1. Zeitenwende ist ein großes Wort. Verständlich, dass der Bundeskanzler es nutzte, um einen Politikwechsel zu erklären. Doch ob eine Zeitenwende erfolgt, ist wohl erst in 50 oder 100 Jahren zu sehen. Eher ist von einem Epochenbruch zu sprechen, wie es der Bundespräsident kürzlich gesagt hat. Denn es stimmt: Mit dem russischen Krieg in der Ukraine ist einiges zerbrochen, so die Zuversicht auf die Stabilität der politischen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

2. Von einer Zeitenwende konnte im Rückblick auf die Mitte des 20. Jh. gesprochen werden. Mit der Gründung der UN und ihrer Charta im Jahr 1945 war der Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich verboten. Erlaubt sind nur der Verteidigungskrieg und die Nothilfe für den angegriffenen Staat.

3. Bis zur Mitte des 20. Jh. waren Kriege als Mittel der Politik durchaus legitimiert, wenn sie nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts geführt wurden.

4. Die Kirchen unterstützten die Position der UN-Charta mit dem Beschluss der Ächtung des Krieges auf der Vollversammlung des Weltkirchenrats – heute ÖRK – in Amsterdam im Jahr 1948: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

5. Die Kirchen bekräftigten diese Haltung auf der ÖRK-Versammlung in Vancouver, als sie im Jahr 1983 zum konziliaren Prozess der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung auf­riefen.

6. Hiermit weiteten die Kirchen die Perspektive um zwei beachtliche und notwendige Dimensionen. In der Gestaltung des Zusammenlebens – auch des Überlebens – der Menschheit geht es nicht nur um die Fragen von Krieg und Frieden. Es geht ebenso um den Ausgleich der erschreckenden Ungleichheit und somit der sozialen Ungerechtigkeit. Und es geht ebenfalls um den Erhalt der Lebensressourcen auf der Erde, die durch das Wachstum der Erdbevölkerung und ihrer industrialisierten Lebensführung bedroht sind.

7. Die im konziliaren Prozess aufgezeigten Themenbereiche benennen auch heute noch die Themen und Probleme, durch deren Lösungen das Überleben der Menschheit gelingt oder scheitert.

8. Frieden: Hier gab es durchaus erfolgreiche Lösungen. Weithin hielten sich die Staaten an das Regelwerk des Völkerrechts der UN-Charta. (Die Verstöße dagegen sind bekannt. Staaten des Westens und des Ostens sind hierfür verantwortlich.) Oft jedoch lag ein Mandat der UN vor, das den Waffeneinsatz erlaubte (z.B. humanitäre Intervention ­wegen Völkermord).

9. Gerechtigkeit: Die Gerechtigkeitsfrage wurde hauptsächlich von den Völkern der Dritten Welt auf die Tagesordnung gesetzt. Das geschah bereits auf der ÖRK-Vollversammlung in Vancouver. Die Lösungsoptionen hierzu standen immer im Schatten der dominanten Friedensproblematik.

10. Bewahrung der Schöpfung: Durch die mit dem Klimawandel erkennbaren weltweiten Probleme ist der Erhalt der irdischen Ressourcen zuletzt deutlich ins öffentliche Spektrum gerückt und hat jetzt Vorrang auf der politischen Agenda.

11. Es müssten jetzt jegliches Knowhow und alle finanziellen Ressourcen eingesetzt werden, um den Klimawandel zu mindern und die ihm folgenden Probleme (etwa Dürren, Unwetter, Überflutungen, Nahrungsmangel) zu lösen. Es ist unverantwortlich, jetzt Krieg mit horrenden und kostenintensiven Schäden zu führen, die die bestehenden Belastungen des Klimawandels noch verstärken.

12. In der kirchlichen Friedensethik hat sich etwa seit dem Jahr 2000 die Konzeption des gerechten Friedens programmatisch durchgesetzt (Die deutschen Bischöfe: Gerechter Friede (Hirtenwort), Bonn 2000; EKD: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen (Denkschrift), Gütersloh 2007).

13. Die Konzeption des gerechten Friedens ersetzt keineswegs die traditionelle kirchliche Lehre des gerechten Kriegs. Der gerechte Frieden ist ein ganzheitliches Konzept, das neben den Fragen nach Krieg und Frieden auch die nach Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung umfasst. Frieden im Sinn des atl. Shalom wird sein, wenn es keine Kriege mehr gibt, Gerechtigkeit auf der Welt herrscht und die Schöpfung erhalten bleibt.

14. Die Konzeption des gerechten Friedens hat die Lehre des gerechten Kriegs integriert in die Gestalt der rechtserhaltenen bzw. auch der rechtsschaffenden Gewalt. Für sie gelten die Kriterien des gerechten Kriegs weiterhin (ius ad bellum: causa iusta, legitima potestas, recta intentio, ultima ratio; ius in bello: Verhältnismäßigkeit der Mittel, Unterscheidung von Militär und Zivil).

15. Vorrang hat in der Konzeption des gerechten Friedens eindeutig die zivile Konfliktbearbeitung. Sie gründet im Recht, setzt auf Mediation und Deeskalation, fördert positive Beziehungen zwischen Gruppen und Staaten. Ihr Grundsatz heißt: Si vis pacem, para pacem! Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor!

16. Diesem Grundsatz folgte weithin die internationale Politik (Deutsche Einheit und Ende des Ost-Westkonflikts ohne Krieg, Entwicklung der europäischen Staaten zu einer Gemeinschaft wie der EU, Integration ehemaliger Staaten des Ostblocks). Diplomatie, Kultur und Wirtschaft („Wandel durch Handel“) sind die entscheidenden Wirkkräfte. Diese zivil ausgerichtete Gestaltung der internationalen Politik ist weiterhin richtig und notwendig. Keinesfalls bedarf es einer „Zeitenwende“, die die zivilen Optionen durch militärische ersetzt.

17. Krieg in der Ukraine: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Rückfall in imperiales Gebaren aus Epochen, die mit dem Zweiten Weltkrieg beendet waren. Die internationale Politik muss hier das Recht der UN-Charta durchsetzen. Die bewaffnete Nothilfe ist hier zulässig.

18. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine erfordert eine situationsethische Bewertung und entsprechende Maßnahmen. Friedensethisch bedeutet dies, hier nicht auf prinzipielle pazifistische Positionen zu bestehen, sondern situationsangemessen auch militärische Hilfen zu erlauben. Doch es ist zu fragen: Auch wenn die bewaffnete Nothilfe ethisch und politisch zulässig ist, wie klug ist es, ausschließlich auf militärische Verteidigung zu setzen?

19. Situationsangemessene und kluge militärische Hilfen müssen nicht unbedingt schwere Waffen sein. Mit ihnen droht die Gefahr der Eskalation der Gewalt auf beiden Seiten der Kriegsparteien, folglich größeres Leid der Zivilbevölkerung und weitere Zerstörung der lebensnotwendigen Infrastruktur. Dies trifft insbesondere zu, wenn beide Kriegsparteien auf einen Sieg setzen.

20. Das Ziel muss zunächst ein Ende des Kriegs sein, danach ist weltweit ein Zusammenleben der Staaten nach den Regeln der UN-Charta und des Völkerrechts zu stabilisieren. In dieses Zusammenleben ist auch das russische Volk zu integrieren, so schwierig auch heute eine Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland erscheint.

21. Die Grundsätze der kirchlichen Friedensethik, die Friedensfrage mit den Fragen der Gerechtigkeit und der Schöpfungsbewahrung zu verknüpfen und nach Lösungen mit den Mitteln der Zivilgesellschaft (Recht, Diplomatie, Kultur, Wirtschaft) zu suchen, sind richtig und gelten fort. Si vis pacem, para pacem!

 

Horst Scheffler

 

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Friedensagenda für die Ukraine und die ganze Welt

Von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, verabschiedet am Internationalen Tag des Friedens, 21. September 2022.

Wir, die ukrainischen Pazifist*innen, fordern und engagieren uns für die Beendigung des Krieges mit friedlichen Mitteln und das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Frieden, nicht Krieg, ist die Norm des menschlichen Lebens. Krieg ist ein organisierter Massenmord.

Unsere wichtigste Pflicht ist, dass wir nicht töten. Heute, wo der moralische Kompass überall verloren geht und die selbstzerstörerische Unterstützung für Krieg und Militär zunimmt, ist es besonders wichtig, dass wir den gesunden Menschenverstand bewahren, unserer gewaltfreien Lebensweise treu bleiben, Frieden schaffen und friedliebende Menschen unterstützen.

Die UN-Generalversammlung verurteilte die russische Aggression gegen die Ukraine und forderte eine sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine und betonte, dass die Konfliktparteien die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht achten müssen. Wir teilen diese Position.

Es ist ein Fehler, sich auf die Seite einer der kriegführenden Armeen zu stellen. Es ist notwendig, sich auf die Seite des Friedens und der Gerechtigkeit zu schlagen. Selbstverteidigung kann und sollte mit gewaltfreien und unbewaffneten Methoden erfolgen. Jede brutale Regierung ist illegitim, und nichts rechtfertigt die Unterdrückung von Menschen und das Blutvergießen für die illusorischen Ziele der ­totalen Kontrolle oder der Eroberung von Territorien.

 


 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

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