Mit der neutestamentlichen Passionsgeschichte ist die Figur des Judas aufs Engste verbunden. Problematischerweise wurde und wird daraus immer wieder neu die Figur des großen „anti-christlichen“ Gegenspielers aufgebaut; und noch problematischer sind die antijudaistischen Züge dieser Projektion. Gebhard Böhm rekonstruiert die Judas-Überlieferung des Neuen Testaments und fordert zu einer Revision auf.

 

Der auf der Schwäbischen Alb 1644 unter dem Namen Johann Ulrich Megerle geborene und unter dem Ordensnamen Abraham a Santa Clara im deutschsprachigen Katholizismus des 17. Jh. weitberühmt gewordene Geistliche und Schriftsteller, brachte ab 1686 in Salzburg ein mehrbändiges Werk heraus: „Judas, der Ertz-Schelm, für ehrliche Leuth oder Eigentlicher Entwurff und Lebens-Beschreibung des Iscariotischen Bößwicht1. Der fromme Mann muss fasziniert gewesen sein von Judas, sonst hätte er sich nicht so viel Mühe mit ihm gemacht. Aber es war eine negative Faszination. „Ertz-Schelm“ nennt er ihn, „Iscariotischen Bößwicht“. Als solchem stehen ihm schon im Titel der Schrift „ehrliche Leuth“ gegenüber. Judas muss die Fantasie des Mönches angeregt haben, denn: Historische Quellen, die dafür etwas hergeben, gibt’s nicht.

 

 

Johann Ulrich Megerle alias Abraham a Santa Clara ist ein typisches Beispiel für den Umgang mit Judas: „Es gibt in der Tat keine andere Gestalt der Bibel, die eine derart anrüchige und finstere ‚Karriere‘ in einer 2000jährigen Wirkungsgeschichte erfahren hat wie ­Judas Iskariot.“2 Und Karl Barth nennt ihn den „großen Sünder des Neuen Testaments“3.

Auch jenseits des frommen Rahmens wurde Judas zum Stereotyp des Bösen, des Verwerflichen, des Verworfenen. Eine Abenteuergeschichte von Karl May trägt den Titel „Satan und Ischarioth“. Darin geht es um Machenschaften und um das schreckliche Ende eines gewalttätigen, geldbesessenen Übeltäters im sog. Wilden Westen. „Ischarioth“, der Beiname des Judas, dient als Metapher für den Unmenschen, ebenso „Satan“.

 

Judas im Kreis der Apostel

Was mit dem Namen und mit der durch diesen Namen bezeichneten Person vor allem und bleibend verbunden ist, ist ein Urteil, ein negatives, eine Verurteilung. Darum ist zunächst zu fragen, was über Judas aus der Überlieferung zu wissen und wie diese Überlieferung zu werten ist. Das NT ist zu Judas die älteste Quelle. Alle vier Evangelien4 erwähnen Judas und bringen Szenen, in denen er als handelnde Person vorkommt.

Mk., Mt. und Lk. bringen Apostellisten, in denen die 12 Jünger, die Jesus als Apostel einsetzte, aufgezählt sind. In diesen Apostellisten findet sich die jeweils erste Erwähnung des Judas.

Im Mk. wird die Apostelliste in eine Berufungsszene eingebettet (Mk. 3,13ff). Manche, die hier aufgeführt werden, sind im Evangelium bereits zuvor bekannt: Simon und Andreas, Jakobus und Johannes (Mk. 1,16ff). Die anderen Apostel tauchen erstmals in dieser Liste auf. Was voranging, auch wie Judas in die Nähe und in die Nachfolge Jesu ­geraten ist, interessiert Mk. nicht.

Wenn man diese Liste mit den entsprechenden Listen des Mt. und des Lk.5 (Mt. 10,1ff; Lk. 6,12ff) vergleicht, fällt auf: Simon „Petrus“ steht immer an erster Stelle. Judas steht jeweils am Ende. Judas hat seinen Platz unter den Aposteln. Er ist „einer der Zwölf. Er ist erwählt, berufen, beauftragt wie die anderen Elf. Es ist jedoch seltsam: Judas ist dabei, aber er gehört nicht dazu. Er ist im Kreis der Jünger da, aber er ist „fehl am Platz“. Er ist so sehr „der Letzte“, dass er am Ende herausfallen wird aus dem Zwölferkreis – und aus der Liste.6

Schauen wir uns die Erwähnung des Judas in den Apostellisten genau an. Sie ist schließlich ergiebiger als die der anderen: Sie bietet nicht nur den Namen, nicht nur einen Beinamen. Sie identifiziert Judas auch – und das ist in der Liste singulär – anhand eines spezifischen Tuns, das von Mk. und Mt. als „paradidonai7 bezeichnet und in deutschen Übersetzungen oft – problematisch8 wie weiter unten ausgeführt wird – mit „verraten“ wiedergegeben wird.

 

Judas im Johannesevangelium

In den synoptischen Evangelien werden die meisten der „Zwölf“ außerhalb der Apostellisten nicht genannt. Ledig­lich Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes finden gelegentlich Erwähnung. Judas spielt zwar dann in den Passionserzählungen eine zentrale Rolle, taucht aber bei den Synoptikern vor der Passion nicht weiter auf.

Anders ist es im Joh. Hier kommt Judas – vor der Passionsgeschichte – an drei Stellen prominent vor: In 6,70f sagt Jesus: „Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel (diabolos). Er redete aber von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Der verriet (paradidonai) ihn hernach und war einer der Zwölf.“ Hier ist Judas Teil der Zwölfergruppe, zugleich aber wird er pointiert ins „Außerhalb“ gestellt.

In 12,1ff erscheint Judas als moralisch zwielichtige Gestalt: Maria salbt Jesu Füße mit „einem Pfund Salböl von unverfälschter köstlicher Narde“. Judas protestiert: „Warum ist dieses Öl nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft worden und den Armen gegeben?“ Der Evangelist fügt kommentierend hinzu: „Das sagte er aber nicht, weil er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb, denn er hatte den Beutel und nahm an sich, was gegeben war.“9 Bemerkenswert ist, dass es in synoptischen Parallelen „einige“ (Mk. 14,4) bzw. „die Jünger“ (Mt. 26,8) sind, die sich entrüsten. Die joh. Version der Geschichte belastet Judas und entlastet die anderen Jünger.

In 13,2 notiert das Evangelium, dass „der Teufel (diabolos) schon dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten (paradoi).“ Judas wird also im göttlichen Drama der Kreuzigung zum teuflischen Gegenspieler. Als Judas dann hinausgegangen war, sagt Jesus: „Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm.“ (13,31)

 

Judas in den synoptischen Passionserzählungen

Mit diesen Erwähnungen des Judas im Joh. ist es also merkwürdig zwiespältig: Einerseits wird Judas total disqualifiziert, geradezu „verteufelt“. Andererseits dient der Vorgang, für den er „verteufelt“ wird, der Verherrlichung Jesu bzw. Gottes.

Zwiespältig ist auch die Darstellung der Passion bei den Synoptikern: Auf der einen Seite wird in den Leidensankündigungen geschildert, dass das Geschehen sich nach göttlichem Plan vollzieht: „Der Menschensohn muss (dei) viel leiden …“ (Mk. 8,31) Das „Muss“ bringt die göttliche Notwendigkeit zum Ausdruck. Dieses göttliche „Muss“ der Passion bedarf keines Verräters.

Anders ist es mit den Passionserzählungen: „Ohne die Judasgestalt würde der Passionsgeschichte ein wesentliches Moment ihrer Spannung fehlen. Schon um der Dramaturgie willen ist Judas unverzichtbar.“10

Die Rolle des Judas ist freilich in den verschiedenen Passionserzählungen unterschiedlich:

Mk. schreibt: „Judas Iskariot, einer der Zwölf, ging zu den Hohenpriestern, dass er ihn ihnen verriete, aus­liefere, dahingebe (paradoi).“ (Mk. 14,10) Das Verb „paradidonai“ wird auch in den Leidensankündigungen verwendet (Mk. 9,31; 10,33). Das ist der Bezugspunkt des Auslieferns des Judas. Das hat eine Entsprechung bei Paulus, der – auch er kommt ohne Verräter aus – davon spricht, dass Gott seinen Sohn dahingegeben hat (paredooken) (Röm. 8,32)11, und davon, dass Christus „mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben (paradontos)“ (Gal. 2,20).12

Die Verwendung dieses Verbs macht es unmöglich, das Tun des Judas auf ein boshaftes, verwerfliches menschliches Handeln zu reduzieren: „Judas tut mit dem, was er will und vollbringt, was Gott getan haben will. … (Daher) geschieht, indem das menschliche paradounai stattfindet, unmittelbar auch das göttliche und geschieht das göttliche unmittelbar, indem das menschliche stattfindet.“13 Es ist ein „dialektisches Ineinander von göttlichem Willen und menschlichem Tun.14

Diese Dialektik findet sich auch beim letzten Mahl: „Der Menschensohn geht hin, wie von ihm geschrieben steht“ – ein Geschehen nach Gottes Plan. Aber: „Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird (paradidotai)!“ (Mk. 14,21) Das ist die andere Seite.

 

30 Silberlinge und ein Kuss

Ganz offensichtlich aber hat Mk. an dieser menschlich-dramatischen Seite der Geschichte kein gesondertes Interesse. Daher kann er Judas aus dem Blick verlieren, nachdem der seine Rolle gespielt hat: nach dem „berühmten Kuss“15 wird er nicht mehr erwähnt.

Nach Mk. schreibt Mt. seine Geschichte. Und die ist in einigen Punkten anders. Auch bei Mt. geht Judas – „einer von den Zwölfen“ – zu den Hohenpriestern. Nach Mt. geht’s nun aber um Geld: „Er sprach: Was wollt ihr mir geben?“ (Mt. 26,15) Für die Weiterentwicklung der Judas-Tradition (und für die spätere christliche Sicht auf „die Juden“ insgesamt) hat dies fatale Bedeutung bekommen: Man meinte, das Motiv16, ein wenig schönes, für das Handeln des Judas zu kennen: Geldgier.

 

 

Der „Verkaufsaspekt“ der Auslieferung ist freilich dem Mt. gewissermaßen unterschoben worden, denn die „dreißig Silberlinge“, die nur er erwähnt, stehen in Bezug zu der Schadensersatzregelung des atl. Bundesbuchs, wo bestimmt wird, dass der verschuldete Tod eines Sklaven mit „30 Lot Silber“, d.h. mit 30 Tagelöhnen aufzuwiegen ist (Ex. 21,32). Die 30 Silberlinge sind theologische Metapher, nicht pekuniärer Betrag17. Die Unterstellung von Geldgier ist eher antijudaistischem Vorurteil als profunder Exegese geschuldet.

Auch der Judas-Kuss, dem nur Mt. das Jesus-Wort anfügt „Mein Freund, dazu bist du gekommen?“ (Mt. 26,50), ist theologisch zu verstehen vor dem Hintergrund von Psalmenstellen wie „Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen“ (Ps. 41,10): Das, wovon der Psalm redet, wird im Jesus-Geschehen wirklich.18 Dass dies in der christlichen Rezeptionsgeschichte zugunsten der Behauptung infamer Charakterzüge des Judas aus dem Blick geriet, ist Ergebnis anti­judaistischer Projektion.

 

Der Tod des Judas

Nach der Gefangennahme Jesu verschwindet – anders als bei Mk. – Judas nicht aus dem Interesse des Mt.: „Als Judas, der ihn ausgeliefert hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn.“ (Mt. 27,3) Das Ziel des Judas bei seiner „Auslieferung“ war also nicht der Tod Jesu. Als Judas das ungewollte Ergebnis seines Handelns erkennt, zieht er die Konsequenz: „Er warf die Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte sich.“ (Mt. 27,5) Judas – eine tragische Gestalt.

Die spätere Überlieferung freilich hat das Ende des Judas nicht als tragisch, sondern als Zeichen seiner Gottverdammtheit19 wahrgenommen. Entsprechend hat der Tod des Judas zu immer grausigeren Phantasien angeregt: Lk. berichtet den Tod des Judas so: „Er hat einen Acker erworben mit dem Lohn für seine Ungerechtigkeit. Aber er ist vornübergestürzt und mitten entzweigeborsten, sodass alle seine Eingeweide hervorquollen.“ (Apg. 1,18f). Kein verzweifelt-tragischer Suizid, keine Spur von Reue und Bedauern – ein hässlicher Unfall, der nur als gerechtes Gottesurteil zu verstehen ist. Ganz offensichtlich gab es schon früh ein beträchtliches „Wachstum der ‚schwarzen Legende‘ über Judas20.

Und es geht weiter: Bischof Papias von Hieraklion (ca. 140 n. Chr.) berichtet vom Tod des Judas: „Als er nach vielen Qualen und Strafen gestorben war, sei der Ort von dem Geruch bis jetzt öde und unbewohnt gewesen; ja, es könnte bis zum heutigen Tage nicht einmal einer an der Stelle vorübergehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten.“21

Wahrscheinlich hat sich diese Überlieferung gebildet u.a. unter Bezug auf den – nicht weniger legendären – Bericht vom Tod des Antiochus IV. Epiphanes, des ptolemäischen Herrschers, der die Juden im 2. Jh. v. Chr. ­unterdrückte und gegen den sich der Aufstand der ­Makkabäer gerichtet hatte.22

 

Paulus und Judas? – Fehlanzeige

Wenn man die Judas-Tradition von ihrem ältesten greifbaren Beginn bei Mk. bis hin zu nachbiblischen Manifestationen betrachtet, so ist die Entwicklung unübersehbar: Die Überlieferung über Judas ist vielfältig und sie verändert sich im Laufe der Zeit – je größer die zeitliche Distanz zu dem Menschen, von dem die Überlieferung handelt, desto mehr „weiß“ sie, umso red­seliger, auch umso bizarrer wird sie.

Paulus, der älteste Zeuge des NT dagegen ist im Blick auf Judas schweigsam: Er erwähnt ihn an keiner Stelle. Besonders beredt ist sein Schweigen über Judas in 1. Kor. 15,3ff, wo Paulus „weitergibt“23, was er „empfangen“ hat. Hier handelt es sich also um einen von ihm zitierten Text, eine Art „Katechismus-Stück“, das er nach seiner Bekehrung kennenlernte, als er in seinen neuen Glauben eingeführt wurde (Gal. 1,17): „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.“

Was hier vorliegt, dürfte das älteste Zeugnis des NT und mindestens 30 Jahre vor Mk. formuliert worden sein. Ein Katechismus-Text fasst den Inhalt des Glaubens knapp und erzählt nicht anschaulich Geschichten. Bemerkenswert aber ist, dass Christus gesehen wurde „von den Zwölfen“. Wie wäre dies ins Verhältnis zu setzen zu der Judas-Überlieferung, nach der Judas aufgrund seines Handelns bzw. durch seinen Tod aus der Zwölfergruppe ausgeschieden ist?

Die Hypothese, „die Zwölf“ sei eine so feste Größe gewesen, dass die Gruppe auch „bei Unterzahl“ unter diesem Namen bestehen und von der alten Tradition als Osterzeugen benannt werden konnte, erscheint nicht überzeugend.24 Naheliegender ist eher, dass dem von Paulus zitierten frühchristlichen Ostergauben die Tradition vom Verräter Judas als einem der Zwölf nicht bekannt war. Das würde freilich eine Reihe von Fragen hervorrufen:

Wäre es – entgegen der vielfachen Betonung der Evangelien, Judas sei „einer der Zwölf“ – denkbar, dass er, der Jesus auslieferte, eben doch nicht zu diesem Kreis zählte, sodass „die Zwölf“ als Auferstehungszeugen genannt werden konnten?

Wollte man dies annehmen, so müsste man plausibel erklären, weshalb ein nicht zum Zwölfer-Kreis gehörender „Auslieferer“ Jesu später durch die Tradition in den Kreis der Zwölf eingeführt worden wäre.

Oder wäre es denkbar, dass die Judas-Überlieferung insgesamt nachträgliche erzählende Legendenbildung ist, die anschaulich machen sollte, was in den Leidensankündigungen der Synoptiker und in theologisch-deutenden Sätzen der ntl. Briefliteratur so abstrakt klingt, nämlich dass Jesus dahingegeben wurde bzw. sich selbst hingegeben hat gemäß dem Willen Gottes?

 

Die Entstehung einer nachträglichen Legende

Angesichts der Tatsache, dass die von Paulus zitierte älteste frühchristliche Passions- und Osterüberlieferung die Judas-Tradition nicht zu kennen scheint, ist es nicht unplausibel, dass die Judas-Tradition erst nachösterlich entstanden ist. Es ist nicht auszuschließen, dass es ein Legendenwachstum bezüglich des Judas, wie es dies seit Mk. gab, auch vor Mk. gegeben hat.

Das Jüdische Lexikon25 schreibt zu „Judas Ischariot“: „Ob J. eine geschichtliche Gestalt ist, erscheint sehr zweifelhaft. Es war naheliegend, daß die Evangelien auch das Ende Jesu wie seine ganze Geschichte … in Versen des AT angedeutet fanden.“26

Damit stellt sich die Frage, wie die Judas-Überlieferung zustande gekommen sein könnte.

Am Anfang steht mit Sicherheit die Ostererfahrung, die „Kephas und danach den Zwölfen“ im wahrsten Sinne des Wortes unerwartet zugestoßen ist. Da sie Juden waren, lag es für sie nahe, diese Erfahrung zu deuten im Horizont ihres Glaubens, d.h. anhand „der Schrift“. Das von Paulus zitierte Bekenntnis betont zweimal diesen Bezug (1. Kor. 15,3.4). So vermochten sie, den Weg Jesu ans Kreuz und das Ostergeschehen zu verstehen als Vorgang, in dem sich Gottes Wille zum Heil der Welt verwirklichte. Das wurde in Bekenntnissätzen wie in 1. Kor. 15, in deutenden Aussagen der Briefe, in den Leidensankündigungen in den Synoptikern zum Ausdruck gebracht. Dies benötigte keine Person eines Auslieferers.

Im Zuge der Entstehung der Evangelien ergab es sich dann, dass von Kreuz und Auferstehung in einer anschaulichen Geschichte erzählt werden musste, die dieses Geschehen deutete und vergegenwärtigte. Damit legte es sich nahe, den Vorgang des „Dahingegeben-Werdens“ dramaturgisch eben auch als menschliche Handlung zu inszenieren, wobei es kein Zufall sein dürfte, dass diese menschliche Handlung mit eben dem Verb „paradidonai“ bezeichnet wird, mit dem die theologische Deutung des Geschehens erfolgt war.

Im Mk. ist dies funktional geschildert: Der „Auslieferer“ geht mehr oder weniger in seiner Funktion auf. Nachdem aber die menschliche Handlung der Auslieferung einmal in die Überlieferung eingeführt und diese Handlung einem konkreten Menschen zugeschrieben worden war, konnte diese Handlung bzw. die diese Handlung tragende Person eine weitere, eigene Entwicklung nehmen, wie sie im Fortschreiten der Legendenbildung zu erkennen ist. Zunehmend wird dabei aus dem, der in dem nach Gottes Willen ablaufenden Geschehen eine funktional bestimmte Rolle hat, ein „teuflischer Gegenspieler“.

 

Judas-Projektionen

Ob Judas Iskarioth, dem diese Rolle und Funktion zugeschrieben wurde, ursprünglich zum Kreis der Zwölf gehörte oder ob Judas Produkt legendärer Projektion ist und in den Zwölferkreis eingefügt wurde, ist plausibel nach der einen oder anderen Seite hin nicht zu entscheiden. Die historische Frage nach Judas kann zwar gestellt, sie kann jedoch kaum beantwortet werden.

Andererseits ist die Judas-Tradition durchaus ergiebig. Sie sagt zwar nichts über eine „Judas Iskariot“ genannte Person von vor 2000 Jahren aus, sie lässt jedoch viel von den Vorstellungen derer erkennen, die diese Judas-Tradition gebildet und immer weiter ausgestaltet haben. Sie zeigt, wie sich diese Geschichte als negative Projektion und damit als fragwürdige Selbstentlastung ent­wickelt hat:

Judas und Petrus sind beide Juden27. Die Judas-Tradition führt in ihrem Fortschreiten dazu, dass Judas mehr und mehr zum „Teufel“ wird (Joh. 6,71), während Petrus als „Fels der Gemeinde“ (Mt. 16,18f) und Heiliger gilt.

Die Judas-Tradition wird mehr und mehr zur „Judas-­Projektion“, die zunehmend Negatives, Verwerfliches, Entsetzliches in diese Person hineinsieht.

Die „Judas-Projektion“ geht schließlich über in eine furchtbare „Juden-Projektion: „Stärker als die sämtlichen anderen Einflüsse, die von den judenfeindlichen Äußerungen des frühen Christentums das Bild vom Juden verzerren, wirkt die Verzerrung dieses Bildes durch dasjenige vom Judas.“28 Die Darstellung des Judas hat „dazu geführt, daß das Volk, aus dem Judas stammt, immer mehr mit der Tat des Judas belastet worden ist.“29 Judas gilt nicht mehr nur als Typus des Verräters, des Bösen, er wird zu dem Typus, in dem Christen und ­Kirchen die Juden sahen.

Bei Papst Gelasius I. heißt es im Jahre 495, dass „Judas, der Teufelsgehilfe, seinen verruchten Namen dem ganzen Judenvolk vererbt hat.“30 Und die „legenda aurea“ des Jacobus de Voragine31 kennt einen Traum, den ­Cyborea, die Mutter des Judas, in der Schwangerschaft geträumt haben soll: „… ich sollte ein Kind gebären, das wäre so böse, daß all unser Volk davon verderbet würde.“

In seinem fiktiven Brief an Judas Iskariot schreibt der jüdische Exeget Pinchas Lapide: „Allen Kirchenverlautbarungen zum Trotz bleibst du, lieber Judas, im Volksempfinden der Christenheit nicht irgendein Jude, sondern der Jude an sich, sozusagen in Reinkultur.“32

Eine Projektion braucht ein gegenwärtiges Gegenüber. Judas ist tot. Aber Juden leben – sie werden durch Jahrhunderte Opfer einer Projektion, die ihnen alles Böse anhängt und alles Schlimme antut.

So betrachtet führt die Auseinandersetzung mit der Judas­über­lieferung den christlichen Glauben zur Kritik seiner eigenen antijudaistischen Tradition.

 

Anmerkungen

* Gekürzte und bearbeitete Fassung eines Vortrages in der „Feierabend-Akademie Burgdorf“ am 22. Februar 2022.

1 Reprint einer Ausgabe von 1835 bei forgottenbooks.com.

2 Raul Niemann (Hg.), Judas, wer bist du?, 1991, 7.

3 Karl Barth, KD II,2, 511.

4 In der Briefliteratur des NT wird Judas an keiner Stelle erwähnt.

5 Joh. hat keine Apostelliste.

6 Logischerweise fehlt Judas in der Apostelliste in Apg. 1,13.

7 Lk. 6,16 verwendet ein anderes Wort: prodotäs.

8 „Eindeutig und ausschließlich ‚verraten‘ meint ‚paradidonai‘ jedenfalls nicht.“ (Judas – ein literarisch-theologisches Lesebuch, Hg.: Matthias Krieg & Gabrielle Zangger-Derron, Zürich 1996, 16) Die Übersetzung „Verräter“ für „paradotäs“ bzw. „verraten“ für „paradidonai“ „offenbart eine stigmatisierende Interpretation der Übersetzungstraditionen“ (a.a.O., 17).

9 In der Kunst ist es der „Beutel“, der Judas identifiziert, so wie den Petrus der Schlüssel.

10 Hans-Josef Klauck, Judas Iskariot – Zwischen Fakten und Fiktion, in: Raul Niemann (Hg.), Judas, wer bist du? Gütersloh 1991, 111.

11 S. auch Röm. 4,25.

12 Entsprechend wird Eph. 5,2 die Liebe Christi „zu uns“ und in Eph. 5,25 die Liebe Christi zur Gemeinde in seiner Hingabe (paredooken) gesehen.

13 Karl Barth, a.a.O.

14 Hans-Josef Klauck, a.a.O., 110.

15 Karl Barth, a.a.O., 510.

16 Die psychologisierende Frage nach einem „Motiv“ ist dem Evangelisten freilich fremd.

17 In seinem „Brief an Judas“ schreibt Lapide: „Nebenbei sei hier bemerkt, wie Du und ich und alle Historiker wissen, daß es zu Jesu Lebzeiten zwar Dinare, das Doppelas, Minen, Selas, Schekel und Drachmen gab, aber keine Münze oder Währung, die als ‚Silberlin‘ bekannt war. Sie kamen etwa 300 Jahre zuvor aus dem Umlauf.“ (P. Lapide, An Judas Iskariot – Ein Brief, in: Raul Niemann (Hg.), Judas, wer bist du?, 21)

18 Für die theologische Konzeption des Mt. ist der Bezug zum AT durchgängig von zentraler Bedeutung.

19 Zur Beurteilung von Suizid vgl. Josephus, Bell. Jud. 3, 8,5: „Der Selbstmord, hä autocheiria, ist sowohl der allgemeinen Naturanlage aller Lebewesen fremd als auch eine Gottlosigkeit gegen Gott …“ (s. StrB I, 1027).

20 Lona, a.a.O., 84.

21 Zit. nach: Christian Feldmann, „Du hast den Hahn nicht krähen gehört – Bestie oder Bruder? Über die Rolle des Judas im Kreis der Jünger Jesu, in: Publik Forum 6/1996, 50.

22 2. Makk. 9,5-10.

23 paredooka – terminus technicus der Lehrüberlieferung.

24 Vgl. Apg. 1,15ff.

25 1927, Neuauflage 1982, Bd. III, Sp. 400.

26 P. Lapide weist darauf hin, dass Rudolf Bultmann davon überzeugt war, der ganze Judaskomplex sei „legendärer Färbung“ (a.a.O., 25).

27 Heinrich Böll bemerkt, „daß Petrus, obwohl doch eindeutig Jude wie alle Jünger und Apostel, niemals als ‚typisch jüdisch‘ interpretiert und dargestellt wurde. Der Jude, nicht etwa ein Jude, blieb aber Judas.“ So zitiert von Lapide, a.a.O., 23.

28 H.L. Goldschmidt/M. Limbeck, Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testament, 1976, 28.

29 Werner Vogler, Judas Iskarioth, 1983, 136.

30 Zit. bei Lapide, a.a.O., 19.

31 Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 1982, 106ff; in: Judas – ein literarisch-theologisches Lesebuch, Hg.: Matthias Krieg & Gabrielle Zangger-Derron, Zürich 1996, 57ff.

32 Lapide, a.a.O., 19.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Gebhard Böhm, Jahrgang 1948, 1966-1971 Studium der Theologie in Tübingen, und Göttingen, Pfarrer der Württ. Landeskirche, ab 1984 im Religionsunterricht am Gymnasium, 1993 Studiendirektor der staatlichen Schulaufsicht, ab 2003 im Evang. Oberkirchenrat Stuttgart, seit 2012 im Ruhestand; Engagement bei ­Oikocredit (seit 1980); diverse theologische ­Publikationen, u.a. "Versuchung und Chance - der Glaube und das Geld" (Fromm-Verlag 2016).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

1 Kommentar zu diesem Artikel
22.03.2023 Ein Kommentar von Heinrich Lutz Sehr geehrter Herr Böhm, haben Sie herzlichen Dank für den tollen Artikel über Judas, der mich in den vergangenen Wochen auch "beruflich" beschäftigte. Habe mich auch mit den Rück- Übersetzungen ins Aramäische von Günther Schwarz beschäftig, auf den ich über das Buch von Franz Alt: "Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten" u.a. gekommen bin. Ich teile total Ihre Erkenntnisse und plädiere auf eine Rehabilitation des Judas, obwohl das die Kirche - wie eben all so vieles - kalt lässt. Aber schön, dass Sie das mal klargestellt haben und auch in meinem Vortrag es tun werde. Seien Sie herzliche gegrüßt.
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