In der aktuellen Krise der Kirchen, ja für ihren Überlebenskampf in einer säkularen Gesellschaft setzt Peter Zimmerling auf spirituelle Zentren. Als Häuser der Stille bieten sie für ihn die Gewähr dafür, dass das Christentum in Deutschland Zukunft hat.

 

Meine These ist: Angesichts der heutigen Krise, ja des Überlebenskampfes der Kirchen sind spirituelle Zentren wie Häuser der Stille die Gewähr dafür, dass das Christentum in Deutschland Zukunft hat.1 Das möchte ich im Folgenden anhand von vier Gedanken näher begründen.

 

1. Häuser der Stille als Zentren evangelischer Spiritualität – theologische Hintergründe

Spirituelle Zentren wie das Haus der Stille in Weitenhagen sind Erprobungsräume, Orte der Einübung in den gelebten Glauben. Die theologische Voraussetzung dafür, dass Häuser der Stille im Raum des Protestantismus entstehen konnten, war die Einsicht, dass geistliche Übungen den Rechtfertigungsglauben nicht schwächen, sondern im Gegenteil erst zur Erfahrung werden lassen.

Einer der ersten Theologen, der dies erkannte, war kein Geringerer als Dietrich Bonhoeffer. Im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde bei Stettin bestimmten Exerzitien den Tagesablauf. Sie sollten den Vikaren zeigen, dass der Aspekt der Übung für die Gestaltwerdung des Glaubens unerlässlich ist. Dagegen ist aus den eigenen Reihen bald der Vorwurf der Gesetzlichkeit erhoben worden. Die Kritik Karl Barths, des theologischen Vordenkers der Bekennenden Kirche und wichtigsten Lehrer Bonhoeffers, ist das prominenteste Beispiel dafür. Nach der Lektüre der Finkenwalder „Anleitung zur Schriftmeditation“2 schrieb er: „Und wiederum störte mich in jenem Schriftstück ein schwer zu definierender Geruch eines klösterlichen Eros und Pathos […].3 Bonhoeffer hielt jedoch an seiner Überzeugung fest, dass spirituelle Übungen den Geschenkcharakter des Glaubens keineswegs schwächen, sondern ihn erst zur vollen Entfaltung kommen lassen. Barth hat übrigens nach dem Krieg sein Urteil revidiert und sich Bonhoeffers Position zu eigen gemacht.4

Eine wichtige Voraussetzung, dass Häuser der Stille ihrer spirituellen Aufgabe gerecht werden können, ist die Gestaltung der Räume. Dazu ist Geld nötig. Die Kirche gibt viel Geld für die unterschiedlichsten Aufgaben aus. Warum nicht auch, um die Einübung von Spiritualität zu ermöglichen, immerhin die grundlegende Lebensäußerung der Kirche? Die besondere Ästhetik der Einkehrhäuser trägt dazu bei, dass Menschen zur Ruhe kommen und sich öffnen.

Das gilt genauso im Hinblick auf die in ihnen gepflegte Esskultur. Zur christlichen Gemeinschaft gehört das Fest. Am festlichen Miteinander ihrer Glieder wird sichtbar, dass auch eine christliche Gemeinschaft auf Zeit – wie die Tagungsgemeinschaft in einem Haus der Stille – keine bloße Zweckgemeinschaft ist. Theologisch betrachtet, konkretisiert sich im zweckfreien festlichen Miteinander die Erkenntnis, dass der Mensch nicht sich selbst verdankt, sondern Gott, dem Schöpfer. Am Sabbat vollendete Gott seine Schöpfung (1. Mos. 2,2f). Vom Sabbat her erhält die Schöpfung eine festliche Dimension: „Am Sabbat wird die Erlösung der Welt vor­weg­ge­fei­ert.“5 Franz Rosenzweig bezeichnete den Sabbat zu Recht als „das Fest der Schöpfung“.6

Spirituelle Zentren stellen auch ganz praktisch eine geistliche Bereicherung dar, die für die Gesamtkirche unverzichtbar ist. Sie bieten als „evangelische Gnadenorte“ ihren Gästen die Möglichkeit, geistlich aufzutanken. Diesem Zweck dient eine Vielzahl von Tagungsangeboten wie etwa Tage der Stille, Seelsorgeseminare und Exerzitien. Dazu kommen Angebote seelsorglicher Begleitung. Die Situation des Abstands vom normalen Alltagsleben während des Aufenthalts in einem Einkehrhaus fördert die Bereitschaft, sich existentiellen Fragen zu stellen und Schritte der Veränderung zu gehen.7 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Häusern der Stille sind als Fachleute für Seelsorge bekannt geworden und werden von einer Reihe von Gemeindegliedern – Pastorinnen und Pastoren und sog. Laien gleichermaßen – regelmäßig aufgesucht.

 

2. Ein kurzer Blick zurück: Die Entstehung von Häusern der Stille in der evangelischen Kirche

Häuser der Stille sind im Raum des Protestantismus ein relativ junges Phänomen. Erst die Denkschrift der EKD „Evangelische Spiritualität“ von 1979 hat sie kirchenamtlich anerkannt. Sie spricht von ihnen als „evangelischen Gnadenorten“.8 Als spirituelle Kristallisationspunkte sind sie aus der Retreaten-Arbeit hervorgegangen. Erste Überlegungen zur Gründung von Häusern der Stille in der evangelischen Kirche – damals unter dem Namen „Retreathäuser“ – gehen auf die evangelische Michaelsbruderschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück.9 Das von Bonhoeffer dem Predigerseminar in Finkenwalde angegliederte Bruderhaus war von Anfang an zugleich als eine Art Einkehrhaus für Hauptamtliche und Laien gedacht. M.W. war das Bruderhaus sogar die erste evangelische Kommunität und gleichzeitig das erste evangelische Einkehrhaus in Deutschland überhaupt. Es hat allerdings nur eineinhalb Jahre bestanden, bevor es von der Gestapo versiegelt wurde.

Wilhelm Stählin hat 1954 die im Rahmen der Michaelsbruderschaft erworbenen Retraite-Erfahrungen in seinem Buch „Die ausgesonderten Tage“ zur Diskussion gestellt.10 Es handelt sich dabei um die früheste größere Veröffentlichung zum Thema im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland.11 Über ein Vierteljahrhundert später arbeitete der sächsische Pfarrer und Leipziger Theologe Gottfried Wolff die Geschichte der Exerzitienarbeit in Deutschland auf. Er zeigt, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg im Raum des deutschen Protestantismus zu einer Ausbreitung des Retreatgedankens und im Gefolge davon zur Entstehung von Häusern der Stille gekommen ist. War in Westdeutschland dafür vor allem die Entstehung von Kommunitäten verantwortlich, speiste der Retreatgedanke in Ostdeutschland sich aus unterschiedlichen Einflüssen. Wolfgang Breithaupt, der langjährige Leiter des Hauses der Stille in Weitenhagen, schreibt: „Manche haben den Zugang zu Retraiten gefunden durch einen pietistischen Aufbruch, durch Gebetsgruppen; andere sind von anglikanischen Freunden eingeführt worden; daneben haben Lutheraner, vor allem aus Schweden, den Zusammenhang von Liturgie und Einkehr ans Licht gehoben; und nicht zuletzt haben die ignatianischen Exerzitien und verwandte spirituelle Formen der katholischen Christen vielen Protestanten auf dem Weg zu Sammlung und Stille geholfen.“12 In den 1970er Jahren rief der Hauptgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste in der DDR, Dr. Paul Toaspern, die „Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Einkehrtage“ ins Leben. Mittlerweile gibt es in den meisten evangelischen Landeskirchen Häuser der Stille.

Mit der Entstehung von Bruder- und Schwesternschaften und Kommunitäten nach dem Zweiten Weltkrieg standen in der evangelischen Kirche in Deutschland wieder Fachleute für geistliche Übungen zur Verfügung, die es seit dem Wegfall der Orden und Klöster im Protestantismus nach der Reformation lange nicht mehr gegeben hatte.

Eine weitere Ursache für die Entstehung von Häusern der Stille stellte die ökumenische Annäherung zwischen den Konfessionen in den 1950er und 1960er Jahren dar. Dadurch wurde eine Reihe von gegenseitigen Vorurteilen abgebaut, was zu einer positiven Wahrnehmung der spirituellen Formen der jeweils anderen Konfession führte. Dazu gehörte vor allem die Exerzitienarbeit. Ein letzter, vielleicht wichtigster Grund für die Notwendigkeit von spirituellen Zentren: Die traditionellen Verwirklichungsfelder evangelischer Spiritualität wie Familie, Beruf und Ortsgemeinde gerieten in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg mehr und mehr in eine Krise. Immer weniger gelang in Familie und Ortsgemeinde die Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation. Ergänzende spirituelle Zentren wie Häuser der Stille wurden für die Kirche überlebensnotwendig.

 

3. In Häusern der Stille primär gepflegte Formen der Spiritualität

3.1 Tagzeitengebete: Betonung der rituellen Seite des Glaubens

Rituale verhelfen dem Glauben zur Gestaltwerdung. Sie sind unerlässlich, um den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben. In unserer säkularen Gesellschaft besteht täglich die Gefahr, dass jedem Christen der Glaube regelrecht weggesogen wird. Darin liegt ein Grund für die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach Vergewisserung des Glaubens durch gleichbleibende Riten und Symbole. Die in vielen Häusern der Stille praktizierten Tagzeitengebete stellen ein solches Ritual dar. Erhard Kästner schreibt in seiner „Stundentrommel vom Berg Athos“: „In Riten fühlt die Seele sich wohl. Das sind ihre festen Gehäuse. Hier lässt es sich wohnen … Der Kopf will das Neue, das Herz will immer dasselbe.“13

3.2 Abendmahl: Wiederentdeckung der sinnlichen Seite des Glaubens

Lange Zeit ist die Frage nach der Bedeutung von Leiblichkeit und Sinnlichkeit für die evangelische Spiritualität vernachlässigt worden. Gerade geistig beanspruchte Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch spüren. Von einer vornehmlich auf den Intellekt zielenden Spiritualität fühlen sie sich nicht mehr angesprochen. In der Informationsgesellschaft scheint sich das Interesse von Menschen vor allem auf das Erleben der eigenen Körperlichkeit zu konzentrieren. Die verstärkte Sehnsucht nach Selbstvergewisserung durch Selbsterfahrung wird auf dem Hintergrund einer permanenten Reizüberflutung verständlich. Ob Menschen zur christlichen Spiritualität Zugang finden, entscheidet sich nicht zuletzt daran, ob ihre Leiblichkeit in ihr vorkommt.14

Dabei soll die regelmäßige Feier des Abendmahls, wie sie in Häusern der Stille praktiziert wird, die Konzentration evangelischer Frömmigkeit auf das Wort nicht in Frage stellen. Vielmehr geht es darum, neben der verbalen Seite auch die sinnliche Dimension des Evangeliums in den Blick zu bekommen. Der Glaube drängt zur Verleiblichung, worauf schon die Menschwerdung Jesu Christi hindeutet. Spiritualität ist nicht nur eine Sache der Innerlichkeit, sondern betrifft den ganzen Menschen: seinen Geist, seine Seele und eben auch seinen Leib.

3.3 Einzelbeichte: Heilsam bei sich selbst einkehren

Neben den Kommunitäten und Kirchentagen sind Einkehrhäuser die primären Orte, an denen im Raum der evangelischen Kirche heute gebeichtet wird.15 Wenn es stimmt, dass der Kern des christlichen Glaubens in der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnaden besteht, dann sind spirituelle Formen nötig, die diesen Kern des Glaubens erfahrbar machen. Ansonsten verblasst der Rechtfertigungsglaube zu einer Freiheitsideologie. Eine Möglichkeit, die Rechtfertigungslehre praktisch zu erfahren, stellt die Beichte in ihren unterschiedlichen Formen dar, vor allem aber die Einzelbeichte. Die Beichte und die Lehre von der Rechtfertigung bedingen einander: Keine evangelische Beichte ohne Rechtfertigungsglauben, aber auch keinen Rechtfertigungsglauben ohne Praxis der Beichte! Die Beichte bildet den Lackmustest für die evangelische Rede von Schuld und Vergebung.

Die Zunahme von Schuldbekenntnissen im politischen Raum zeigt, dass die Frage nach Schuld und Vergebung auch in der modernen säkularen Gesellschaft auf der Agenda steht. Auf der anderen Seite hat die Kirche die Rede von Sünde und Schuld in der Vergangenheit immer wieder dazu missbraucht, Menschen in Angst und Abhängigkeit zu halten. Darum ist die Abwehr vieler Menschen gerade gegenüber der Predigt von Buße und Umkehr nur zu verständlich. Schuldigwerden gehört jedoch zum Menschsein, zum Humanum, auch zum Leben in der Nachfolge Jesu Christi dazu. Ich nehme mein Menschsein dadurch ernst, dass ich meine Schuld eingestehe. Eine Leugnung, eine Bagatellisierung oder Verdrängung meiner Schuld bedeutet demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins. Das Eingeständnis des Sünderseins wahrt den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Die Anerkennung eigenen schuldhaften Verhaltens bedeutet darüber hinaus auch in psychologischer Hinsicht einen Akt der Reife. Sie trägt zur Integration verdrängter Persönlichkeitsanteile bei.

Mir ist bewusst: Dass die christliche Rede von Sünde und Schuld dem Menschen seine Verantwortlichkeit zurückgibt und damit zur Stärkung seines Selbstwertgefühls beiträgt, wird nicht von heute auf morgen im öffentlichen Bewusstsein Eingang finden.

3.4 Meditation: Chance zur Entschleunigung

Häuser der Stille sind meist auch Zentren der Meditation. Die Palette von Meditationsangeboten reicht vom Autogenen Training über die aus der orthodoxen Tradition stammende Meditation des Jesus-Gebetes und die Exerzitien des Ignatius von Loyola bis zu Meditationsformen, die vom buddhistischen Zen inspiriert sind.16

Ein breiteres Interesse an Meditation setzte in Deutschland Ende der 1960er Jahre ein. Ein zunehmender Teil der Bevölkerung empfand ein Unbehagen gegenüber der Leistungsgesellschaft, die als Fremdbestimmung erlebt wurde. Die Meditation wirkte wie ein Gegenprogramm, indem sie Besinnung auf die eigene Existenz und als Folge davon die Gewinnung von Unabhängigkeit verhieß. Angesichts permanenter Reizüberflutung durch die Medien sehnen sich Menschen heute nach Freiräumen der Stille und des Schweigens. Die Meditation erweist sich als ein wichtiges Werkzeug zur Entschleunigung des rasanten Lebenstempos in der heutigen Gesellschaft.

3.5 Exerzitien: „dass der Schöpfer und Herr sich selbst seiner Seele mitteilt“

Zum spirituellen Basisangebot von Häusern der Stille gehören Exerzitien.17 Einzel- und Gruppenexerzitien sind eine Zeit der Stille und des Gebets. Sie werden absolviert, um Erfahrungen mit Gott zu machen. Die unterschiedlichen Formen, in denen Exerzitien heute angeboten werden, gehen allesamt zurück auf das Werkbuch des Ignatius von Loyola für Exerzitienbegleiter mit dem Titel „Geistliche Übungen“. In dem zwischen 1522-35 entstandenen dünnen Büchlein hat Ignatius seine persönlichen spirituellen Erfahrungen und die durch die geistliche Begleitung gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst. Durch die Exerzitien soll eine Vertiefung des persönlichen Glaubens und eine Veränderung der Lebensausrichtung zur größeren Ehre Gottes erreicht werden.

Viele Menschen sehnen sich heute nach einer authentisch gelebten Spiritualität. Der Exerzitienbegleiter ist eine wichtige Hilfe auf dem Weg dahin. Einerseits weist er Züge eines Seelsorgers, andererseits – mehr noch – die eines Coachs auf. Dabei soll er sich nach dem Willen des Ignatius nicht etwa als statischer Wegweiser verstehen, der mir sagt, was ich zu tun oder zu lassen habe, sondern als Wegbegleiter, der mir hilft, eigene Antworten zu finden. Ziel ist, „dass der Schöpfer und Herr sich selbst seiner [des Exerzitanten!] Seele mitteilt“ (Exerzitienbuch, 15). Damit ist zum einen dem modernen Bedürfnis nach Selbstbestimmung auch in spiritueller Hinsicht Rechnung getragen, zum anderen entspricht das tägliche Gesprächsangebot des Exerzitienbegleiters dem weit verbreiteten Wunsch nach persönlicher Aussprache.

3.6 Geistliche Begleitung: Antwort auf die Sehnsucht nach Vertiefung des Glaubens

Seit geraumer Zeit bieten Häuser der Stille auch Geistliche Begleitung (GB) an.18 Geistliche Begleitung gehört in den Prozess der seit einigen Jahren zu beobachtenden Ausdifferenzierung der Seelsorgekonzepte im kirchlichen Raum. Sie will eine Kultur des Geistlichen unterstützen, indem sie die Relevanz des Glaubens für das Gelingen des Lebens des einzelnen Menschen betont. Das primäre Ziel der GB besteht darin, die Beziehung der begleiteten Menschen zu Gott bzw. zu Jesus Christus zu fördern und zu vertiefen. GB ist weniger problemorientiert als die herkömmliche kirchliche Seelsorge. Stattdessen ist sie kontemplativ-christuszentriert, d.h. sie geht von einer Haltung des inneren Hörens auf Gott aus. GB versteht sich wie die Exerzitien des Ignatius als Wegbegleitung und ist daher prozessorientiert. Sie will humanwissenschaftlich orientierte Formen der Seelsorge nicht ersetzen, sondern ergänzen. GB ist eine spirituelle Antwort auf die wachsende Bedeutung von Mentoring, Coaching und Beratung im säkularen Raum. Meist wird GB als eine Form von Seelsorge an Seelsorgerinnen und Seelsorgern praktiziert.

 

4. Unverzichtbarkeit von spirituellen Zentren für die Zukunft der Gesamtkirche

Kontemplation und Aktion, Gottesliebe und Nächstenliebe, Ewigkeitshorizont und politisches Engagement gehören im Rahmen evangelischer Spiritualität unauflöslich zusammen. Die evangelische Kirche hat jedoch jahrzehntelang primär das Engagement für den Nächsten und die Gesellschaft in Form von Diakonie und politischer Einflussnahme in das Zentrum ihres Lebens gestellt. Die Pflege der spirituellen Seite des Glaubens wurde demgegenüber sträflich vernachlässigt. Darüber ist sie zu einer bis in die Kerngemeinde hinein säkularisierten Kirche geworden. Der frühere Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber diagnostizierte schon vor Jahren eine galoppierende Selbstsäkularisierung.19 Mit dem früheren Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz gesprochen: „Einen Glauben, der nicht gestaltet ist und bloß als gedacht und in Gedanken existiert, verweht der Wind.“20 Darum ist in Zukunft die verstärkte Pflege und Einübung von spirituellen Formen dringend geboten. Hierzu leisten die evangelischen Einkehrhäuser einen unverzichtbaren Beitrag.

Die Reformation hat neu ans Licht gebracht, dass sich der Glaube im Alltag zu bewähren hat. Dabei hat sie jedoch über der Nächstenliebe, über dem Alltagsgottesdienst nach Röm. 12,1f, die Notwendigkeit der Stille vor Gott, der Kontemplation, keineswegs vergessen. Ausdrücklich empfahl Luther den Weg der Stille als einen Weg zu Gott: „Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten, rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden. Darum, willst du auch erleuchtet und warm werden durch das Evangelium, so gehe hin, wo du still sein und das Bild dir tief ins Herz fassen kannst, da wirst du finden Wunder über Wunder.“21 Das Leben aus der Stille bewahrt vor Kurzatmigkeit und verhindert, dass christliches Handeln zum Aktionismus verkommt. Es ist ein Glücksfall für die evangelische Kirche, dass in ihren Häusern der Stille seit Jahrzehnten Schritte auf dem Weg zur Wiedergewinnung der kontemplativen Dimension der Spiritualität im Protestantismus gegangen und eingeübt werden.

Wir stehen heute in weiten Teilen Europas vor dem Phänomen, dass ein Großteil der Menschen religiös desinteressiert ist. Die meisten Menschen scheinen für die Wunder des Himmels und der Ewigkeit kein Fassungsvermögen mehr zu haben.22 Das Leben besitzt für viele Zeitgenossen Sinn und Ziel allein in sich selbst; es dient keinem großen übergeordneten Ziel mehr. „Wir haben die Ewigkeit verloren; die Weltzeit ist geschrumpft auf die individuelle Lebenszeit ... Ein einziges Leben muss genügen, um die Träume vom Jenseits im Diesseits zu erfüllen“ – so der Soziologe Peter Gross in seinem Buch „Die Multioptionsgesellschaft“.23 Der spätmoderne Mensch hat kaum Zugang zu den Dimensionen von Geist und Seele, die doch unverzichtbar zum Menschsein gehören, ja dieses erst zur Erfüllung bringen. „Die Lebenswelt des postmodernen Menschen ist weit gespannt, wenn man sie am Verbrauch von Raum, Zeit und materiellen Gütern misst. Aber sie ist eine enge Welt, misst man sie an den Bedürfnissen von Geist und Seele.“24 Nur eine Minderheit ist in den Räumen des Geistes und der Seele zu Hause und bereit, Zeit und Kraft in diese Bereiche des Menschseins zu investieren. Das Ergebnis ist eine „öffentliche Realitätsschrumpfung“ (Hemminger). Häuser der Stille wirken mit ihrer bloßen Existenz und ihren geistlichen Angeboten dieser öffentlichen Realitätsschrumpfung entgegen. Sie sind himmlische Rettungsinseln im weiten Meer der Diesseitigkeit, des Verfallenseins an Materialismus und ­Konsum.

 

Anmerkungen

1 Vortrag anlässlich der 50-Jahr-Feier des Hauses der Stille der Nordkirche in Weitenhagen bei Greifswald am 25.6.2022.

2 Finkenwalde, 22.5.1936, verfasst zusammen mit Eberhard Bethge, in: Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hg. von Otto Dudzus u.a., Gütersloh 1996, Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Bd. 14, 945-50.

3 Brief vom 14.10.1936, in: DBW, Bd. 14, 252f.

4 Dabei stellte er fest, dass er sich in Bezug auf das Thema Rechtfertigung und Heiligung in großer Übereinstimmung mit Bonhoeffer befand (KD IV/2, 604.612f).

5 Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung, Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 279.

6 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Heidelberg 1959, 65, zit. nach a.a.O., 280.

7 Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Die Kunst des geöffneten Lebens, Stuttgart 1975, 44f.

8 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2. Aufl. Gütersloh 1980, 53f.

9 Vgl. hier und im Folgenden Gottfried Wolff, Zeiten mit Gott. Evangelische Exerzitien, Stuttgart 1980, 11ff.

10 Kassel 1954.

11 Die Michaelsbruderschaft hatte die Retreatarbeit sowohl der anglikanischen Kirche als auch der lutherischen Kirchen Skandinaviens noch nicht im Blick, obwohl sie zum Zeitpunkt von Stählins Buchveröffentlichung bereits mehrere Jahrzehnte bestand (Wolff, Zeiten mit Gott, 33ff.79ff). Schon um die Wende vom 19. zum 20. Jh. hatte es in der anglikanischen Kirche fünf Retreathäuser gegeben, die allesamt von anglikanischen Ordensgemeinschaften getragen wurden (a.a.O., 37).

12 Wolfgang Breithaupt, Warum diese Dokumentation?, in: ders./Werner Knoch (Hg.), Herr, komm in mir wohnen. Orte der Einkehr in der DDR. Erinnerungen und Berichte aus der „Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Einkehrtage“ bis 1989. Eine Dokumentation, o.J., 6.

13 Erhard Kästner, Stundentrommel vom Berg Athos, inseltaschenbuch 56, Frankfurt/M. 1974, 87.

14 Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997, 133.

15 Vgl. dazu im Einzelnen Peter Zimmerling, Beichte – Gottes vergessenes Angebot, 4. Aufl. Gießen 2021.

16 Vgl. im Einzelnen Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, 2. Aufl. Göttingen 2010, 146-155.

17 Vgl. im Folgenden a.a.O., 277-290.

18 Vgl. dazu Dorothea Greiner/Erich Noventa/Klaus Raschzok/Albrecht Schödl (Hg.), Wenn die Seele zu atmen beginnt… Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig 2007; Dorothea Greiner/Klaus Raschzok/Matthias Rost (Hg.), Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011.

19 Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 10.

20 Manfred Seitz, Art. Frömmigkeit II, in: TRE, Bd. 11, 676.

21 Martin Luther, WA 10, 1, 1, 62; zit. nach Wolfgang Huber, Im Geist wandeln. Die evangelische Kirche braucht eine Erneuerung ihrer Frömmigkeitskultur, in: zeitzeichen, Heft 7 (2002), 20.

22 Joseph Wittig, Roman mit Gott. Tageblätter der Anfechtung, mit einem Vorwort von Eugen Drewermann und einem Nachwort von Horst-Klaus Hofmann (Reihe Apostroph), Moers 1990, 190.

23 Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, 4. Aufl. Frankfurt/M. 1996.

24 Hansjörg Hemminger, Baiersbronn, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Peter Zimmerling, Jahrgang 1958, 1990 Promotion zum Dr. theol. bei Jürgen Moltmann, 1999 Habilitation an der Universität Heidelberg, seit 2005 Prof. für Prakt. Theologie an der Universität Leipzig.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

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