Seelsorge ist eine Kernkompetenz der Kirche – so wird es jedenfalls oft von außen gesehen. Doch diese Sichtweise entspricht nicht unbedingt der Binnensicht. Binnenkirchlich führt die Seelsorge eher ein Schattendasein. Gertraude Kühnle-Hahn beschreibt in einer persönlichen Bilanz, warum dies so ist und weswegen die Kirche gut daran täte, stärker auf die Seelsorgearbeit zu setzen.

 

Wie ist mein Blick auf Kirche und Pfarrdienst nach 40 Jahren Dienst im Pfarramt? Wie sind 40 Jahre Dienst- und Praxiserfahrung zu fassen? Am Ende eines intensiven Berufslebens geht mein Blick einerseits zurück auf die Vielfalt des Erlebten, andererseits auch in die Zukunft: Was soll bewahrt und verstärkt werden?

Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist ein Bibelwort, das mich schon länger begleitet und mir zum ­Leitwort in meinem Dienst wurde. Es ist eine Segensbitte am Beginn des Epheserbriefes, ein Wunsch für eine verängstigte und verunsicherte Gemeinde: „Gott gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr ­erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid.“ (Eph. 1,18)

„Erleuchtete Augen des Herzens.“ – Das ist ein schönes Bild. Mir ist es deshalb so wichtig, weil hier Auge und Herz verknüpft sind. Wir trennen das gerne: Mit dem Auge sieht man genau hin und nährt damit seinen Verstand, mit dem Herzen fühlt und empfindet man.

In unserer protestantischen Kirche bewegen wir uns eher auf der Seite des Verstands. Das ist wahrnehmbar in den Verlautbarungen, in dem, wie sich Kirchenvertreter und -vertreterinnen äußern, und auch in vielen Predigten. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Ich schätze den klaren menschlichen Verstand. Ich habe sehr gerne studiert und erfasse auch heute noch gerne biblische Texte mit den exegetischen Fragestellungen, die ich gelernt habe. Aber wenn ich als Predigthörerin unter Kanzeln sitze, so ist mir das oft zu viel von oben herab die Welt erklärt und gedeutet und ich frage mich nicht selten: Wo sind die Predigenden wirklich berührt von dem, was sie sagen? Wo sind bei ihnen die erleuchteten Augen des Herzens?

 

Nahe bei den Menschen sein“

Durch meine 40 Dienstjahre zieht sich die Beschäftigung mit der Seelsorge wie ein roter Faden. Am Ende dieser 40 Jahre bin ich von Herzen dankbar, dass mich dieser rote Faden an allen sechs Dienststellen begleitet und meinen Pfarrdienst geprägt hat. Dabei war der rote Faden gewiss nicht nur ein äußerliches Merkmal, das sich in bestimmten Stellen wie der Krankenhausseelsorge oder Seelsorge-Fortbildung ausgedrückt hat. In der Seelsorge habe ich die erleuchteten Augen des Herzens erlebt – in der Begegnung, im Gespräch, im Stillesein vor Gott.

Und von den Menschen, die mir in der Seelsorge begegnet sind, habe ich in den 40 Jahren am meisten für meinen Dienst und für mich als Person gelernt. Manche sind mir noch mit Gesicht und Namen präsent: Menschen, die mich nach meinem Glauben gefragt, mich herausgefordert haben, von mir wissen wollten, was mich tragen kann in meiner Not, und auch Menschen, die mir gesagt haben, was sie trägt oder auch woran sie zutiefst zweifeln, was sie hindert, an Gott zu glauben. Das waren nicht nur kirchennahe Menschen, sondern viele, die ganz weit weg waren, ausgetreten oder noch nie Kirchenmitglied. Aber sie wollten ein Gespräch, sie wollten gehört werden. Und sie hatten auch mir etwas zu sagen. Es waren Gespräche auf Augenhöhe.

Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer eine neue Stelle antreten und in der Zeitung vorgestellt werden, dann ist da oft die Aussage zu lesen: „Ich will nahe bei den Menschen sein.“ Das ist an sich ein schöner Satz, aber was bedeutet er? Er will gelebt sein. Nahe bei den Menschen sein, das ist mehr als mit den Leuten reden, mit halbem Ohr hinhören und innerlich schon die nächste Person im Blick haben oder mit der nächsten Sitzung beschäftigt sein. Nahe bei den Menschen sein, das heißt: sich den Menschen aussetzen, sich auf das offene Terrain einer menschlichen Begegnung einlassen, ohne zu wissen, wohin das führt. Das braucht Zeit und Mut und Gottvertrauen.

 

Seelsorge to go?

Ich habe in den letzten Jahren beobachtet, dass sich „das Kurzgespräch in der Seelsorge“ von Tim Lohse ­gerade bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen größter Beliebtheit erfreut. Beim zweiten theologischen Examen ist dieses Thema, zumindest in der württembergischen Landeskirche, zur Zeit der absolute Favorit. Einerseits kann man sich freuen, dass ein seelsorgliches Thema so gefragt ist. Auf der anderen Seite frage ich mich: Warum wird so sehr auf ein strukturiertes, lösungsorientiertes Modell gesetzt?

Es geht mir hier nicht darum, das Beratungsmodell des Kurzgesprächs in der Seelsorge an sich in Frage zu stellen, das aus dem Kontext der Cityseelsorge und des einmaligen Beratungsgesprächs kommt. Mich beunruhigt vielmehr, dass nicht wenige Seelsorgerinnen und Seelsorger dieses Modell als eine schnell erlernbare Gesprächsmethode betrachten. Ist es deshalb so attraktiv, weil es in den offenen Situationen der Seelsorge Sicherheit und Stabilität gibt?

 

Entlastung vom Machen-Müssen

„Gott gebe euch erleuchtete Augen des Herzens.“ – Mich hat dieses Bibelwort immer wieder gleichzeitig gestärkt und herausgefordert in meiner Begegnung mit Menschen, in meinen Aufgaben im Pfarrdienst. Die Erleuchtung wird uns von Gott geschenkt. Das ist Stärkung. Wir müssen sie nicht machen. Wir müssen sie nicht produzieren.

Das ist an sich kein neuer Gedanke, aber diese Entlastung vom Machen-Müssen können wir uns nicht oft genug in Erinnerung rufen. Sie ist und bleibt die Grundlage unserer Seelsorge. Sie ist und bleibt aber auch die Grundlage unseres kirchlichen Handelns überhaupt. Und die gerät so schnell unter die Räder unseres Getriebenseins, gerade auch jetzt in dieser Zeit, in der wir einerseits innerkirchlich vor so vielen Herausforderungen gleichzeitig stehen und andererseits sich gesellschaftlich die Krisen und die dadurch ausgelösten herausfordernden Veränderungen häufen.

Dabei sind wir Menschen nicht unwichtig. Wir sind durch diese Entlastung nicht zur Passivität bestimmt, sondern berufen, das Unsere dazu beizutragen, dass Menschen aufatmen können, hoffen können, sich gehalten wissen. Das ist die Herausforderung. Denn es gibt da vieles, was dem entgegensteht, dass die Augen des Herzens leuchten können.

Wie schnell taucht in mir ein Urteil auf über mein Gegenüber, wie rasch bin ich beim Deuten und meine zu wissen, warum jemand so ist und so handelt, wie vehement muss ich manche Gefühle negieren, weil sie an die meinen rühren. Wie sehr bin ich oft in meiner Sicht der Wirklichkeit verhaftet und meine, alle anderen sähen es genauso. An diesen sensiblen Punkten komme ich alleine nicht weiter. Da brauche ich Menschen – ich sage gerne Brüder und Schwestern –, die mich darauf aufmerksam machen und mit mir schauen, wie das, was sich im Lauf meines Lebens um mein Herz gelegt hat, durchlässig werden kann, durchlässig für mein eigenes Empfinden, für die Menschen, die mir begegnen, und für Gottes Erleuchten. Das gibt der Begleitung und Fortbildung, die nach meinem Verständnis Herzensbildung ist, große Bedeutung.

 

Eine lohnende Investition in die Zukunft des Pfarrberufs

Der Pfarrdienst ist ein Kommunikationsberuf. Dies ist in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Es genügt nicht, dass betont wird, wie sehr es auf die innere Haltung und die Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit ankommt, wie wichtig die personale Kompetenz ist. Die Frage ist: Wo kommen diese Fähigkeiten her?

Immer wieder treffe ich auf die Annahme, dass Menschen, die akademisch ausgebildet sind und gut reden können, doch in der Lage sein müssten, auf Menschen zuzugehen, mit ihnen in Kontakt zu kommen, empathisch zu sein. Aus meiner Sicht wird diese Annahme von der Realität widerlegt.

Kirche benötigt Orte, wo das gelernt wird. Es braucht die Einübung in Selbstreflexion und Selbsterfahrung. Die Seelsorge-Ausbildung und -Fortbildung ist dafür ein guter Ort. Deshalb sollte an ihr auch in Zeiten knapper werdender Ressourcen nicht gespart werden, im Gegenteil, sie müsste verstärkt und ausgeweitet werden. Das ist eine lohnende Investition in die Zukunft des Pfarrberufs. Manche Landeskirchen gehen in diese Richtung.

Die Frage, was unsere Kirche für die Zukunft braucht, bewegt viele und ist sehr komplex; ich habe nicht für alles eine Antwort. Aber bei einem bin ich mir sicher: Unsere Kirche braucht Menschen mit erleuchteten Augen des Herzens, die erkennen und leben, zu welcher Hoffnung sie berufen sind. Unsere Kirche braucht gute Seelsorge, besonders in dieser zugleich verunsicherten und aufgeregten Zeit. Denn: „Eine Religion ohne heilende oder rettende Kraft ist irrelevant.“1 So bringt es Paul Tillich auf den Punkt.

Seelsorge macht Kirche und Glaube für Menschen spürbar, macht sie relevant. Denn in der Begegnung und Beziehung fühlen Menschen sich gesehen. Da wird erfahrbar, was wir verkündigen, da wird erlebt, was uns in der diesjährigen Jahreslosung zugesagt ist: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen. 16,13) Seelsorge hat Wirkung und verändert Menschen, indem sie über die Grenzen des innerkirchlichen, innergemeindlichen Bereichs hinausgeht.

 

Seelsorge als Haltung

Unter dem Begriff „Seelsorge“ verstehe ich hier nicht allein das klassische Seelsorgegespräch zu zweit, sondern letztlich eine seelsorgliche Haltung, die sich in den verschiedenen Bereichen kirchlichen Handelns niederschlägt. Ich denke an das aufmerksame Wahrnehmen voneinander und von sich selbst, an das Innehalten im Getriebensein, an eine sorgfältige Kommunikation. Zu dieser gehört weniger, dass wir zu wissen meinen, was Menschen brauchen, als vielmehr, dass wir hören und fragen. In Jesus haben wir ein Vorbild, wenn er fragt: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ (Mk. 10,51 u.a.)

In vielen Seelsorge-Kursen, die ich geleitet habe, habe ich erlebt, dass es gerade auch dort im gemeinsamen Lernen dieses Hören und Fragen gibt, dass es Augen des Herzens gibt, die einander anschauen. So kommt etwas zum Leuchten. Dadurch wird das Weitergehen im Beruf und im Persönlichen leichter.

Wenn ich also für eine seelsorgliche Kirche plädiere, dann habe ich nicht nur die Menschen „draußen“ im Blick, sondern auch die Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber, besonders auch die verantwortlichen Frauen und Männer in der Kirchenleitung. Sie alle haben meine Achtung im Blick auf den Pfarrdienst in schwierigen Zeiten, im Blick auf die schier unlösbaren Aufgaben, vor denen eine Kirchenleitung steht. Auch dort braucht es immer wieder den seelsorglichen Blick aufeinander.

Ich habe mich oft gefragt, warum Seelsorge es immer wieder so schwer hat im Ranking der kirchlichen Aufgaben. Sie liegt zwar in Umfragen in der Regel vorne, sie wird von Außenstehenden als zentrale kirchliche Aufgabe gesehen, aber sie führt ein Schattendasein, wenn es um die Frage geht, was bei geringeren personellen und zeitlichen Ressourcen das Wichtigste ist, das getan werden muss. Meine Vermutung: Der Grund dafür liegt nicht allein im Organisatorischen oder in der Fülle der Aufgaben, auch nicht darin, dass Seelsorge ein weicher Termin ist und der Umfang nicht definiert ist. Das Schattendasein der Seelsorge in unserer Kirche hat damit zu tun, dass Seelsorge immer auch die Erinnerung in sich trägt, dass lange nicht alles machbar ist, dass wir alle bedürftige Menschen sind, dass Leben immer auch verletztlich und brüchig ist. „Die Bedürftigkeit, die der Mensch so scheut, ist unser Schatz – nicht unser Ungenügen“, sagt Fulbert Steffensky.2 Das ist provozierend. Und es ist weise.

Ich glaube, wenn wir diesen Schatz entdecken, wenn wir zulassen, dass auch wir bedürftige Menschen sind und oft nicht weiterwissen, dann muss uns das nicht schwächen. Das macht uns vielmehr durchlässig für Gottes Erleuchten, wenn wir die Bedürftigkeit spüren können. Das schafft echte Nähe, lässt uns nahe sein bei uns selbst, nahe bei den Menschen – und nahe bei Gott.

 

Anmerkungen

1 Paul Tillich: Vortrag „The Impact of Psychotherapy on Theological Thought“, gehalten am 14.1.1960 bei der ersten Jahrestagung der Academy of Religion on Mental Health in New York, in: Paul Tillich, Main Works 2, 309-316. Der Satz selbst steht auf S. 315: „… a religion without healing or saving power is irrelevant.“

2 Fulbert Steffensky: „Die Hoffnung auf uns selbst, darf nicht allein herrschen, sonst wird sie zum Gefängnis“ in: Chrismon 9/2004, 36. Steffensky bezieht sich in diesem Artikel auf den Roman „Stiller“ von Max Frisch. Das Originalzitat lautet: „Die Bedürftigkeit, die Stiller so scheut, ist unser Schatz, nicht unser Ungenügen.“

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin i.R. Gertraude Kühnle-Hahn, von 2009-2022 Leiterin des Seminars für Seelsorge-Fortbildung in der Evang. Landeskirche in Württemberg, seit Juli 2022 im Ruhestand.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

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