Die Begriffe „Geschlecht“ und „Gender“ sind umstritten; umstritten ist aber auch das Verhältnis der Wissenschaften Biologie und Gender Studies. Brauchen wir die geschlechtsspezifischen Kategorien von Mann und Frau, um gesellschaftlich wie binnenkirchlich auf die soziale Benachteiligung von Frauen aufmerksam machen zu können? Jantine Nierop reflektiert ihren eigenen Forschungsprozess hierzu aus den letzten fünf Jahren.

 

Im Untertitel könnte mein Artikel auch lauten: Wie ich in den Jahren 2017-2022 lernte, zwischen Geschlecht und Gender zu differenzieren, besser gesagt: zwischen Biologie und Gender Studies – und wie ich dies tat als christliche Theologin und Pfarrerin, also: in Glauben, Liebe, Hoffnung. Im Grunde beschreibt er meinen persönlichen Forschungsweg in den letzten fünf Jahren.1

Im Februar 2017 wechselte ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin von der Universität Heidelberg zu der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dienstort war Hannover. Dort wurde ich Geschäftsführende Studienleiterin des Studienzentrums für Genderfragen in Kirche und Theologie. Meine Vorgängerin, Dr. Simone Mantei, hatte die Studie „Kirche in Vielfalt führen“2 initiiert, die die Verteilung von Männern und Frauen auf den mittleren Führungspositionen in fünf deutschen Landeskirchen zum Thema hat. Schon der „Gleichstellungsatlas der evangelischen Kirche in Deutschland“ (2015) hatte gezeigt, dass Frauen auf der mittleren Führungsebene stark unterproportional vertreten waren.3 Meine Aufgabe war die Fertigstellung von „Kirche in Vielfalt führen“ sowie die Präsentation der Ergebnisse auf der EKD-Synode im November 2017 in Bonn. Ein externes Forschungsteam hatte in den fünf Landeskirchen Interviews durchgeführt und Empfehlungen ausgesprochen. Die Bonner Synode fasste daraufhin einen ­Beschluss und zog Konsequenzen aus der Studie. Sie erachtete es „für notwendig, der Tatsache, dass stereotype geschlechtsspezifische Zuschreibungen in unserer ­Kirche nach wie vor starke Wirkung entfalten und eine Hürde für die Öffnung von Leitungsämtern insbesondere für Frauen darstellen, entschieden entgegenzu­wirken“4.

 

Ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister

Das war im November 2017. Einen Monat zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil ausgesprochen, das große Folgen haben sollte – gesamtgesellschaftlich und ganz konkret auch für die Arbeit im Studienzentrum für Genderfragen. Gemeint ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16), dass auch diejenigen Menschen, „deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht ­zuordnen“, ein Recht auf einen positiven Geschlechtseintrag im Personenstandsregister haben, der nicht „weiblich“ oder „männlich“ lautet.5

Nur knapp zwei Monate später beteiligte sich das Studienzentrum für Genderfragen als Kooperationspartner an einer Tagung zum Thema Intersexualität an der Evang. Akademie Loccum. In dem Band „Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität“, der ein Jahr später erschien, sind die Beiträge der Tagung gesammelt. Herausgeber*innen sind PD Dr. Julia Koll, Dr. Gerhard Schreiber und ich selbst.6 In dieser Publikation wird an mehreren Stellen die Theorie vertreten, dass Geschlecht kein binäres System darstellt, sondern ein kontinuierliches Spektrum von Möglichkeiten (28, 31, 38).7 Gleich am Anfang heißt es im Geleitwort: „Dass jeder Mensch entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht angehört, ist im Alltagsbewusstsein bis heute fest verankert. Ein ‚Dazwischen‘ erscheint vielen Zeitgenossen kaum vorstellbar […] Es gibt Menschen zwischen den Geschlechtern.“ (9) Dass sich manche Menschen weder eindeutig dem weiblichen noch eindeutig dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen, hat nach dem von mir mitverfassten Vorwort einen „Abschied vom bipolaren Menschenbild“ (11) zu Folge. Zu der Zeit dachte ich, das würde den aktuellen Stand der biologischen Wissenschaft akkurat wiedergeben.

 

Abschied vom bipolaren Menschenbild?

So war ich für zwei Projekte verantwortlich, die in sich kaum widersprüchlicher sein konnten. Einerseits die Förderung weiblicher Führungskräfte, andererseits ein Abschied vom bipolaren Menschenbild und die Übernahme der Theorie, Geschlecht sei ein kontinuierliches Spektrum. Letzteres unterläuft den Bonner EKD-Beschluss zumindest auf der theoretischen Ebene. Wenn Männer und Frauen keine abgrenzbaren Kategorien mehr sind, macht es strenggenommen keinen Sinn mehr, ‚geschlechtsspezifischen‘ Daten zu sammeln und einen relativen Frauenanteil herauszurechnen.

Weiter gilt: Wenn die Begriffe „Männer“ und „Frauen“ im körperlichen Sinn beliebig geworden sind, aber trotzdem beibehalten werden, werden sie gemeinhin als sog. „Geschlechtsidentitäten“ verstanden. In der Tat hat der Rat der EKD im Jahr 2020 die Arbeit des Referats für Chancengerechtigkeit neu formuliert. In der neuen Ordnung heißt es nun: „Das Referat wirkt darauf hin, dass sich Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität […] entwickeln, ihre Gaben, Interessen und Neigungen entfalten und ihren Lebensweg und ihre sozialen Rollen entsprechend wählen können.“8 Nur in der Präambel, die auf das Einssein in Christus verweist (Gal. 3,28), ist noch von Geschlecht die Rede. Die Neufassung der Ordnung, so hat der Rat der EKD formuliert, geschehe „im Lichte aktueller Erkenntnisse über Geschlechtlichkeit“9. Wenn nun nicht mehr das körperliche Geschlecht gilt, sondern stattdessen eine gefühlte Geschlechtsidentität, ist die Ausführung des Bonner Beschlusses auch praktisch unmöglich geworden, da sich die Bedeutung des Wortes „Frau“ vollständig verändert hat. Der Begriff „geschlechtsspezifisch“ ist somit obsolet geworden. Es fehlen der EKD und dem Studienzentrum für Genderfragen nun schlichtweg die Kategorien, einen solchen Beschluss durchzuführen.

 

Geschlechterkategorien in der Kirche?

Zu der Zeit war ich schon nicht mehr als Studienleiterin im Studienzentrum für Genderfragen tätig. Im Jahr 2019 war ich als Pfarrerin in die Evang. Landeskirche in Baden zurückgekehrt. Schon rasch begann ich damit, Aufsätze, die ich in den letzten Jahren geschrieben hatte, für eine Buchpublikation zu überarbeiten. Einer davon war der Artikel „Über die Entbehrlichkeit von Geschlechtern in der Kirche“, erschienen in der von mir herausgegebenen EKD-Publikation „Gender im Disput. Dialogbeiträge zur Bedeutung der Genderforschung für Kirche und Theologie“ (2018)10. Wie es der Titel schon sagt, war ich der Meinung, die Kirche könne „getrost auf Geschlechter verzichten“ (267). Dennoch hielt ich Geschlechterkategorien in der Kirche weiterhin für akzeptabel, allerdings nur unter der gleichen Prämisse, wie sie der Mainzer Soziologe Stefan Hirschauer beschrieben hatte, nämlich: „Dass der Umstand, dass die allermeisten von uns als Männchen oder Weibchen zur Welt kommen, keinerlei soziale Folgen hat, uns also nicht notwendig auch zu Männern und Frauen werden lässt. Dass es Menschen also völlig freisteht, welche Sexual­partner sie bevorzugen, welche Berufe, welche Kleidung sie wählen wollen usw.“ (267, 268)

Den ersten Satz konnte ich nicht mehr so übernehmen. Hirschauer scheint Frauen und Männern als lauter soziale Konstruktionen zu verstehen, die nicht notwendigerweise aus Weibchen und Männchen hervorgehen. Mit bald Mitte vierzig hielt ich dies mittlerweile für illusorisch. Viele Frauen würden wohl niemals das Leben führen, das sie taten, wenn sie Männer gewesen wären, und umgekehrt – weil nämlich ihre verschiedene körperliche Ausgangslage im Leben ganz entscheidende Konsequenzen hat. Ich sah nunmehr ein, dass man (frau) für das Ignorieren geschlechtsspezifischer Wirklichkeiten einen hohen Preis bezahlt, in manchen Fällen wortwörtlich. Oder, wie es die britische Autorin Louise Perry vor kurzem formuliert hat: „Men and women are not the same, and it is usually women who suffer when we pretend otherwise.“11 Geschlechterkategorien werden notwendigerweise gebraucht, um die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Männern und Frauen zumindest beschreiben zu können. Auch und gerade in der Kirche, dem Ort, wo im Namen Jesu Realitätssinn und Gerechtigkeit geübt wird.

 

Biologie und soziale Wirklichkeit

Nicht überraschend lautete der Titel meines Workshops, den ich im Jahr 2020 auf dem Queeren Studientag in Heidelberg anbot, „Warum wir die Begriffe Mann und Frau relativieren müssen, aber nicht auf sie verzichten können“. Am Ende des Workshops kam ich auf Schwangerschaft und Stillzeit als spezifisch weibliche Lebenswirklichkeit zu sprechen, die benannt werden können muss, um im Hinblick auf Berufstätigkeit und Chancengerechtigkeit ausgleichende Maßnahmen ergreifen zu können. Schon während des Workshops ermahnte mich eine Teilnehmerin: Ich sollte nicht von Frauen, sondern von „gebärenden Menschen“ sprechen. Dies tat ich dann. Für die kommende Buchpublikation entschied ich mich allerdings, an dem Begriff „Frau“ festzuhalten. Wenn weibliche Lebenswirklichkeiten schon häufig ein unterbeleuchtetes Thema in Gesellschaft und (theologischer) Forschung darstellen, sollten Frauen nicht auch noch sprachlich verschwinden.

Nun gewarnt wollte ich mich für die Veröffentlichung absichern und mich in keiner Weise angreifbar machen. Konnte man angesichts der modernen Biologie Schwangerschaft überhaupt noch als weibliche Lebenswirklichkeit beschreiben?12 Durfte ich im Zuge meiner Aus­legung der ersten Schöpfungsgeschichte in Gen. 1 die menschliche Geschlechtlichkeit rein auf die Fortpflanzung beziehen oder war dies eine unzulässige Reduktion – wie mir ebenfalls im Workshop vorgeworfen ­worden war?

In dieser Absicht erforschte ich aktuelle biologische und sexualmedizinische Lehrbücher. Es greift fast zu kurz zu sagen, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Nirgendwo wurde die Geschlecht-als-Spektrum-Theorie vertreten. In keinem Lehrbuch wurde das sehr seltene Phänomen Intersexualität als Argument gegen eine bipolar-dichotome Zweigeschlechtlichkeit aufgebracht. Menschen mit Intersex-Syndrom tragen eben Anlagen beider Geschlechter in sich. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern finden sich nach unumstrittenem Konsens in den Bereichen des menschlichen Körpers, die unmittelbar mit der biologischen Reproduktion zusammenhängen: Nur Frauen menstruieren, empfangen Kinder, gebären und stillen, während nur Männer Kinder zeugen können. Die fortpflanzungsbedingten Unterschiede zwischen Frauen und Männern kulminieren schließlich in der absoluten Binarität ihrer Gameten (Keimzellen). Zwischen großen weiblichen Gameten (Eizellen) und kleinen männlichen Gameten (Spermien) gibt es keine Übergänge oder Mischformen.13

 

Zwei oder mehr Geschlechter?

Wenn dies erstaunlicherweise wissenschaftlichen Konsens darstellt, stellt sich die Frage, auf welche zeitgenössischen Quellen sich das von mir mitherausgegebene Buch „Diverse Identität“ in der Sache beruft. Autorin Anike Krämer nennt in ihrem Beitrag drei Namen: Anne Fausto-Sterling, Heins-Jürgen Voß und Claire Ainsworth (57, 58).

Die amerikanische Biologin Fausto-Sterling publizierte im Jahr 1993 den Artikel „The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough“. Auf ihrer Website sagt sie jetzt, dass sie den Artikel damals geschrieben hat „with tongue in cheek“14 und mit der Absicht, provozieren zu wollen. Der Umfang und die Heftigkeit der Kontroverse, die er ausgelöst hat, habe sie dann doch überrascht. Von einem Kontinuum ist jetzt nur noch in Bezug auf das menschliche Sozialverhalten (Gender) die Rede: „that gender differences fall on a continuum, not into two ­separate buckets […] There is a continuity between masculinity and femininity.“ Nota bene: nicht male and female.

Als zweite Quelle nennt Krämer das Buch „Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ (2011). Der Autor Voß ist zwar Biologe, wurde mit dieser Arbeit allerdings in der Soziologie (Gender Studies) promoviert.15

Die letzte Publikation, die Krämer nennt, ist ein Artikel von der englischen Biologin Claire Ainsworth. Er lautet „Sex Redefined“ (2015) und ist ausgesprochen missverständlich geschrieben. Auf die Frage, ob sie von mehr als zwei Geschlechtern ausgeht, stellte sie zwei Jahre später klar: „No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology.“16

Dagegen schreibt Gerhard Schreiber in seinem Beitrag, dass es „nicht nur zwei mögliche Geschlechtskörper [gibt], sondern ein Kontinuum ineinander übergehender, dabei individuell variierender geschlechtlicher Merkmale“ (31). Er beruft sich dabei auf folgende Worte der amerikanischen Biologin Joan E. Roughgarden: „There is no universal sex binary among the whole ­organisms themselves, only among their gametes.“ Das allerdings ist genau das Kriterium, nach dem die Geschlechter Mann und Frau in der Biologie unterschieden werden. Dass Roughgarden sich zumindest teilweise einem anderen wissenschaftlichen Bereich zuordnet, wird klar anhand des Titels ihres Buches aus dem Jahr 2004: „Evolution’s Rainbow: Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People“.

 

Entlarvungen von Geschlechterklischees

Mein Fazit nach der (selbst)kritischen Durchsicht lautet: Bei näherem Hinsehen stellte die Geschlecht-als-Spektrum-Theorie die aktuelle Sicht auf biologische Geschlechtlichkeit in den Gender Studies dar, nicht aber in der Biologie selbst. Das hätten meine Mit­heraus­geber*­innen und ich mindestens dazu schreiben sollen. Eine kritische Anfrage an die Gender Studies lautet, warum sie eine andere Sicht auf Biologie zu hegen meint als die Biologie selbst. Die gesellschaftlichen Früchte dieser Verwirrung pflücken wir gerade.

Zurück zum Überarbeitungsprozess meines Aufsatzes „Über die Entbehrlichkeit von Geschlechtern in der Kirche“. Im Jahr 2018 hatte ich geschrieben: „Schuf Gott, als er laut dem biblischen Schöpfungsbericht die Menschen männlich und weiblich machte, Geschlechter? Nein, er schuf keine Geschlechter. Er schuf die Menschen geschlechtlich, das heißt: fähig zur Reproduktion.“ (260) Dies schien mir nun zu schwach formuliert. Mit der Biologie im Rücken überarbeitete ich den Text für die Buchveröffentlichung nun guten Gewissens. Jetzt formulierte ich: „In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte werden die zwei Geschlechter Mann und Frau über ihre (Ausrichtung auf) Reproduktionsfähigkeit ­definiert.“17

Auch das Fazit schrieb ich ganz neu. Auf die Frage, ob die Kirche Geschlechter braucht, antworte ich dieses Mal: „viele Frauen [haben] durch mühevolle und/oder schmerzhafte Phänomene wie Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit signifikant andere Körper- und Lebenserfahrungen als Männer. Um diese anderen Erfahrungen in Seelsorge, Verkündigung und kirchentheoretischen Überlegungen zur Sprache bringen zu können, braucht die Kirche Geschlechter. Die Kategorien Mann und Frau dürfen deswegen nur so weit dekonstruiert werden, dass vermeintlich männliche und weibliche Eigenschaften und Begabungen als Geschlechterklischees entlarvt werden. Wer darüber hinaus auf ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ verzichten würde, nimmt sich die Chance, die kraft unterschiedlicher Körper unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Geschlechter unmissverständlich thematisieren zu können – und somit auch die damit verbundenen Hindernisse und Nachteile für Frauen im privaten und öffentlichen Leben.“18

 

Bleibende Herausforderungen sozialer Gerechtigkeit

Im Lichte dieses Fazits mag es nicht verwundern, dass ich „Kirche in Vielfalt führen“ nach wie vor für ein sehr wichtiges Projekt halte. Ein erstes Follow-up der Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass sich der Frauenanteil in Führungsämtern auf der mittleren Ebene leicht verbessert hat (gestiegen von 21 auf 25%)19 – wohl auch dank der verschiedenen Maßnahmen, die die Studie empfohlen hatte. Die Zahlen verweisen allerdings klar auf die Notwendigkeit, weiterhin den Frauenanteil in Führungspositionen im Blick zu behalten und die Kategorie Geschlecht als Bezugsgröße zu berücksichtigen. Wenn Benachteiligung nicht sichtbar gemacht werden kann, kann sie nicht sinnvoll bekämpft werden. Eine Analyse der verschiedenen Beteiligungen von Männern und Frauen auf den jeweiligen Führungsebenen der Landeskirchen bleibt erforderlich, wenn Kirche partnerschaftlicher geführt werden will. Dies schließt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der politisch favorisierten und wissenschaftlich umstrittenen20 Kategorie Geschlechtsidentität nicht aus. Eventuell könnten in der Ordnung des EKD-Referats für Chancengerechtigkeit beide Kategorien berücksichtigt werden.

Angesichts aktueller Pläne der Bundesregierung, die Geschlechtszugehörigkeit vom Körper zu lösen und dem freien Willen von Bürgerinnen und Bürgern anheimzustellen, hoffe ich, dass die evangelischen Kirchen wachsam bleiben und sich kritisch in die Debatten über das sog. Selbstbestimmungsgesetz einmischen – schon allein aus dem Grund, dass ein solches Gesetz die Sammlung geschlechtsspezifischer Daten sowie ihre Analyse für Forschungszwecke in und außerhalb der Kirche vollständig unmöglich machen wird.

 

Anmerkungen

1 Der Text geht zurück auf einen Vortrag unter der gleichen Überschrift bei der Gleichstellungsvollversammlung an der Theol. Fakultät der Universität Göttingen am 16. November 2022 und wurde für die Veröffentlichung leicht überarbeitet.

2 Jantine Nierop/Simone Mantei/Martina Schraudner (Hg.), Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche, Hannover 2017 (online abrufbar unter www.gender-ekd.de/publikationen.html).

3 Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, herausgegeben vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie in Kooperation mit der Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2015, 28 und 29.

4 https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/s17_17_Beschluss_Studie_Kirche_in_Vielfalt%20fuehren.pdf.

5 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rs20171010_1bvr201916.html.

6 Julia Koll/Gerhard Schreiber/Jantine Nierop (Hg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität, Hannover 2018 (online abrufbar unter www.gender-ekd.de/publikationen.html).

7 Auch die EKD-Broschüre „Diverse Identität in a nutshell“, die zwei Jahre später basierend auf den gleichnamigen Band erschien, vertritt diese These: „Kurz gesagt: Wir wissen heute noch nicht, wie viele Geschlechter es gibt. Geschlecht ist sowohl auf der biologischen als auch auf der sozialen Ebene eine konstruierte Kategorie, deren Ausprägungen nicht in Schubladen, sondern auf einem Spektrum gedacht werden müssen.“ (11) (online abrufbar unter www.gender-ekd.de/publikationen.html).

8 https://www.kirchenrecht-ekd.de/document/3391.

9 https://www.ekd.de/kirche-von-zu-hause/EKD-Rat-ordnet-Gleichstellungsarbeit-neu-Diversity-56796.html.

10 Jantine Nierop (Hg.), Gender im Disput. Dialogbeiträge zur Bedeutung der Genderforschung für Kirche und Theologie, Hannover 2018 (online abrufbar unter www.gender-ekd.de/publikationen.html).

11 https://www.newstatesman.com/politics/feminism/2022/05/louise-perry-feminists-illusion-limitless-liberty-case-against-sexual-revolution.

12 Nota bene, um Missverständnisse vorzubeugen: Auch das Nicht-Schwangerwerden-Wollen oder -Können ist natürlich eine genuin weibliche Wirklichkeit.

13 Stellvertretend für viele: Klaus M. Beier/Hartmut A.G. Bosinski/Kurt Loewit, Sexualmedizin. Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit, München 2021, 66.

14 https://www.annefaustosterling.com/fields-of-inquiry/gender/.

15 Genauer gesagt bei Prof. Dr. Rüdiger Lautmann, der wegen seines Buches „Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen“ (1994) sowie seinem lobenden Nachruf auf Helmut Kentler mehr als umstritten ist. Für eine präzise und sehr kritische Einordnung von Lautmann vgl. Gerhard Schreiber, Im Dunkel der Sexualität. Sexualität und Gewalt aus sexualethischer Perspektive, Berlin/Boston 2022, 657, 658. Voß positiv über Lautmann: https://heinzjuergenvoss.de/wp-content/uploads/2018/06/Voss_in_Die_andere_Fakultaet.pdf.

16 https://twitter.com/claireainsworth/status/888365994577735680.

17 Jantine Nierop, Geschlecht und Kirche. Praktische Theologie und Genderforschung, Stuttgart 2022, 18.

18 Nierop (2022), 21, 22.

19 https://www.gender-ekd.de/download/Wer%20leitet%20die%20Kirche.pdf (10).

20 Ausgesprochen kritisch bezüglich des Begriffs Geschlechtsidentität sind Prof. Dr. Aglaja Stirn und Prof. Dr. Jörg Ponseti (beide Universitätsklinikum Schleswig-Holstein): Wie viele Geschlechter gibt es und kann man sie wechseln?, in: Zeitschrift für Sexualforschung 32 (2019), 131-147. Ebenso Dr. Alexander Korte (Universitätsklinikum München): „Wir wissen nicht, was wir da anrichten“, in: Alice Schwarzer/Chantal Louis (Hg.), Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? Eine Streitschrift, Köln 2022, 110.

 

Über die Autorin / den Autor:

PD Pfarrerin Dr. Jantine Nierop, Pfarrerin der Evang. Landeskirche in Baden und Privatdozentin für Prakt. Theologie an der Universität Heidelberg; Publikation: "Geschlecht und Kirche. ­Praktische Theologie und Genderforschung" (Kohlhammer Stuttgart 2022).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

3 Kommentare zu diesem Artikel
10.07.2023 Ein Kommentar von Emily Lailah Strauß Ich erlaube mir, an dieser Stelle auf einen Text von mir hinzuweisen, der aus transweiblicher Perspektive zu einer ganz anderen Schlussfolgerung kommt! https://www.absatz-magazin.de/post/das-letzte-aufbegehren-des-patriarchats
22.04.2023 Ein Kommentar von Karin Lehmeier Ich verweise im Sinne der Autorin auf das Sachbuch von Caroline Criado-Perez, Invisibel Women. Auch hier geht es um das Erfoschen und Sichtbarmachen weiblicher Lebenswirklichkeit.
26.03.2023 Ein Kommentar von Thomas Zeitler Ich erlaube mir, an dieser Stelle auf einen Text von mir hinzuweisen, der aus schwuler Perspektive zu einer ähnlichen Differenzierung kommt! https://zeitzeichen.net/node/10096
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