Am 22. Februar 2023 jährt sich zum 80. Mal der Hinrichtungstag der Geschwister Scholl und Christoph Probsts – Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ gegen den Nationalsozialismus. Drei weitere Mitstreiter und ein Nachfolger wurden später geköpft. Ist darüber nicht schon alles gesagt, geschrieben, gesungen und verfilmt worden? Sicher nicht, meint Robert M. Zoske.

 

Diese einzigartige, Mut machende Geschichte muss immer wieder neu erzählt und interpretiert werden. Heute können wir auf einer breiten Quellengrundlage1 die vielen Charakterfarben und Beweggründe der Dissidenten der „Weißen Rose“ in ihrem geschichtlichen Zusammenhang wahrnehmen, ohne sie zu idealisieren oder zu trivialisieren, ohne Fiktionen und Fakten durcheinanderzuwerfen. Wir können sie als Menschen im politischen Widerstand mit ihren persönlichen Widersprüchen, Stärken und Schwächen und als Kinder ihrer Zeit sehen.

 

Hans Scholl: Freiheit

1941 war eine wichtige Wegmarke für den Widerstand, denn im Frühjahr lernten sich Hans Scholl und Alexander Schmorell kennen. Sie waren die prägenden Persönlichkeiten der „Weißen Rose“. Fritz Hans Scholl wurde am 22. September 1918 im württembergischen Hohenloher Land geboren. Sein Vater Robert war Bürgermeister in Ingersheim an der Jagst, das heute zu Crailsheim gehört. Die Mutter Magdalene arbeitete bis zu ihrer Heirat als Diakonisse. Sie gab ihre tiefe, fröhliche Frömmigkeit an ihre fünf Kinder weiter und stärkte so ihr Gott- und Selbstvertrauen. Die Eltern waren liberal und pazifistisch, fromm und opferbereit, von ihnen lernten die Kinder Denken und Glauben.

Hans Scholl war 1931 Mitglied im Christlichen Verein Junger Männer (CVJM), 1933 trat er in das Deutsche Jungvolk (DJ) der Hitlerjugend (HJ) ein und stieg dort auf. Er wurde Gruppenführer und war einer von drei Fahnenträgern aus Ulm, die 1935 am Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg teilnahmen. Neben seinen HJ-Jungen bildete Hans einen exklusiven Kreis nach den Ideen der „deutschen autonomen jungenschaft (dj.1.11)“ – benannt nach ihrem Gründungstag, dem 1. November 1929. Mit dieser Elitegruppe wollte er die Zukunft Deutschlands gestalten. Deren Kompromisslosigkeit, Rigorosität und revolutionäre Gesinnung passten zum Nationalsozialismus. Der entscheidende Unterschied war das Ideal der Freiheit. Scholl wollte sich nicht sagen lassen, was er zu tun und zu lassen, was zu lesen und zu hören, wen er wann und wie zu lieben habe. Besonders Letzteres führte ihn in einen schweren Konflikt mit seiner Familie, der Gesellschaft und dem Staat. Diese tiefste Krise seines Lebens überhaupt veränderte sein Verhältnis zum Nationalsozialismus. Sie war die richtungweisende Weichenstellung zu Ablehnung und später aktivem Widerstand. Er wurde angeklagt wegen illegaler Jugendarbeit und Homosexualität, wobei der Vorwurf der „Unzucht“ (§175) schwer wog: Ein ehemaliges Mitglied seiner Jungengruppe beschuldigte ihn, dass er „wiederholt unzüchtige Handlungen [an ihm] vorgenommen habe.“

Nachdem Hans Scholl im März 1937 die Hochschulreife erlangt hatte, leistete er seinen Arbeits- und Wehrdienst. Am 14. Dezember 1937 verhaftete ihn die Gestapo in der Kaserne und konfrontierte ihn mit dem Verhörprotokoll Rolf Futterknechts. Er gab Umfang und Art der Sexualkontakte zu und gestand, „der schuldige Teil“ zu sein, betonte aber mehrfach, er habe aus Liebe gehandelt. Für Scholl war die mehr als einjährige Beziehung zu dem Jungen offenbar ein inniges Liebesverhältnis. Er wurde für siebzehn Tage in Untersuchungshaft genommen und ein Gerichtsverfahren wurde eingeleitet. Erst am 2. Juni 1938 kam er vor einem Sondergericht glimpflich davon. Man attestierte ihm, seine bündische und homosexuelle Phase überwunden zu haben und inzwischen „geschlechtlich normal“ zu empfinden. Das Verfahren wurde aufgrund einer Amnestie eingestellt.

Bis zum Herbst 1937 war es offen, ob Scholl in Hitlers Staat Karriere machen oder sich gegen den Nationalsozialismus stellen werde. Während der monatelangen Strafverfolgung schrieb er in der Einsamkeit melancholische Gedichte. Seine Verse, die im Nachlass 150 Seiten füllen, sind voller Naturmystik und christlicher Frömmigkeit, sie waren eine poetische Alternative zum Nationalsozialismus.

Im Sommer 1939 begann Scholl das Medizinstudium in München. Der Frankreichfeldzug 1940, an dem er als Sanitäter teilnahm, vergrößerte seine Distanz zum Staat. Bei den „täglich durchschnittlich 20 Operationen“ wurde ihm die Unvereinbarkeit von Humanität und Krieg klar: „Krankenpflege widerspricht jedem Militärgeiste.“ Die Grausamkeit entsetzte ihn: „Ich weiß nicht, ob ich unsere Metzelei noch lange mit ansehen kann.“ Ende September kehrte er nach Deutschland zurück und wurde im Oktober 1940 in München wieder der Studentenkompanie zugeteilt.

Nach Prozess und Westkrieg war für Hans Scholl die Begegnung mit Alexander Schmorell im Frühjahr 1941 der nächste Schritt in Richtung Widerstand.

 

Alexander Schmorell: Russland

Alexander Schmorell wurde am 16. September 1917 im russischen Orenburg am Ural geboren. Seine Mutter Natalia war Russin, sein Vater der deutschstämmige Arzt Hugo Schmorell. Dessen Vorfahren lebten seit ungefähr 1860 in Russland. Alexander war ein Jahr alt, als seine Mutter starb, und dreieinhalb, als die Familie 1921 nach München übersiedelte. Die Sehnsucht nach seiner leiblichen Mutter und dem fernen Geburtsland prägten ihn zeitlebens. Er wuchs durch sein russisches Kindermädchen zweisprachig und mit zwei Kulturen auf, was für ihn auch eine tiefe Verbundenheit mit dem russisch-orthodoxen Christentum bedeutete. Schmorell verstand sich als Russe, in Russland sah er seine Heimat, und dessen Bewohner waren für ihn Schwestern und Brüder. In den Verhören sprach er später mehrfach von seiner „Liebe zu Russland“ oder der „Liebe zum russischen Volk“. Nach dem Abitur im März 1937, sowie dem anschließenden Reichsarbeits- und Wehrdienst, studierte er ab Sommer 1939 Medizin, zunächst in Hamburg, dann in München.

Alexander Schmorell sah sich als Künstler, der, ganz seiner Empfindung hingegeben, mit Herz und Seele zeichnete oder Skulpturen und Plastiken schuf. Diese intuitive Individualität ging mit einer Abgrenzung einher. Er unterteilte die Menschen in jene, „die es können neues und eigenartiges zu schaffen, die sich die Lebensregeln selbst zusammenstellen können und auch tapfer genug sind nach ihnen zu leben und die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen und in solche, die das alles nicht können und die deshalb auch anderen gehorchen müssen und nach fremden Regeln leben müssen.“ Die Masse Mensch folge dem „Herdentrieb“, die „Auserwählten“ ihrer individuellen Überzeugung.

Schmorell erlebte den Arbeitsdienst als massiven Eingriff in seine Autonomie. Während dieser Zeit steigerten sich seine Ablehnung Deutschlands zu Wut und Hass und seine Bewunderung für das russische Volk und seine Kultur zu grenzenloser Liebe und Idealisierung. Paradoxerweise befürwortete er autoritäre Staatsformen. In seinem „Politischen Bekenntnis“, das er 1943 für die Gestapo schrieb, bezeichnete er sich als Monarchisten und Zaristen: Er sei ein russischer Patriot, der die Demokratie für Russland und Deutschland ablehne, aber an eine friedliche und freiwillige „Verbrüderung“ Europas und der Welt glaube.

In einem Staat mit antikirchlicher Ideologie, der Menschen geistig und körperlich kasernierte, die Kunst und deren Schöpfer in „artgerecht“ oder „entartet“ einteilte und Russland vernichten wollte, mussten Alexander Schmorells Lebenseinstellung und politische Überzeugung früher oder später zu Konflikten führen. Durch die Begegnung mit Hans Scholl wurde aus Widerwillen gegen den Nationalsozialismus Widerstand.

Schmorell übte nicht nur auf Hans Scholl eine starke Anziehungskraft aus. Als Sophie Scholl ein Jahr später, im Mai 1942, zum Studium nach München kam, verliebte sie sich in ihn, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute.

 

Sophie Scholl: Empathie

Sophia Magdalena, so ihr Taufname, war das vierte Kind von Magdalene und Robert Scholl. Geboren wurde sie am 9. Mai 1921 in Forchtenberg, wo der Vater Bürgermeister war. Sie war zwölf als sie 1934 in den Bund Deutscher Mädel (BDM) eintrat. Bei ihrer Konfirmation in Ulm im Frühjahr 1937 trug sie als Bekenntnis zu Kirche und Staat, Gott und Hitler die Uniform der Jungmädel im BDM. Normalerweise endete die Mitgliedschaft mit achtzehn Jahren. Sophie Scholl jedoch engagierte sich noch zwei weitere Jahre. Zwar war sie ab Frühjahr 1938 nicht mehr in leitender Funktion tätig, weil sie eigene Wimpel ohne Hakenkreuze genäht hatte. Aber noch im März 1941 berichtete sie ihrem Freund Fritz Hartnagel, dass sie ihre „Pflicht als treues B.d.M. Mädel erfülle“.

Sophie Scholl fiel aus der üblichen Geschlechterrolle heraus. Mit ihrem Jungenhaarschnitt und burschikosem Auftreten wurde sie von Nachbarn als „Buabamädel“ und „Mannweib“ gehänselt. Sonst aber stimmte sie in vielem mit den Nationalsozialisten überein. Sie hat sich länger als die anderen jungen Leute der „Weißen Rose“ für den Nationalsozialismus eingesetzt. Sie urteilte nicht politisch, sondern aufgrund moralischer Maßstäbe und Kategorien. 1940 erklärte sie in einem Brief, von Politik nichts zu verstehen, sie habe aber ein Gespür für Recht und Unrecht. Diese Empfindsamkeit und Empathie sensibilisierten sie für den Widerstand.

Im Herbst 1937 hatte sich Sophie Scholl in den jungen Luftwaffenleutnant Fritz Hartnagel verliebt. Nach einem Jahr kam es zur ersten von vielen Beziehungskrisen, denn Sophie erwiderte seine Leidenschaft nur bedingt. Die entfernt lebende Freundin Lisa Remppis regierte auf ihre große Zuneigung nur zurückhaltend. Dabei fühlte sich Sophie niemandem „so nahe“ wie ihr, sie liebe Lisa „sehr“, notierte sie im Tagebuch. Dagegen fragte sie Fritz, ob er nicht glaube, Verstand und Spiritualität könnten die Sexualität besiegen. Sophie wollte zu Fritz Abstand wahren – was ihr nicht gelang.

Nur allmählich erkannte sie das Verbrecherische des NS-Systems. Nach ihrer einjährigen Ausbildung zur Kindergärtnerin musste sie von Anfang April 1941 bis Ende März 1942 ihren Reichsarbeitsdienst und danach den Kriegshilfsdienst ableisten. Überwiegend auf sich gestellt, trat in dieser Zeit zu ihrer moralischen Sensibilität ein politisches Bewusstsein. Besonders die Arbeit im sozialen Brennpunkt des Bergarbeiterstädtchens Blumberg im Schwarzwald stärkte ihre Empathie und Handlungsbereitschaft. Dort hatten die Nationalsozialisten versucht, Erz für die Rüstung zu gewinnen. Binnen weniger Jahre war die Einwohnerzahl von 800 auf 6000 gestiegen. Doch in der Zeit, als Sophie Scholl dort als Erzieherin arbeitete, wurde der Betrieb eingestellt, da durch militärische Eroberungen effektivere Erzvorkommen zur Verfügung standen. Sie erlebte das Elend ausgebeuteter Menschen und zerstörter Natur. Aus diesem „feindlichen, zähen Brei“ zog sie sich häufig in die katholische Kirche „Mariä Heimsuchung“ zurück. Gebet und die Musik Johann Sebastian Bachs, die sie am Harmonium spielte, stärkten ihr Gottvertrauen. Ein Jahr später bekannte sie in ihrem Tagebuch, sie klammere sich im Gebet an das Seil, das ihr Gott in Jesus Christus zugeworfen habe.

Keine zwei Monate nach Ende ihres Kriegshilfsdienstes lieh sich Sophie Scholl im Mai 1942 von Fritz Hartnagel 1000 Reichsmark „für einen guten Zweck“. Außerdem bat sie ihn, ihr einen Bezugsschein mit Wehrmachtsstempel für einen Vervielfältigungsapparat zu beschaffen. Fritz gab ihr das Geld, die gesiegelte Bescheinigung nicht. Sophie Scholl war wohl nach Beendigung ihres Dienstes mit ihrem Bruder Hans übereingekommen, Hitlers Regime mit Flugblättern zu attackieren. Fritz Hartnagel und Sophie Scholl sahen sich das letzte Mal Ende Mai 1942 in München, wo sie gerade begonnen hatte, Philosophie und Naturwissenschaft zu studieren.

 

Hans Scholls „Zeit der Wende“

1941 begegnete Hans Scholl nicht nur Alexander Schmorell, sondern auch Carl Muth, Herausgeber der katholischen Monatszeitschrift „Hochland“. Muths existenzialistischer christlicher Glaube machte auf Hans einen starken Eindruck. Als er ab Herbst 1941 dessen umfangreiche Bibliothek katalogisierte, verbrachte er wochenlang fast täglich mehrere Stunden im Hause des Gelehrten in München-Solln. Die Begegnung mit dem mehr als fünfzig Jahre Älteren bewirkte eine vertiefte Christusbeziehung. Für ihn war das eine „Zeit der Wende“.

Seine Abkehr vom Nationalsozialismus hatte mit den juristischen Ermittlungen gegen ihn im Herbst 1937 begonnen; nach dem Frankreichkrieg 1940 und der Freundschaft mit Alexander Schmorell ab 1941 führte ihn die Begegnung mit Carl Muth weiter in den Widerstand. Im Sommer 1942 wurde das konkret: Zwischen dem 27. Juni und 12. Juli 1942 schrieben Hans und Alexander vier Flugblätter und versandten jeweils rund hundert Schriften an ausgewählte Personen. Sie forderten darin „passiven Widerstand“ und aktive „Sabotage“. Während einer Frontfamulatur in Russland formulierte Hans Scholl, was ihn antrieb: „Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich gar keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht.“

In den Nationalsozialisten sah Scholl gefährliche Bestien: „Wenn die wilden Tiere ihren Gewahrsam gesprengt [haben] und unters Volk gelaufen sind, muss eben jeder, der einen starken Arm hat, nach der Waffe greifen.“ Für diesen immer militanteren Widerstand gewann er andere. Im Januar und Februar 1943 produzierten Scholl und Schmorell zusammen mit ihrem Kommilitonen Willi Graf, dem Hochschullehrer Kurt Huber und Sophie Scholl zwei weitere Schriften in denen sie zum Sturz der Regierung aufriefen. Mit einem Abzugsapparat druckten sie davon rund 7000 Exemplare, von denen sie etwa 4500 mit der Post versandten.

 

Christoph Probst: Harmonie

Die bekannteste Fotografie von Akteuren der „Weißen Rose“ zeigt Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst zusammen am Münchner Ostbahnhof. Es war der 23. Juli 1942, Tag der Abreise der Studentensoldaten zur Frontfamulatur in Russland, von der Probst freigestellt war.

Hermann Christoph Ananda Probst wurde am 19. November 1919 in Murnau am Staffelsee geboren. Er war das zweite Kind des promovierten Chemikers und Sanskritforschers Hermann Probst und der Lehrerin Katharina Probst. Besonders faszinierte Vater Probst der Buddhismus, weshalb sein Sohn auch „Ananda“ – auf Sanskrit „Glück“ – hieß. Vertreter der deutschen kulturellen Elite, wie etwa die Maler Paul Klee und Emil Nolde, der Dichter Rainer Maria Rilke und der Komponist Heinrich Kaminski, verkehrten im Hause Probst. Nach der Scheidung der Eltern kam Christoph zum Vater, die Schwester Angelika zur Mutter.

Seine Schulzeit war von Instabilität geprägt. Es reihten sich Schulwechsel, Umzüge, familiäre Turbulenzen und Brüche. Als er im April 1935 in die siebte Klasse des Münchner Neuen Realgymnasiums kam, traf er dort Alexander Schmorell. Beide verband bald eine „unzerreißbare Freundschaft“. Das Abiturjahr verbrachte Probst 1936/37 im Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee. Ab seinem fünfzehnten Lebensjahr gehörte er von 1934 bis 1937 zur Hitlerjugend. Briefe aus dieser Zeit zeigen seine positive Einstellung zur Jugendorganisation der NSDAP.

1936 nahm sich Hermann Probst, der schon lange an Depressionen litt, das Leben. Danach idealisierte Christoph seinen Vater, ohne dessen psychische Erkrankung zu erwähnen. Doch lasteten die Schatten des Vaters weiter auf der Familie. Hermann Probst hatte nicht nur seine sechzehn- und achtzehnjährigen Kinder sowie seine zweite Ehefrau Elise Probst zurückgelassen, sondern damit besonders Elise gefährdet, denn als Jüdin verlor sie ihren Status, Teil einer „privilegierten Mischehe“ zu sein. Sie war fortan weitgehend rechtlos und lebte in ständiger Bedrohung, deportiert zu werden. Durch den Tod des Vaters hatte Christophs Bestreben, mit allem in Harmonie zu leben, einen irreparablen Riss erhalten. Umso mehr war er bestrebt, um sich herum den Wohlklang einer heilen Welt zu errichten, denn „auf diese Harmonie kommt es an“. Darum verstand er sich auch gut mit Alexander Schmorell. Mit ihm könne man „keine Störung oder Enttäuschung erleben, er hebt höchstens die Harmonie“.

Nach Arbeits- und Wehrdienst begann Christoph Probst im Sommer 1939 das Medizinstudium in München. ­Privates war für ihn ungleich wichtiger als Politik, denn im Juni gebar seine Freundin Herta Dohrn in Sonthofen ihren ersten gemeinsamen Sohn Klaus Michael. Probst verband seinen allgemeinen Wunsch nach Frieden mit dem Glauben an die Überlegenheit der deutschen ­Waffen: „Hoffentlich kommt der Frieden bald ganz“, schrieb er, denn England könne jetzt „nur einen Verzweiflungskampf kämpfen.“ Er hoffte auf einen siegreichen, von Deutschland bestimmten Friedensschluss, der es ihm und seiner Familie ermöglichte, weiter in Glück und Harmonie zu leben.

Solange er glaubte, Privates und Politisches trennen zu können, gab es für ihn keinen Grund öffentlich aufzubegehren: „Im äusseren Leben ist der Mensch so exponiert, er muss sich Vielem fügen, aber das ist seine Freiheit: er kann sich zu einer gegebenen Situation geistig einstellen wie es ihm gemäss ist; der Geist ist immer frei u. selbständig.“ Während der Weihnachtsferien konnte er im Dezember 1941 die Geburt seines zweiten Sohnes Vincent in Ruhpolding erleben. Im Mai 1942 studierte er wieder in München.

Allmählich zählten zu Christoph Probsts Lektüre dezidiert christliche Autoren wie Søren Kierkegaard, Nikolai Berdjajew, Nikolai Leskow, Paul Claudel, Carl Muth und Theodor Haecker. Zudem nahm er an den Lese- und Gesprächsabenden teil, die Hans Scholl im Juni und Juli 1942 organisierte. Die Verbindung zwischen Scholl, Schmorell und Probst wurde in dieser Zeit eng und vertrauensvoll. Zwar erörterte man langsam die Möglichkeit einer deutschen Niederlage, doch wünschenswert war das für Christoph Probst noch keineswegs. Im September 1942 erklärte er, wenn „im Grossen alles ganz schief“ gehe, was er nicht hoffe, „dann wäre aber für alle Deutschen die Lebensmöglichkeit zu ende u. das kann nicht sein“. Eine militärische Niederlage und der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung waren für ihn zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellbar.

Seit August 1942 lebte Christoph Probst nicht mehr in München, ab November studierte er in Innsbruck. Die räumliche Entfernung erschwerte den Kontakt zu den Freunden. Es sind lediglich zwei Gesprächsabende bekannt, an denen er mit ihnen zusammentraf. Wie intensiv er dabei in die Planung weiterer Widerstandsaktionen einbezogen wurde, muss offenbleiben. Probst wusste sicher davon und befürwortete die Pläne, unterstützte sie aber nicht aktiv. Gegen eine Tatbeteiligung sprechen seine Abneigung gegen den „Aktivismus“ Schmorells und Hans Scholls, seine Stationierung fernab, der Schutz seiner Familie (seine Frau war erneut schwanger) und die Aussage Sophie Scholls zu ­ihrer Zellengenossin Else Gebel im Februar 1943, Probst sei in die Aktionen „nie mit einbezogen“ worden.

 

Leitbilder für Zivilcourage, Mitmenschlichkeit und Glaubensmut

Als Hans Scholl Ende November oder Anfang Dezember 1942 Christoph Probst aufforderte, den Text für ein Flugblatt zu schreiben, war er immer noch nicht so weit, sich gezielt für eine Beendigung des Kriegs einzusetzen. Fatalistisch hatte er im November geglaubt: „Wer den Krieg überleben soll, der überlebt ihn unabhängig davon, wo er steht, entscheidend ist nur ob ihn das Geschick bewahren will oder nicht.“ Seine Schicksalsergebenheit wandelte sich zum Weihnachtsfest 1942 deutlich zu einer Gott­ergeben­heit. Diese passive Fügsamkeit überwand Christoph Probst erst, als Hitler nicht mehr siegte und die Wehrmacht im Februar 1943 in Stalingrad eine gravierende Niederlage erlitt. Da erkannte er, dass innerer und äußerer Friede zusammengehören und handelte. Im Januar hatte Herta Probst in Tegernsee ihr drittes Kind, Katharina, geboren. Das Familienglück hätte vollkommen sein können, doch mit dem desaströsen Ende der 6. Armee an der Wolga zerstob jede Hoffnung auf ein friedliches, harmonisches Leben. Hitler, der diese Niederlage zu verantworten hatte, musste weg. Das lebensbedrohliche Kindbettfieber seiner Frau verstärkte sicherlich noch Probsts depressive Stimmung. Am 31. Januar gab er Hans Scholl seinen Entwurf für eine siebte Flugschrift. Bei seiner Verhaftung trug Scholl diesen Text bei sich. Er versuchte vergeblich, das Blatt zu vernichten.

 

 

Die Geschwister Scholl wurden am 18. Februar 1943, beim Auslegen von Flugblättern in der Münchner Universität verhaftet, Christoph Probst am 20. Februar. Der 1. Senat des Volksgerichtshofs verurteilte sie vier Tage später zum Tode. Am Nachmittag sahen die Eltern Scholl und der jüngere Bruder Werner ihre Kinder bzw. die Geschwister zum letzten Mal – ohne das zu wissen. Magdalene schildert, wie verbunden sie im Glauben waren, denn als sie ihrer Tochter sagte: „Aber gelt, Jesus“, habe Sophie „überzeugend, fast befehlend“ geantwortet: „Ja, aber Du auch.“ Nachdem die Geschwister das evangelische Abendmahl, Christoph die katholische Taufe und Eucharistie empfangen hatten, wurde Sophie um 17.00 Uhr, Hans um 17.02 Uhr und Christoph um 17.05 Uhr mit der Fallschwertmaschine getötet. Hans’ letzte Worte waren: „Es lebe die Freiheit!“, Sophie schrieb tags zuvor auf die Rückseite des Begleitschreibens zur Anklageschrift zweimal „Freiheit“. Am 13. Juli 1943 starben unter der Guillotine Alexander Schmorell und Professor Kurt Huber, am 12. Oktober 1943 Willi Graf und am 29. Januar 1945 Hans Konrad Leipelt, der die Widerständler nicht persönlich kannte, aber eigenständig das sechste Flugblatt verbreitete.2

Die Freiheitsstreiter waren unterschiedlich motiviert und dachten politisch kontrovers. Sie waren eigensinnige Individualisten und folgten unabhängig von Erfolgsaussichten ihrem Gewissen. Der christliche Glaube – sei er protestantisch, katholisch oder orthodox – war für sie wesentlich. Mit ihren Idealen bleiben sie Leitbilder für Zivilcourage, Mitmenschlichkeit und Glaubensmut.

 

Anmerkungen

1 Ein unentbehrlicher Fundus an Quellen zur „Weißen Rose“ ist das quellenkritische Kompendium im Entwurf von Dr. Martin Kalusche für das Jahr 1943: https://quellen-weisse-rose.de.

2 Mit der Guillotine des Gefängnisses München-Stadelheim wurden nicht nur die Streiter der „Weißen Rose“ geköpft. In der NS-Zeit waren das insgesamt rund 1180 Menschen. Die Fallschwertmaschine wird in München im Depot des Bayerischen Nationalmuseums verwahrt – und darf auf Weisung des Kultusministeriums nicht gezeigt werden (Ulrich Trebbin: Die unsichtbare Guillotine. Das Fallbeil der Weißen Rose und seine Geschichte, Regensburg 2023).

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Dr. Robert M. Zoske, bis 2017 als Pastor der Evang.-Luth. Nordkirche in Hamburg, 2014 Promotion über Hans Scholl ("Sehnsucht nach dem Lichte", Utz-Verlag München), 2018 Veröffentlichung einer Biographie von Hans Scholl ("Flamme sein!", C.H. Beck München), 2020 Porträt Sophie Scholls ("Es reut mich nichts", Propyläen/Ullstein Berlin); am 16. Februar 2023 erscheint seine kompakte Gesamtdarstellung "Die Weiße Rose - Geschichte, Menschen, Vermächtnis" (C.H.Beck "Wissen"), im April 2023 wird das Musical "SCHOLL - Die Knospe der Weißen Rose" uraufgeführt (schollmusical.com).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2023

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