn auch sehr viel versöhnlicher übersetzt werden, etwa: Gottes Enttäuschung über usw. Die Vulgata übersetzt hier aber mit „ira“. Dieses lateinische Wort ist wiederum viel klarer, eindeutiger und in gewissem Sinne martialischer und bedeutet ohne Umschweife: Zorn, Erbitterung, Rache.

Ein griechisches Neues Testament lag im Abendland eigentlich erst seit 1516 durch Erasmus von Rotterdam vor. Die abendländische Kirche und Theologie sprach und schrieb Lateinisch. Die Vulgata war bis zur Reformation das authentische Gotteswort. Die Frage, aus welcher Sprache (Griechisch oder doch wohl Latein?) Luther das NT übersetzt hat, wurde an anderer Stelle behandelt.8 Luther, der die Vulgata praktisch auswendig kannte, aber keine vertieften Griechischkenntnisse hatte, dürfte die hier genannten Übersetzungsfragen nicht gesehen haben. Das bedeutet, dass das Sühneopfer des Gottessohnes nicht in der viele Auslegungsvarianten zulassenden Bedeutung von θυσia verstanden wurde, sondern einfach und brutal als Schlacht- und Sühneopfer zur Versöhnung Gottes entsprechend der Bedeutung des in der Vulgata gebrauchten hostia.

Zwischenergebnis: Es kommt also erstens in Betracht, dass Paulus mit θυσia überhaupt etwas anderes gemeint hat als das, was dieses Wort ursprünglich bedeutete. Zweitens, und wichtiger, kommt in Betracht, dass die Sühneopfertheorie eine Folge der Übersetzung von θυσia mit hostia ist.

 

Opferkult

Der ursprüngliche Sinn von θυσia ist eine vertragsähnliche Beziehung zwischen Mensch und Gottheit, in welcher der Mensch etwas Werthaltiges weggibt und dafür eine Gegenleistung erhält. Das so verstandene Opfer steht wohl am Anfang aller Religionen. Die Entwicklung des Opfergedankens geht offenbar mit der Entwicklung des Gottesbildes einher bzw. umgekehrt. Am Anfang stehen Lokalgötter, deren Macht begrenzt ist. Sie haben nicht alles (Nilsson, 45) und genießen das Opfer, zu welchem sie von den Opferern gebeten werden: Ihr Götter, kommt herbei, das für euch bereitete Soma zu genießen heißt es in mehreren Göttergesängen des Rig-Veda.9 Die Götter laben sich an dem „lieblichen Geruch der Brandopfer“ (Eph. 5,2).

Für diese Opfer gilt der Grundsatz do ut des.10 Wenn das Opfer richtig, entsprechend dem Ritualgesetz, vollzogen wurde, hatte der Opferer geradezu einen Anspruch auf die Gegenleistung der Götter. Die Theologen schwelgten in der Erfindung von grandiosen Opferriten, durch welche alle möglichen phantastischen Dinge erreicht werden könnten.11 Die ethische Einstellung des Opferers, ob er also sündhaft lebte, spielte dabei keine Rolle. Das Opfer war ein gegenseitiger Vertrag.

In der von Jaspers postulierten Achsenzeit um 500 v. Chr. änderte sich das Gottesbild nicht nur in Israel, sondern im antiken Kulturraum und damit auch der Charakter des Opfers. Die Entdeckung des ethischen Monotheismus stellte den Menschen einen Gott vor Augen, der nicht nach Brandopfern und formgültigen Riten fragte, sondern nach der Sittlichkeit des Menschen. Das Opfer wurde entsprechend den neuen Bedürfnissen umgestaltet (Nilsson, 133). Dazu gehörten nun auch die neu erkannten ethischen Forderungen Gottes. Was soll mir die Menge eurer Opfer – lässt Jesaja Gott sagen (Jes. 1,11). Stattdessen fordert dieser Gott: Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht (V. 17). Der Mensch kann durch unethisches Verhalten Gottes Zorn erregen und so sein Schicksal diesseits und jenseits des Todes beeinflussen. Aus einem rechtsförmigen Akt, der Gott zu einer Gegenleistung veranlassen soll, wird das Opfer nun zu einem Sühneopfer: der Mensch, der erkannt hat, dass er sündigen kann und auch schon in Sünde gefallen ist, bringt durch gewisse Zeichen die Bitte vor Gott, ihn in seine Gnade (wieder) aufzunehmen oder in seiner Gnade zu erhalten. So im Falle des Abraham.

 

Die Opferung Isaaks

Die äußerste Ausprägung dieses um Gnade bittenden Sühneopfers ist die Darbietung des eigenen Lebens oder eines Wertes, der noch über dem eigenen Leben steht. Das war für Abraham die Aussicht auf Nachkommenschaft, die sich in seinem einzigen geliebten Sohn Isaak bündelte. Die Opferungsgeschichte in Gen. 22 beruht vermutlich auf uralten Wurzeln. Sie wird als Erzählung ausgelegt, in der die Überwindung des archaischen Menschenopfers durch den Jahweglauben gezeigt wird.12 Das mag mitspielen. Wenn Gott von Abraham den einzig geliebten Sohn als Brandopfer verlangt, ist das aber wohl eher ein dramaturgischer Kunstgriff in einer Parabel, welche die Forderungen des Glaubens an einen persönlichen Gott betrifft.

Zunächst fällt auf, dass nicht Abraham ein Opfer vorbereitet, um von Gott einen Vorteil zu erbitten. Umgekehrt: Gott regt ein Opfer an, um den Glauben des Abraham zu versuchen (Gen. 22,1). Abraham glaubt nicht mehr an magische Wirkungen des Opfers. Ihm kommt kein Gedanke daran, dass Gott ihm für das Opfer eine Gegenleistung schulde. Er glaubt an einen ihm zugewandten persönlichen Gott, der allerdings unbedingten Gehorsam fordert. In Gen. 22,5 sagt er aber zu den Knechten: Bleibet hier, bis wir (!) wiederkommen. Damit ist wohl gesagt, dass Abraham zwar Gehorsam leisten will, dass er aber seine Hoffnung auf Gottes Liebe setzt, die ihm den Sohn lassen wird. Abrahams Opfer ist die äußerste Form der Unterwerfung unter Gottes Willen, letztlich die Vorwegnahme der dritten Bitte des Vaterunsers (Dein Wille geschehe).

 

Freier Wille oder der Mensch als Marionette?

Mit Jesus wandelt sich der Gottesbegriff erneut. Der dritte Bund Gottes umfasst alle Menschen.13 Die Schöpfung soll nicht umsonst gewesen sein, nicht in das Chaos zurückfallen, aus welchem er sie gehoben hat. Offenbar hat Gott die Welt zu einem Zweck geschaffen, warum sollte er sie sonst lieben? Die Gemeinde Christi hatte aber erkannt: Gott liebt nicht nur die Juden, sondern die ganze Welt (Joh. 3,16). Gott braucht freie, entscheidungsfähige Menschen. Das setzt den freien Willen des Menschen voraus, sich für oder gegen Gott, für oder gegen das Gute bzw. Böse entscheiden zu können. Gott könnte in seiner Allmacht Menschen so konditionieren, dass sie nur das Gute, Edle, Schöne begehren und tun. Er hat aber darauf verzichtet. Er will offenbar keine Marionetten, sondern Gehilfen in seinem vielleicht noch nicht an sein Ende gekommenen Schöpfungswerk. Gott nimmt in Kauf, dass die Menschen ihre Freiheit missbrauchen, um zu sündigen und Böses zu tun, aber er will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Tim. 2,4). Dazu schickt er Propheten, Menschen mit dem Mut, sein Wort in der Welt zu verkünden – auch auf die Gefahr hin, dass die Welt sie nicht hören will, sie verfolgt und tötet (vgl. Mt. 21,33ff).

Zu uns hat Gott durch Jesus gesprochen (Hebr. 1,1), der diesen Mut hatte. Daher wurde Jesus auch nicht geopfert. Jesus opferte sich selbst für Gott. Er hätte ja den Mund halten und sich auf seine Tätigkeit als Wanderarzt beschränken können. Sein Opfer bestand darin, dass er ohne Rücksicht auf sein persönliches Schicksal den Ton angebenden Leuten in Judäa sagte, was sie nicht hören wollten. Damit stürzte er sich sehenden Auges in ein Schicksal, wie es Jan Hus und zahlreiche Märtyrer erlitten.

Gott hätte Jesus retten können. Dass er es nicht tat, war vielleicht der wichtigste Schritt, um der Menschheit die Augen zu öffnen, um sie doch einmal zur Erkenntnis der Wahrheit zu führen.

 

Ergebnis

Der Inhalt des Wortes Opfer hat sich ebenso gewandelt wie die Gottesvorstellungen. Die Vorstellung von Jesu Sühnetod beruht auf einer Begriffsillusion und dem Übersetzungsfehler des griechischen θυσia mit hostia. Gottes Opfer besteht in einem Verzicht auf Machtausübung. Gott leidet selbst an dem Bösen. Am historischen Karfreitag hat Gott nicht befriedigt zugeschaut, dass ihm in der Person Jesu ein Menschenopfer dargebracht wurde. Die der Kreuzigung nachfolgenden Schrecknisse (Mt. 27,11ff) zeigen im Gegenteil die Empörung Gottes darüber, was die Menschen da wieder einmal angerichtet haben. Dennoch verzichtete Gott auf den Gebrauch seiner Macht, um uns Menschen Freiheit zu lehren. Die Leiden der vielen Märtyrer der Kirchen- und Glaubensgeschichte sind die Folge unserer missbrauchten Freiheit.

 

Anmerkungen

1 Vgl. auch Röm. 5,8ff; 1. Kor. 15,3; Eph. 5,2: Christus hat sich selbst für uns gegeben als Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch u.ö.

2 Zit. nach Neue Zürcher Zeitung v. 15.04.2006.

3 Grds. Nilsson, Martin, Geschichte der griechischen Religion, Bd. II, Beck-Verlag 1992, 109.132ff.

4 Pape, Wilhelm, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 1. Bd. (Braunschweig 1842).

5 Vgl. die Beschreibung im Aristeasbrief (Kautzsch II, Die Apokryphen, wbg Darmstadt 1975, 13).

6 Das ist der Einheitsübersetzung 2016 auch offenbar peinlich; sie übersetzt stattdessen „Opfer, das Gott gefällt“.

7 Der Neue Georges – Handwörterbuch, Nachdruck, wbg Darmstadt 2013.

8 Aden, Menno, DPfBl 2016, 111ff.

9 Rig-Veda, Verlag der Weltreligionen I.14, Inselverlag 2007, 29.

10 Nilsson, 45ff.132ff.

11 v. Glasenapp, Helmuth, Brahma und Buddha, Berlin 1926, 84.

12 Gerade für diesen Text gibt es aber abweichende Datierungen, wonach Gen. 22 auf das 8.-7. Jh. v. Chr. zurückgeht.

13 Aden, Menno, DPfBl 2007, 320ff.

 

Menno Aden

 

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

1 Kommentar zu diesem Artikel
28.03.2023 Ein Kommentar von Zimmermann, Klaus Bravo, da musste endlich mal ein Nicht-Theologe kommen, um mit dem seit dem Mittelalter unrefektiert fortgeschriebenen antik-heidnischen, blutrünstigen und rachsüchtigen Gottes-"Verständnis" aufzuräumen! Das ist es, worauf ich seit meinem Studium von1963 -1966 vergeblich gewartet habe. Vielen Dank!
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