Für Michael Passauer zum 80. Geburtstag am 20. Januar 2023

 

Hinsichtlich der atomaren Bewaffnung in Ost und West wird auf der Synode zu Görlitz [1987] vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR ein Bekenntnis ausgesprochen: „Wir bekennen: Gott befreit uns durch Jesus Christus aus der Knechtschaft der Angst, die eine Folge der Sünde ist. Er befreit von Abhängigkeit und Unterdrückung. Daraus folgt: kein Mensch und kein Staat darf durch Drohung mit Massenvernichtungsmitteln Angst und Abhängigkeitsverhältnisse schaffen, um sich so seinen Frieden zu erkaufen und Macht auszuüben.“ In der Nachfolge des Bundes in der DDR steht die große, wiedervereinigte EKD. Hat sie dieses Erbe auch als ihr Bekenntnis aufgenommen?

 

Reale Gefahr eines Atomkriegs

Auf einmal ist durch den Russland-Ukraine-Krieg der Einsatz von Atombomben wieder eine reale Zerstörungs- und Todesgefahr. Putin, Lawrow, Medwedew und hohe russische Militärs drohen permanent mit dem Einsatz der Atomwaffen. Der amerikanische Präsident Biden droht zurück. Russland ist hinsichtlich der nuklearen Ausrüstung das weltweit stärkste und – mit Nordkorea – auch das rücksichtsloseste Land. Und darin hat Putin aller Wahrscheinlichkeit nach recht: Die Drohung mit der nuklearen Bewaffnung ist kein „Bluff“.

Inzwischen rückt der Zeiger der Uhr der internationalen Nuklearwissenschaftler, die Doomsday Clock, auf 44 Sekunden vor Mitternacht. In der 73jährigen Geschichte dieser symbolischen Weltuntergangsuhr waren wir nach Meinung der Atomwaffen-Gelehrten nie näher an der atomaren Katastrophe dran wie gegenwärtig. Die Doomsday Clock tickt und schreitet voran, noch näher ans Desaster. Selbst Präsident Biden spricht vom drohenden „Armageddon“. Das ist die endzeitliche militärische Katastrophe, die zum Weltuntergang führt (Offb. 16,16). Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und uns nicht vertrösten mit einem „So schlimm wird’s doch nicht werden.“

 

Nero-Befehl“

Meine größte Sorge ist, dass Putin im Angesicht einer großen militärischen Niederlage, die die Ukraine allein durch immer mehr westliche und stärkere Waffenlieferungen erstreiten könnte, den „Nero-Befehl“ ausgibt. Er führte uns letztlich alle in den nuklearen Abgrund – vor allem die Ukraine und Russland selber.

Der Name „Nero-Befehl“ bezieht sich auf den „Großen Brand“ Roms im Juli 64 n. Chr. Es war in der Regierungszeit des als unbarmherzig und schrecklich geltenden Kaisers des Römischen Reiches Nero. Es heißt, Nero habe den römischen Stadtbrand selber gelegt und befeuert. Im Nero-Befehl habe er sogar Löschungen des Feuers verboten. Und seine Gnadenlosigkeit und Verwerflichkeit sei dadurch zu einem besonderen zynischen Ausdruck gebracht worden, dass er über den brennenden Dächern Roms die Leier gespielt habe. Wahrscheinlich ist das eine Legende. Aber der „Nero-Befehl“ ist zum Narrativ geworden.

Einen Nero-Befehl erlässt Hitler am 19. März 1945, also kurz vor seinem Selbstmord. Sein Befehl lautet, dass die letzten deutschen Soldaten ihre Heimat, ihre Dörfer und Städte, Weiden und Wälder und das ganze Deutschland selbst, auf eigene Faust vernichten und zerstören sollten. Was hätte Hitler wohl gemacht, wenn er den Nero-Befehl mit nuklearen Waffen selber hätte ausüben ­können?

Heute droht der Nero-Befehl in beiden Fällen: (A) Putin ist konzentriert und waghalsig. Er nimmt eine militärische Niederlage wahr – dann wäre der Nero-Befehl konsequent. (B) Er ist nicht mehr bei Sinnen – dann wäre der Nero-Befehl noch wahrscheinlicher.

 

Diffamierung von Pazifisten

Die Folgerungen, die ich von daher hier vortrage, werden kirchlich und politisch ohne jede Beachtung und Wirksamkeit sein. Sie sind ohnmächtig, möglicherweise überflüssig. Sie sind radikal „daneben“. Viele werden sie auch in der Kirche eher für verrückt halten.

„Russland muss besiegt werden / die Ukraine muss immer stärkere Waffen“ bekommen, fordern auch Berliner Spitzenpolitiker. Wer den Krieg gegen den angeblichen Hitler-Wiedergänger Putin nicht alternativlos findet, ist – nur ein Beispiel – für den ehemaligen Kriegsdienstverweigerer und Mitglied des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“, heutigen Grünen-Vordenker Ralf Fücks ein „Unterwerfungspazifist“ [SPIEGEL, 13.7.2022].

Allerdings ist die Diffamierung schon so vielen theologischen und kirchenpolitischen und politischen Texten passiert, dass es einen nicht wundern darf. Pazifisten dürfen nicht empfindlich und wehleidig sein. Und mit dem Vater des Programms eines gewaltlosen Widerstandes Theodor Ebert – langjähriges Mitglied der Kirchenleitung der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg – ist zu sagen: „Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, sie zu suchen, ihnen nachzugehen und auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu finden“.

 

Atomwaffen als Verbrechen

M.E. sind es einige verwegene Annahmen und pragmatisch-pazifistische – im Unterschied zu gesinnungsethischen Totalinduktionen – Folgerungen, die sich 2023 ergeben aus der theologischen Verwerfung der Atomwaffen, wie sie etwa das Reformierte Moderamen 1982 und die Görlitzer Synode 1987 vorgenommen und bestimmt haben: Die Atomwaffen sind in der Anwendung und schon in ihrer Bereitstellung ein unentschuldbares Verbrechen. Diejenigen, die sie lagern und ihre Anwendung üben und diejenigen, die sie gutheißen und einzusetzen bereit sind, begehen ein Verbrechen. Dieses Verbrechen exkommuniziert sie.

Ein „Nein ohne Ja“ und die Einordnung der Atomwaffen in ihrer Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung als Verbrechen sind der Ausgangspunkt. „Unsere Stellung zum Frieden reflektiert unsere Stellung zum Versöhner. Ich mache Gott zu einem Nichts, wenn ich die Sicherung des Friedens durch Atomwaffen befürworte“ (Rudolf Bohren 1983).

Die abschreckende Wirksamkeit von Atomwaffen wird oft mit dem Satz begründet: „Wer als erster schießt, stirbt als Zweiter.“ Heute muss der Satz lauten: „Auch wenn Einer als Erster schießt, darf der Zweite nicht mit Atomwaffen zurückschießen.“ Denn spätestens der atomare Rückschuss würde den ohnehin schon so versehrten Globus kollabieren lassen.

Zu fragen ist: Wie hoch und wie teuer darf der Preis denn sein? Mit welcher Endabsicht wird im Ukraine-Krieg mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen gekämpft? Was ist das Ziel? Heute sind es schon 120.000 Soldaten-Opfer auf beiden Seiten des Krieges (so der US-Generalstabschef Mark Milley). Und unzählbare Zivilisten sind dahingerafft. Bis zu welchen Zahlen und Mitteln dürfen schwere Waffen geliefert und mit ihnen Krieg geführt werden? Auch hinsichtlich der Mitteldinge der „taktischen Atomwaffen“ kann es keine Beruhigung geben. Jede einzelne von ihnen hat eine Zerstörungskraft, die die Zerstörung von Hiroshima übertrifft.

 

Nukleare Verweigerung aus Gewissensgründen

Das heißt nun konkret: Auch wenn Putin mit Atomwaffen droht, darf „der Westen“ nicht zurückdrohen und den atomaren Gegenschlag ausführen. Spätestens ein Gegenschlag wird ein solches Inferno auslösen, das die ganze Erde beträfe und in jeder Hinsicht unvertretbar wäre. Schon jetzt muss darum das „Nein ohne Ja“ auch in dieser Hinsicht ausgesprochen werden: Kein Zweitschlag! Das Übel ist unvorstellbar schrecklicher als ein waffenloser Widerstand.

Noch eins: Der Kampfjet Tornado ist seit 1981 in der deutschen Luftwaffe im Einsatz. Neue Atombomber sollen in kürzerer Zeit angeschafft werden – bis zu 35 „F-35“ amerikanische Flugzeuge. Die Bundeswehr übt dauernd – auch wenn sie nicht Mitglied der Nuklearmächte ist – nicht nur über Rheinland-Pfalz atomare Einsätze. Und sie bestätigt eine bis Februar 2026 dauernde Sanierung der Landebahn in Büchel.

Die alten und die neuen Flugzeuge sind deutsche Trägersysteme für amerikanischen Atomwaffen. Deshalb ist die Entscheidung für ein Tornado-Nachfolgemodell zugleich auch eine Entscheidung über die weitere nukleare Teilhabe Deutschlands. Die neuen Tornados sind unvorstellbar teuer. Geht diese „nukleare Teilhabe“ im Russland-Ukraine-Krieg so weit, dass die fliegenden Atomwaffen ihre Möglichkeiten auch ausüben – mit deutscher Hilfe? Von Deutschland aus gestartete Atombomben – auf Moskau?

Deshalb müssten – ich bin mir im Klaren über die Verrücktheit dieser Forderungen – die Tornado-Piloten des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 am Atomwaffenstandort Büchel zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen werden. Sie sollten mit der Beihilfe der röm.-kath. Kirche und der EKD erklären, dass sie sich an der Unterstützung der nuklearen Teilhabe Deutschlands aus Gewissensgründen nicht länger beteiligen können.

 

Widerstand – ja, aber gewaltbegrenzend

Und was würde wohl geschehen, wenn die Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Dr. Annette Kurschus oder der Bischof der EKBO Dr. Christian Stäblein im Blick auf die F-35 und die (vorerst „nur“) 100 Milliarden für die Bundeswehr öffentlich und laut den einen wichtigen Satz der Friedenskundgebung der EKD-Synode (Marburg November 2022) sagten: „Einem drohenden neuen Rüstungswettlauf, der die Fragilität des internationalen Systems weiter erhöhen würde, treten wir entschieden entgegen.“

In der Ukraine und erst recht in Russland gibt es nicht wenige Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. So sie nicht im Gefängnis sind, ist auf ihre Stimme zu hören [s. DPfBl 1/2023, 52). Zusammen mit ihnen wäre im Geist eines pragmatischen Pazifismus zu sagen:
widerstand ja, aber gewaltbegrenzend
darum: weniger angriffswaffen
mehr defensivwaffen
mehr humanitäre unterstützung der ukraine
flüchtlinge aufnehmen, mehr geld dafür
wirtschaftliche sanktionen wie sie geschehen
intensivste diplomatische bemühungen
feuerpause
unbedingt verhandlungen (auch mit putin)
veränderungen mit gewaltlosen mitteln
wie bei den friedlichen revolutionen 1989 im ostblock
kirchliche parteinahme
verabscheuung des moskauer patriarchen, der orthodoxen kirche und des kriegspredigers kyrill

In diesem Sinne und auf dieser Linie haben sich die Friedensbeauftragten der EKD Renke Brahms (seit 2008) und Friedrich Kramer (seit 2022) immer wieder geäußert. Immer wieder waren und sind sie zwei Lichtblicke. Sehe ich es aber recht, hat sich in der letzten Dekade nur ein namhafter evangelischer Hochschullehrer – vom Universitätskatheder aus – wieder zur Ethik der nuklearen Waffen geäußert. Er verdient es, im Zusammenhang gehört zu werden (s. Kasten).

 

Rolf Wischnath

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Rolf Wischnath, Jahrgang 1948, Pfarrer in Soest, Mülheim und Berlin (1980-1989), ­Reformierter Moderator der Evang. Kirche in ­Berlin-Brandenburg (1990-1995), General­superintendent für das östliche Brandenburg (1995-2004), Honorarprofessor der Universität Bielefeld (seit 2008).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

1 Kommentar zu diesem Artikel
11.04.2023 Ein Kommentar von Arne v. T. Sie fordern: "verabscheuung des moskauer patriarchen, der orthodoxen kirche und des kriegspredigers kyrill." Aber suchen sie doch das Friedensgespräch mit dem Kollegen! Das sollte doch viel einfacher sein, als alle ihre Forderungen an die Kriegsparteien und deren Unterstützer umzusetzen! Mit gutem Beispiel vorangehen, das Unmögliche möglich machen: Frieden mit Patriarch Kyrill machen und gemeinsam die Friedenslösung für die Ukrainefrage finden! Dem Kyrill und seiner Kirche aber den Friedensdialog zu verweigern, ist ein Widerspruch zu allen vorher gelisteten Vorwürfen und Forderungen an die anderen im Artikel angesprochenen vermeintlich Dialogunwilligen. Kirche muß mutig vorangehen, Kirche muß mit Kirche Frieden schließen und Frieden machen wollen, Kirche geht mit gutem Beispiel voran, statt es nur von anderen einzufordern Wann reisen sie nach Moskau zum ökumenischen Friedensgespräch? Zeigen sie was möglich ist, dem der da glaubt! Fordern sie es nicht von anderen!
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