Nach meinem Abitur vor 60 Jahren hätten mich meine bereits zahlreich gewordenen Fragen fast daran gehindert, Theologie zu studieren und den Pfarrberuf zu ergreifen. Eine mich damals besonders bedrängende Frage war, warum es denn wohl sogar unter den mir bekannten Theologen unserer engeren Familie und im Kollegenkreis unseres Vaters so zahlreiche und auch erheblich unterschiedliche Gottesbilder geben könne. Vater, Pfarrer und ehemaliger Elektroingenieur, half mir mit dem Hinweis auf das Bohrsche Atommodell etwa folgendermaßen: „Was ich nicht wissen kann, versehe ich mit einem verwendbaren und einsichtigen Modellbild. Das Atommodell erwies sich zwar experimentell als treffend und beweisbar, die Gottesmodelle aber bleiben im Theoretischen stecken. Sie können für den, der diese Vorstellung hat, einsichtig und hilfreich sein, werden aber niemals bewiesen werden.“ Das half mir in dieser grundsätzlichen Frage. Studium, Berufs- und Lebenspraxis haben natürlich dann manche Anfrage erledigt, aber auch haufenweise neue erbracht. Viele davon sind eher unbedeutend, einige betreffen aber zutiefst Grundsätzliches. Wichtigstes Beispiel: Im Großen und Ganzen kann ich mit der Weltdeutung Friedrich Nietzsches nicht viel anfangen. Mir ist seine „rein ästhetische Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung“, wie er sie selbst einmal knapp definiert hat, in jeder Hinsicht fremd. Aber recht einsichtig qualifiziert er „die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und jede (…) Kunst in’s Reich der Lüge verweist, – das heisst verneint, verdammt, verurtheilt.“

 

Moralisches Christentum

Ob das Verhältnis der „christlichen Lehre“ zur Kunst so einseitig und abfällig einzuordnen ist, bin ich mir zwar gar nicht so sicher. Dass sie aber „nur moralisch ist und sein will“, entspricht durchaus dem Erscheinungsbild sowohl der röm.-kath. Kirche schon lange zuvor, damals und heute als auch der des mittelalterlichen und zeitgenössischen Protestantismus, natürlich auch des zu Lebzeiten Nietzsches. Besonders extrem findet sich dieser Moralismus bei den evangelikalen Gruppierungen aller Konfessionen. Dass sich darin stark die jüdische Tradition widerspiegelt, ist dem aufmerksamen Theologen natürlich nicht entgangen. Ist der Moralismus aber das Grundsätzliche der in manchem sehr antijüdischen Botschaft des Jesus von Nazareth? Mit zunehmendem Alter habe ich an dieser Auffassung immer mehr Zweifel.

Der Kreuzestod des Erlösers „zur Vergebung der Sünden“ wird stets widerspruchslos in der Weise gesehen, dass die genannten Sünden schuldhaft begangene böse Taten oder zumindest Neigungen seien. Das „vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unseren Schuldigern“ ist noch immer die zentrale Gebetsbitte. Jede Gottesdienst-Agende führt über das demütige Sündenbekenntnis zum Gnadenzuspruch. Also: Moralbruch und Heilung. Und der junge Luther suchte in heller Verzweiflung den „gnädigen Gott“.

Vor Jahren hat mich eine junge katholische Lehrerin gebeten, sie mit ihrem evangelischen Verlobten zu trauen. „Ich kann die Messe nicht mehr ertragen. Zuerst wird mir energisch ein Schuldbewusstsein eingeredet, und dann reicht mir die Kirche huldvoll die Absolution. Erstens: ich betrachte es als unglaubliche Anmaßung der Katholischen Kirche, mich – wenn es denn notwendig ist – zu begnadigen. Das kann ja wohl Gott alleine, und dem überlasse ich das auch gerne und demütig. Zweitens: momentan habe ich kein großes Schuldbewusstsein, ich sehe Jesu Tod eher als Befreiung zum rechten liebevollen Handeln in meinem Alltag.“ Eindrucksvolle Sicht einer untheologischen jungen Frau.

 

Zur Ausübung der Liebe befreit

In ähnlicher Weise sehe ich heute den „Erlöser“ als den, der uns mit seiner Botschaft aus dem Gefängnis des Egoismus (der gar nicht schuldhaft entstanden sein muss, sondern eine durchaus verständliche Folge des völlig natürlichen Selbsterhaltungstriebes sein könnte) in beglückender Weise zur Ausübung der Liebe befreit.

Die Gleichnisse zeigen Wege. Dasjenige vom barmherzigen Samariter begreift sich wie einige andere leicht. Wieder andere ermöglichen in ihrer allegorischen Fassung zwar eher unterschiedliche Interpretationen, jedoch ist unübersehbar, dass die immer wieder wesentliche Botschaft ist: Vor Gott sind alle Menschen gleich. Dann doch bitte auch im Umgang miteinander. Nach meinem Verständnis werden wir also privilegiert und befreit. Zu Empathie, Zuwendung, Hilfsbereitschaft und zu allen Anstrengungen, Schäden von allen unseren Mitmenschen fernzuhalten, abzuwenden oder auszugleichen.

Da tut sich auch ein wunderbarer Freiheitsbegriff auf: nicht „was beliebt, ist auch erlaubt“, sondern „du kannst, weil du dir selbst nicht mehr im Weg stehst“. Schließlich haben alle Wörter für „frei“ in den indogermanischen Sprachen ursprünglich nicht „unabhängig“, sondern „privilegiert“ bedeutet. Erlösung ist dann die Privilegierung zum Dienst in und unter der Urkraft „Liebe“. Und die „Sünden“ beschreiben den Zustand des unbefreiten Menschen, nicht böse Taten. Wird das moralisierende Korsett abgestreift, entsteht ein alltäglicher Lebenseinstellungs- und Handlungsspielraum, der von unglaublicher Größe und Schönheit ist. Und genau das haben viele christliche Künstler aller Epochen, vor allem Komponisten und Maler, oft erheblich besser erfasst als die verkopften – und rechthaberischen – Theologen und Kirchenfürsten. Das konnte und mochte Nietzsche natürlich nicht begreifen.

 

Religiöse Glaubenshaltung als moralische Haftanstalt

Warum nun neigen die monotheistischen Religionen – ja, alle – so intensiv zu moralischen, und damit eigentlich lieblosen Glaubensmustern? Betrachten wir dazu die älteste, das Judentum, das schließlich ohnehin der Urquell sowohl des Christentums als auch des Islam ist. Seine Entstehung liegt in einem historisch nicht ganz leicht zugänglichen sehr langen Zeitraum. Und seine Erzählungen und Mythen behaupten munter, die Menschwerdung sei als ein Augenblicksgeschehen – die „Schöpfung“ durch den einen „Allmächtigen“ – gewissermaßen der Beweis für die Richtigkeit ihrer Theorie. Konsequent folgt der Sündenfall als Abfall von den strengen Regeln des Allmächtigen.

Solche im hoffnungsvollen – aber auch zugleich angstvollen – Blick zurück entstandenen Erzählungen und ihre unterschiedlichen Szenarien ordnet der Historiker Magnus Brechtgen so ein: „Diese Vorstellungen variieren nach Lebensort und natürlicher Umgebung, Klima und Lebensumständen, Nahrungsmöglichkeiten und Kulturentwicklung. (…) Alle unverständlichen Ereignisse des menschlichen Lebens – Krankheiten, Unfall oder Tod, alle Erscheinungen der Natur und der Umwelt, ob Gewitter oder Sturmflut, Kometenschweif oder Vulkanausbruch – erhalten ihren geordneten Platz.“

Beste Beispiele für die Sinnhaftigkeit dieser Beschreibung sind die beiden so auffällig unterschiedlichen Schöpfungsgeschichten des AT. Die eine beschreibt die Schöpfung wie die Entstehung einer Oase, die andere in einer geordneten Abfolge vom Werden der verschiedensten Kreaturen mit dem Menschen als „Krone der Schöpfung“ in sieben Tagen. Letztere passt nicht wie erstere in die lange Zeit der Züge der israelitischen Stämme von Oase zu Oase, sondern eher in die spätere Zeit der ägyptischen Unterwerfung. Zumal es vergleichbare Theorien zur Weltentstehung in der ägyptischen Mythologie gibt.

Brechtgen erkennt in allen Göttermodellen, wie immer sie auch im Einzelnen sein mögen, folgendes: „ihnen gemeinsam ist die Vorstellung, dass der Mensch einer außerweltlichen Instanz unterworfen ist, die seine Freiheit einschränkt. Er ist ein Geschöpf (…) oder jedenfalls Objekt ihrer Macht und muss sich deren Anweisungen entsprechend verhalten, die ihm – immer von anderen Menschen – als“ absolute weil eben göttliche Regeln „aufgezwungen werden“. Diese „anderen Menschen“ sind die Priester, die Gelehrten und allerlei weltliche Machthaber. Und schon wird die religiöse Glaubenshaltung zur moralischen Haftanstalt.

Eine ganz besondere die Ängste prägende Kraft haben die eingangs genannten unzähligen Gottesvorstellungen, die eben auch innerhalb einer jeden Religionsgemeinschaft äußerst unterschiedlich sind. Fast allen diesen ist aber Eines gemeinsam: die Gottheit ist eine universell waltende allmächtige Person. Und fast ausnahmslos ist sie männlich. Engagierte Frauen begehren auf. Sie ersetzen das übliche Gottesbild durch ein weibliches. Das aber macht die Sache auch nicht besser. Nahezu alle monotheistischen Glaubensmodelle haben nämlich gemeinsam, ihre Gottheit als moralische Superinstanz und zudem anthropomorph zu begreifen.

 

Der Ruf der Freiheit

Zumindest die protestantische Theologie ist sich seltsam darin einig, Jesu Reden und Handeln als eine Radikalisierung der jüdischen Gesetzlichkeit zu begreifen. Der Widerspruch gegenüber dem „Ihr wisst, dass den Alten gesagt ist …“ durch sein „Ich aber sage Euch …“ hat für mich indessen eine ganz andere Qualität gewonnen. Was einst moralische Regel war, wird durch den Ruf der Freiheit zum liebevollen Handeln ad absurdum geführt. Johannes begreift das ganz radikal und stellt fest: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16) Das ist das beste Credo, das ich kenne. Keine anbetungswürdige oder -bedürftige Jenseitsperson, sondern eine zutiefst diesseitige Urkraft, die Welt in die rechte Balance zu bringen. Dieses Gottesmodell trägt mein Leben.

Erste Schritte, so zu denken und zu glauben, hat mir unsere kluge fromme Großmutter gezeigt. Dann im Theologiestudium die eine oder andere kontroverse Diskussion mit etlichen anderen Theologiestudentinnen und Theologiestudenten. Schließlich aber gedanklich gefesselt und in meinem Glaubensleben befreit hat mich Ernst Käsemann, den ich zwar nie persönlich erlebt habe, der mir aber mit einigen Monographien und insbesondere mit seinem Büchlein „Der Ruf der Freiheit“ zur inneren Klarheit über meine noch unvergorenen Gedanken verholfen hat.

Diese seine Position wurde zur Stütze für meine: Dogmatische Überzeugungen ersetzen nie die Nachfolge des Jesuswortes Joh. 5,24: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tod zum Leben hindurch gedrungen.“ Wer also dem Gesandten der absoluten Liebe sorgsam zuhört, kann wahrhaftig frei werden. Ohne moralische Rechtsprechung oder Absolution.

Käsemanns Interpretation des Gleichnisses vom Sämann macht in der Quintessenz traurig: „Ob (…) uns darüber bewußt wird, wie oft seine Saat durch die Christenheit erstickt wird? (…) Kinder sitzen auf dem Markt und streiten, was sie spielen sollen. Die einen sind für Hochzeit, die anderen für Beerdigung, und über ihrem Streit geht die Stimme der Weisheit verloren, die ihre Kinder zu sich ruft. Ist das nicht auch das Bild und die Wirklichkeit der Kirche in ihrer Theologie und Praxis?“ Ganz hart urteilt er dann nach der Ermordung seiner Tochter in Argentinien, zu deren Verhinderung die Kirche, wie auch der Staatsapparat, keinen Beitrag geleistet hat: Die Kirche sei ein „getreues Spiegelbild der wohlstandssatten, selbstgerechten, leidunempfindlichen Gesellschaft“. Also in gewisser Weise gottlos, weil lieblos.

Eigentlich müsste die aktuelle theologische Diskussion endlich begreifen: Der heutige verantwortlich denkende Mensch findet sich ohnehin in dem alten Schuld-und-Sühne-Szenarium kaum noch wieder. Die Sünden unserer Zeit sind doch eindeutig sozial und wirtschaftlich den Bekriegten und Ausgebeuteten geschuldet sowie klimaschädlich uns allen. Für diese Sünden alle kann es keine Erlösung im Sinne von gnädiger Absolution geben, sondern nur Lösungen, im Großen wie im Kleinen. Diese Lösungen liebevoll anzustreben sind wir Christenmenschen frei! Mit gerechtem Denken, klärenden Verhandlungen und Verzicht. Notfalls auch mittels Demonstrationen, Boykotts, Gerichtsverfahren und anderen Widerstandsformen, aber nur solange sie keine Schäden an Leib und Leben anrichten. Ein unfassbares Privileg!

 

Gerhard Roos

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

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