Die Predigt als ein Wortereignis des Evangeliums steht im Zentrum protestantischen Gottesdienstes, ja im Mittelpunkt der evangelischen Kirche. Werner Thiede sieht jedoch Theologie und Gottesdienst, ja Predigt in neuprotestantischer Wirkungsgeschichte in der Gefahr, ihren ursprünglichen Auftrag aus den Augen zu verlieren, und will zurück zu den Ursprüngen lenken.

 

Verkündigung als praktisch umgesetzte Dogmatik

Homiletik gilt als Domäne der Praktischen Theologie. Doch auch die Systematische Theologie kann sich zu diesem Gebiet legitimerweise äußern; erinnert sei hier nur an das Buch „Kleine Predigtlehre“ (1984) des Erlanger Dogmatikers Friedrich Mildenberger, an die Predigttheorie Karl Barths1 – und nicht zuletzt an Wolfgang Trillhaas, von dem es sowohl eine „Dogmatik“ als auch eine „Evangelische Predigtlehre“ gibt. Verkündigung lässt sich als praktisch umgesetzte Dogmatik verstehen, was eine dogmatische Mitverantwortung für die Homiletik impliziert. Von daher sehe ich mich als Systematischer Theologe zu den folgenden homiletischen Überlegungen berechtigt und veranlasst. Dies umso mehr, als es sowohl innerhalb der Dogmatik als auch innerhalb der Homiletik unterschiedliche Strömungen gibt, die es systematisch-theologisch auszumachen und zu bewerten gilt.

 

Wort und Sakrament

Die Predigt hat im Protestantismus als gottesdienstliches Geschehen einen sehr hohen Stellenwert2, nämlich denselben wie das Sakrament. Durch beides spricht und handelt Gott – und zwar letztlich mit derselben Intention. Darum wird ein Gottesdienst – im Unterschied zur katholischen Auffassung – prinzipiell auch ohne Sakramentsfeier als vollwertig angesehen. Die Predigt ist nicht etwa nur ein Teil der Liturgie, deren eigentliches Zentrum die Eucharistie bilden würde, sondern selber ein wesentliches Zentrum des Gottesdienstes. Alles Liturgische dient insofern der Wortverkündigung, sofern nicht noch obendrein – dem Anschein nach oft als ein auch entbehrliches „Anhängsel“ empfunden – das Abendmahl gefeiert wird. Im evan­gelischen Gottesdienst hat die Predigt also zumindest faktisch ein fast größeres Gewicht als die Abendmahlsfeier, weil letztere – obschon theoretisch als „gleichwertig“ mit der Wortverkündigung eingestuft – tatsächlich wegfallen kann, was bei der Predigt selbst so gut wie undenkbar ist. Im Katholizismus sieht es geradezu umgekehrt aus.

 

Viva vox evangelii

Diese besondere Gewichtung der Predigt in evangelischer Theologie und Kirche entspricht der bedeutungsmäßigen Gleichsetzung mit der Eucharistie – weshalb jede Predigt im Kern Christus-Verkündigung zu sein hat. Wirklich „evangelisch“ ist eine Predigt nur dann zu nennen, wenn sie – mit Luther gesprochen – „Christum treibet“. Für den Reformator war das zu verkündigende Evangelium „nichts anderes als eine Predigt und ein Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, durch den Herrn Christus mit seinem Tod verdient und erworben; es ist eigentlich nicht das, was in Büchern steht und in Buchstaben verfasst wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und lebendiges Wort, eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich ausgeschrien wird, dass man es überall hört.“3

Solche Betonung lebendiger Verkündigung widerspricht keineswegs dem protestantischen Schriftprinzip, sondern fußt auf ihm4. So formuliert der einstige Tübinger Praktische Theologe Hermann Diem: Im Wort der Predigt ist Christus selbst das Subjekt der Verkündigung5. Homiletisch bedeutet solche Christozentrik letztlich: Die Kanzelrede sollte mit der „Botschaft“ der Abendmahlsfeier im innersten Kern, also intentional identisch oder kompatibel sein6. Durchaus in diesem bündigen Sinn definierte bereits die Confessio Augustana 1530 Kirche als die „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA VII).

Von daher sorgt in einer gewissen Analogie zum katholischen Priesteramt in der evangelisch-lutherischen Kirche das ordinierte Amt dafür, dass zur Durchführung von Predigt und Sakramentverwaltung nur formell Berufene zugelassen sind. In der Ordination spiegelt sich nicht nur eine Ordnungsfrage, wie oft gemeint wird, sondern vor allem eine Betonung des verantwortlichen Lehramts und seiner inhaltlichen Bindung an Schrift und Bekenntnis – um Christi willen7.

 

Predigt der rechtfertigenden Gnade

Namentlich in der Rechtfertigungsbotschaft geht es inhaltlich um die Mitteilung der in Jesus Christus begegnenden Rettergnade und bedingungslosen Liebeserklärung Gottes8. Mittlerweile gilt freilich, was schon 1963 der Lutherische Weltbund bemerkt hat: Heute „befindet sich die Kirche in Verlegenheit, wie sie das Evangelium verkündigt – ob sie es nun unter dem Bild der Rechtfertigung oder in anderen Begriffen tut.“9 Mit Recht erklärt Gerhard Ebeling, die Rechtfertigungslehre stelle mitsamt ihren biblischen Voraussetzungen für den heutigen Menschen zwar eine Zumutung dar, sei jedoch noch nie „zeitgemäß“, sondern immer schon anstößig gewesen. Wolle man die Rechtfertigungsfrage im heutigen Kontext etwa durch die Sinnfrage ersetzen, ergebe sich das Problem, „ob denn in dem Rahmen dieser dem heutigen Menschen gewohnten Denkweise die Sache des christlichen Glaubens überhaupt einzuzeichnen ist, ohne sie dabei preiszugeben.“10 Folglich müsse die Sinnfrage, in der sich der Mensch selber zum Forum von Rechtfertigung mache, doch wiederum transzendiert werden. Welch bleibende Einsicht auch für evangelisches Predigen heute!

Von daher versteht sich eigentlich von selbst: Predigt ist wesentlich Evangeliumsverkündigung, also weniger Deklamation als vielmehr Proklamation, Ansage der Königsherrschaft Jesu Christi. Aber von welchem Christus – so wird heute religions- und systematisch-theologisch vielfach gefragt – soll da eigentlich die Rede sein? Welches „Christusbild“ prägt, trägt und gilt heutzutage noch beim Predigen?

 

Problematische Christusbilder

Derlei Fragen haben sich herauskristallisiert, seit die reformatorische Theologie in Teilen zum Neuprotestantismus mutierte11. Die Hauptbruchstelle lässt sich ausmachen bei Friedrich Schleiermacher, dessen „Praktische Theologie“12 eine homiletische Theorie der religiösen Rede entfaltet – herkommend von Immanuel Kant13. Wenn Schleiermacher der Predigt die Aufgabe zuweist, darstellende Mitteilung des christlich-religiösen Selbstbewusstseins zu sein, so ist diese Theorie im Zusammenhang mit der wiederum „modernisierten“ Auffassung dessen zu sehen, was christlicher Glaube dem Wesen nach bedeutet. Hatte schon Kant die protestantische Gnadenlehre nicht zutreffend erfasst14, so reflektierte Schleiermacher auf eine kulturelle Situation, in der die christliche Botschaft von Sünde und rechtfertigender Gnade immer weniger Evidenz in der zunehmend säkularisierten Gesellschaft besaß.

Der gut gemeinte Versuch, die hörende Gemeinde ins Verhältnis zu ihrem Selbstverständnis zu bringen, war und blieb eher am Autonomie- als am Theonomie-Begriff orientiert. Ein subjektivitätstheoretisch begründeter Gottesbegriff, der sich mit der kirchlichen Trinitätslehre kaum mehr ernsthaft verbinden lässt, entspricht hier einer reduktionistischen Christologie, derzufolge Jesus im Grunde doch nur Mensch war – weshalb sein Kreuzestod, aber auch seine Auferstehung und Himmelfahrt entsprechend umgedeutet werden; sogar der Abendmahlskult gilt nurmehr als „Kunstschatz der ­Kirche“15.

Hier ist nicht der Ort, die Linien im Einzelnen aufzuzeigen, die systematisch-theologisch und im Gefolge auch exegetisch und praktisch-theologisch im modernen Protestantismus über Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack, Wilhelm Herrmann und Rudolf Bultmann16 bis hin zu Klaus-Peter Joerns17 und Folkart Wittekind18 weiterführen. Auf dieser liberal-theologisch geprägten Linie kommen in unserer Zeit überwiegend solche Homiletiken auf den Markt, die in neu- oder kulturprotestantischem19 Fahrwasser schwimmen und jedenfalls das Predigen kaum mehr im „altprotestantisch“, sprich: reformatorisch ausgerichteten Grundsinn lehren. Ihnen sind rhetorische, ja dramaturgische20 Kunst, liturgische Modernität, gesellschaftspolitische Aktualität und/oder psychologische Attraktivität wichtiger als die Anbindung an den kirchlichen Verkündigungsauftrag im Sinne der Ordination.

 

Anpassung und Widerstand gegenüber der Moderne

Gegen den anhaltend auch homiletisch wirksamen Impetus des Neu- oder Kulturprotestantismus hat bekanntlich die sogenannte Dialektische Theologie und hier namentlich Karl Barth21 kräftigen Einspruch vorgetragen – in der klaren Wahrnehmung: Als der alte Protestantismus die Ideen der Moderne aufnahm und zum Neuprotestantismus wurde, verriet er seinen Wesenskern22. Barths Predigttheorie versuchte, die reformatorischen Grundanliegen in einer Art Dialektik von Anpassung und Widerstand gegenüber der Moderne neu zur Geltung zu bringen. Auch die von daher rührenden Einflüsse und Rückbesinnungen zählen bis heute mit zu dem, was protestantische Theologie und insbesondere Homiletik ausmacht.

Aber diese Impulse waren und sind mittlerweile nur recht begrenzt wirksam. Es ist an der Zeit, dass sich authentische evangelische Predigtlehre wieder neu auf das Wesen und den Sinn kirchlicher Verkündigung konzentriert. Diese muss sich daran messen lassen, was in der protestantischen Kirche Auftrag und Wahrheit gemäß ihren maßgeblichen Urkunden tatsächlich bedeuten23. Dass zum Horizont der Adressatenschaft alle möglichen Elemente des Zeitgeists gehören, versteht sich von selbst und legitimiert manch rhetorische Anknüpfung, schwerlich jedoch inhaltliche Antwortsuche: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm. 12,2).

 

Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

Protestantische Theologie und damit auch Predigt kennt in ihrem Zentrum die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium24. Das heißt: Den Indikativ des Heilszuspruchs gibt es nicht ohne den Imperativ des göttlichen Anspruchs an die zur Freiheit Berufenen – ohne dass Imperativ und Indikativ vermischt werden dürfen, weil sonst eine Beeinträchtigung der Rechtfertigungsgnade droht. Der Kirchengeschichtler Gerhard Müller fragt freilich: „Ist die Lutherische Kirche heute in der Lage, Gesetz und Evangelium Gottes verständlich zu unterscheiden? Oder gibt es heute Wichtigeres?“25 Wo scheinbar „Wichtigeres“ dieses theologische Unterscheiden verblassen oder vergessen lässt, kann dies nur zu einer Verzerrung des Evangeliums, einer Verbiegung der Gnadenbotschaft, mithin zu einer Erosion der Freiheit eines Christenmenschen führen. Die „Gute Nachricht“ erhält dann einen gesetzlichen Klang. Und sie wird womöglich vermischt mit dem Gesetz des Staates, ja stark befrachtet mit Fragen der Gesellschafts- und Tagespolitik26, die doch nicht im Fokus der Reich-Gottes-Botschaft steht. Schon Jesus selbst hat bei aller „prophetischen“ Vollmacht politische Ambitionen und namentlich Gewaltanwendung abgelehnt (z.B. Joh. 18,36), wurde aber das Opfer eines entsprechenden Missverständnisses – man könnte gewissermaßen sagen, einer unterbliebenen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium27.

Innerhalb der protestantischen Theologie gibt es zu Luthers bekannter Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium eine von Karl Barth entwickelte Alternative: Im Unterschied zur lutherisch geprägten Theologie votiert der reformierte Schweizer entschieden für eine Umkehrung der Reihenfolge, also für eine prononcierte Voranstellung des Evangeliums vors Gesetz28. Der nachvollziehbare Sinn seiner Argumentation besteht im Unterstreichen des befreienden Indikativs, der zu allererst die spirituelle Basis für ein befreites, also dem Imperativ gemäßes Handeln bildet. Allerdings hat auch die lutherische Abfolge ihren spirituellen Sinn: Erst wenn das Gesetz den „alten Adam“ getötet, also dem „fleischlichen“ Subjekt jede Möglichkeit einer Selbstrechtfertigung vor Gott genommen und das Gericht29 angesagt hat, erschließt sich diesem die Rechtfertigungsbotschaft in rechter Weise.

 

Indikativ – Imperativ – Indikativ

Homiletisch sollten beide legitimen Aspekte als wichtige Einsichten in der Verkündigung auf einen Nenner gebracht werden. Das bedeutet konkret für ungefähr jeden Predigtaufbau: Im Hauptteil ist die Reihenfolge Gesetz – Evangelium grundsätzlich sinnvoll und angebracht, also zunächst das Aufzeigen von unlösbarer Situation, Verzweiflung, Ausweglosigkeit vor Gott und der Welt, bevor dann die Versöhnungs- und Erlösungsbotschaft befreiend Trost und Verheißung formuliert. Doch in der Einleitung der Kanzelrede sollte die Hörerschaft zunächst unbedingt auf positive Weise angesprochen werden, nämlich durch eine im Predigttext selbst ja oft auch schon anklingende Betonung des Indikativs, der uns gemäß Röm. 5,10 immer schon vorauseilenden, entgegenkommenden Heilsbotschaft. Erst diese gnädige Voraus-Setzung macht wiederum seelisch die Wahrnehmung der Unheilssituation erträglich und insofern überhaupt möglich, so dass hier nicht etwa verdrängende und verleugnende Impulse die Vorherrschaft gewinnen. Formelhaft ausgedrückt, sollte also die angemessene Reihenfolge im Aufbau einer Predigt lauten: Evangelium – Gesetz – Evangelium. Anders ausgedrückt: Indikativ – Imperativ – Indikativ.

Dies schließt übrigens ein, dass am Ende in der Regel tatsächlich der Indikativ in seiner Lieblichkeit und Herrlichkeit betont erklingt – und nicht, wie man das gewöhnlich erlebt, der Imperativ. Das Gesetz am Ende – auch im Sinne Barths oder schon Melanchthons als tertius usus legis verstanden30, als aus dem Indikativ gespeister Imperativ – lässt oft genug den schalen Eindruck aufkommen, als sei nun der „Zweck“ der Predigt erreicht und zugleich durchschaut: gewissermaßen eine Funktionalisierung der Adressatenschaft zur moralischen Auftragserledigung. So steht dann ein doch wieder eher belastendes statt befreiendes Element am Schluss. Darin spricht sich ein mangelndes Vertrauen in die Kraft des Evangeliums, des so wunderbaren Indikativs aus. Es ist ja richtig, dass der Indikativ den Imperativ sozusagen aus sich heraussetzt, dass die Frohe Botschaft die Hörenden freudig animiert, Gutes zu tun. Doch dies geschieht eben bei einem guten, gesunden Baum, sprich: bei einem innerlich geheilten Menschen wie von selbst. Gewiss kann eine Predigt in diesem Sinn des tertius usus legis auch den Imperativ aussprechen und situationsgemäß formulieren. Das sollte dann quasi im Rahmen der indikativischen Ausführungen im Hauptteil wie selbstverständlich erfolgen. Aber Einleitung und Schluss evangelischer Predigt dürfen ganz im Zeichen der Freudenbotschaft stehen. Ein Gotteslob macht sich da allemal besser als ein Handlungsappell.

 

Der Imperativ als ethisches Gebot

Damit bleibt freilich homiletisch die Frage noch offen, wie denn nun das „Gesetz“ bzw. der Imperativ als ethisches Gebot inhaltlich auszugestalten wäre. Sowohl in der lutherischen Theologie als auch in der reformierten haben sich nicht ganz zufällig enge Bande zwischen Kirche und Staat, zwischen Christen- und Bürgergemeinde ergeben – sicher auch im Gefolge der jeweiligen Auffassung von Gesetz und Evangelium. Hier spielt die sogenannte Zwei-Regimenten-Lehre Luthers, oft vereinfacht „Zwei-Reiche-Lehre“ genannt, eine folgenschwere Rolle. Ihr zufolge treibt Gott sozusagen mit der rechten Hand sein eigentliches Werk durch die Predigt des Evangeliums voran, während er mit der linken Hand das Weltregiment durch die politischen Mächte führt31. Diese Theorie hat das Luthertum bis tief ins 20. Jh. hinein folgenreich geprägt und „eine oft gefährliche Untertanen- und Gehorsamsmentalität her­vor­ge­bracht“32.Auch in reformiert bzw. barthianisch geprägten Gefilden trägt die positive Verhältnisbestimmung von Christen- und Bürgergemeinde mitunter zu einem stärkeren Einfluss des Zeitgeistes auf kirchliche Entscheidungen bei33.

Wie kann nun aber der Imperativ in der evangelischen Predigt so formuliert werden, dass er nicht zur partei-, national- oder regionalpolitischen Handlungsanweisung mutiert? Eine Versuchung in dieser Richtung drängt sich nicht selten auf – so wie schon einer der Jünger versucht war, sein Schwert zu Gunsten des Herrn zu ziehen, was allerdings Jesus offenbar missfiel (Mt. 26,51f). Verführende Anreize zu politischen Stellungnahmen auf der Kanzel gibt es einigermaßen regelmäßig dort, wo die Zwei-Regimenten-Lehre im Hinterkopf des Redners sitzt, so dass das Politische als „linke Hand Gottes“34 allzu rasch und gleichsam automatisch Predigtgegenstand wird.

Freilich lässt sich das nicht völlig vermeiden – insbesondere nicht, sobald es um die Auslegung von Gottes Gebot(en) geht35. Doch ein Grundproblem der Zwei-Regimenten-Lehre besteht darin, dass sie beide Regimente bzw. „Reiche“ als letztlich gleichberechtigt nebeneinanderstehen sieht, indem sie beide als von Gottes Hand regiert betrachtet, so dass der Unterschied zwischen rechter und linker Hand in der Gewichtung scheinbar zu vernachlässigen ist. Angesichts dieser Gleichgewichtung gibt dann oft genug der Umstand, dass das Regiment zur „linken Hand“ den sichtbaren, „handgreiflichen“, allgemein erfahrbaren Bereich betrifft, den Ausschlag zu dessen Gunsten, wenn es um eine ethische Entscheidungsfindung oder Handlungsanweisung geht. Damit aber gerät das noch „eigentlichere“ Regiment Gottes, nämlich das zu seiner „rechten Hand“, konkret vielfach ins Hintertreffen – was bei genauerer theologischer Betrachtung doch nachdenklich stimmen muss.

 

Von der Zwei- zur Drei-Regimenten-Lehre

Die Lösung des Problems liegt in einer „Drei-Regimenten-Lehre“: Kann man sym­bolisch das „weltliche“ Reich zur „Linken“ eher Gott dem Vater als dem Schöpfer36 zuordnen und das Reich zur „Rechten“ eher dem Sohn als dem Versöhner und „Bergprediger“, so ist es der Heilige Geist in den Gläubigen, der im jeweiligen Entscheidungsfall deutlich macht, welcher Weg konkret eingeschlagen werden sollte. Da ja zwischen den beiden ersten Regimenten eine Art Gleichgewicht besteht, gibt der heilige Geist, der Christus bei seiner Anhängerschaft vertritt, den Ausschlag auf der Waagschale: Hier sollte der innere Mensch situativ hinhören und den Geist nicht „dämpfen“ (1. Thess. 5,19).

Kommt diese „trinitarische“ Regimentenlehre theologisch zum Tragen, so erhält das Regiment des Sohnes wieder eine größere Chance, ernsthaft berücksichtigt zu werden. In der Folge wird das Politische und ­Ethische als solches relativierend seinem Platz zugewiesen und die Königsherrschaft Jesu Christi weniger als in diesseitige, doch oft sündhaft bleibende Strukturen zu übertragende Größe verstanden, sondern vor allem als geistliche, individuell ankommende und wie von selbst Frucht bringende Dynamik. Solche Früchte werden sich indirekt auch politisch auswirken. Doch sind Staat und Politik in der Regel kaum Gegenstand der Predigt – allenfalls in extremen Situationen oder sehr grundsätzlichen ethischen Fragen37. Die Drei-Regimenten-Lehre entspricht dabei der Bindung der Verkündigung an die Schrift, insofern sie „Christum treibet“ und das beschenkende, erhellende Wirken seines Geistes in den jetzt schon mit Gott Versöhnten ins ­Zentrum rückt.

Allerdings ist Predigt ist im Fahrwasser liberaler Theologie vielfach zu einer rhetorischen, literarisch und psychologisch durchdachten Kunstrede geworden – und wo es zu solch anspruchsvoller Bemühung intellektuell nicht ganz hinreicht, zu einem umso belangloseren, immerhin noch „religiösen“, aber nicht selten langweiligen Vortrag38. Zumal dieses Wortereignis im Zentrum des evangelischen Gottesdienstes steht, trägt es dort, wo es mehr geistige Leere als geistliche Lehre zu verbreiten pflegt, sicher eine Mitschuld an den stetig schwindenden Kirchenbesuchszahlen.

Hiergegen hilft die Grundeinsicht: Wer auf eine Kanzel steigt, muss etwas zu sagen haben. Es genügt nicht, wenn der Prediger formal seine handwerklichen „Hausaufgaben“ gemacht und ordentlichen Weihen erhalten hat; vielmehr muss er von seinem geistlichen Auftrag beflügelt sein, um die viva vox evangelii überzeugend ausrichten zu können. Predigen dürfen ist weniger eine berufliche Sonntagspflicht als vielmehr ein heiliges Vorrecht, das in Dankbarkeit und Verantwortung wahrgenommen sollte. Die protestantische Hochschätzung des zu verkündenden Gotteswortes bezieht sich dabei zu allererst auf den logos in der Person Jesu Christi selbst, sodann auf die viva vox evangelii in der Predigt und drittens – ja, in dieser Reihenfolge! – auf das sola scriptura. Alle drei Dimensionen des Wortes Gottes gehören homiletisch zusammen. Schon Günther Dehn hat von daher zurecht unterstrichen: „Die Evangelische Kirche steht und fällt mit ihrer Verkündigung, denn sie lebt vom Wort.“39

 

Anmerkungen

1 Vgl. näherhin Harmut Genest: Karl Barth und die Predigt. Darstellung und Deutung von Predigtwerk und Predigtlehre Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 1995.

2 Vgl. z.B. Hans Martin Müller: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin 1996; R. Conrad/M. Weeber (Hg.): Protestantische Predigtlehre. Eine Darstellung in Quellen, Tübingen 2012.

3 Martin Luther: WA 12, 259, 8-13 (1523), in heutigem Deutsch wiedergegeben. Vgl. P. Zimmerling u.a. (Hg.): Martin Luther als Praktischer Theologe, Leipzig 2017.

4 Vgl. Werner Thiede: Fundamentalistischer Bibelglaube im Licht reformatorischen Schriftverständnisses, in: H. Hemminger (Hg.): Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991, 131-162.

5 Vgl. Hermann Diem: Sine vi – sed verbo. Aufsätze, Vorträge, Voten, hg. v. U.A. Wolf, München 1965, 179.

6 Johann Calvin hat analog formuliert: „Überall, wo wir wahrnehmen, dass Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, lässt sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, dass wir eine Kirche Gottes vor uns haben“ (Institutio, Bd. 3, Moers 1938, 16).

7 Vgl. Hellmut Lieberg: Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon, Göttingen 1962, bes. 24; Werner Thiede: Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung, Darmstadt 2017, 119ff. In meiner 52. These betone ich am Ende, Visitatoren hätten „wieder verstärkt darauf zu achten, dass das Evangelium rein gepredigt wird und der Respekt ordinierter Personen vor kirchlichen Grundlehren nicht allein individueller Gewissenhaftigkeit und Beliebigkeit überlassen bleibt“ (202).

8 Keine abstrakte „Versöhnungsbotschaft“ ist damit gemeint, sondern ganz christozentrisch der heilvolle, gnädig gewährte, ja geradezu liebesmystisch verstandene Tausch mit Christus: „Du nennst dich sozusagen Christus, und umgekehrt spricht Christus: Ich bin jener Sünder, weil er sich auf mich verlässt“ (Luther: WA 40 I, 283, 5f). Vgl. auch Werner Thiede: Lust auf Gott. Einführung in die christliche Mystik, Münster 2019, bes. 139ff.

9 Offizieller Bericht der IV. Vollversammlung, hg. vom LWB, Hannover 1965, 387 (in der überarbeiteten Fas­sung: 525).

10 Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. III, Tübingen 19822, 207.

11 Ernst Troeltsch behauptete 1906 in seinem Werk „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, zwischen Protestantismus und Moderne bestehe kein Widerspruch, vielmehr habe beides einander beeinflusst. Aus dem Altprotestantismus sei unter Aufnahme von Ideen der Aufklärung, des Humanismus und der Mystik der Neuprotestantismus entstanden – als eine mit der Moderne kompatible Form des Protestantismus. Siehe auch Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004.

12 Friedrich Schleiermacher: Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850, 201-320.

13 Vgl. Werner Thiede (Hg.): Glauben aus eigener Vernunft. Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004.

14 Vgl. Werner Thiede: Gnade als Ergänzung? Zur Aporetik der Kantschen Rekonstruktion von Soteriologie und Christologie, in: Ders. (Hg.): Glauben aus eigener Vernunft?, a.a.O., 67-112.

15 Vgl. Sven Grosse: Gehört Schleiermacher in den Kanon christlicher Theologen?, in: Ders. (Hg.): Schleiermacher kontrovers, Leipzig 2019, 83-118, bes. 49 und 94-101.

16 Vgl. Werner Thiede: Wie Jesus glauben? Oder: An Jesus glauben? Kants Einfluß auf die moderne Theologie, in: CA III/IV (2006), 75-80.

17 Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede, Gütersloh 20046.

18 Vgl. Folkart Wittekind: Theologie religiöser Rede, Tübingen 2018 (dazu meine kritische Rezension in: zeitzeichen 9/2019, 63). Schon Marcus Döbert möchte entgegen dem protestantischen Schriftprinzip Theologie in den Kulturwissenschaften verankern (Posthermeneutische Theologie, Stuttgart 2007); ähnlich Markus Beile: Erneuern oder untergehen. Evangelische Kirchen vor der Entscheidung (Gütersloh 2021).

19 Dass und inwiefern der Begriff des Kulturprotestantismus auch noch heutzutage legitim Anwendung finden kann, zeige ich in „Evangelische Kirche“, a.a.O. 33ff).

20 Vgl. Alexander Deeg/Martin Nicol: Im Wechselschritt zur Kanzel: Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 20132.

21 Vgl. insgesamt W. Thiede (Hg.): Karl Barths Theologie der Krise heute, Leipzig 2018; B. Dahlke/H.-P. Großhans (Hg.): Ökumene im Denken. Karl Barths Theologie und ihre interkonfessionelle Rezeption, Leipzig 2020.

22 Vgl. Karl Barth: Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923), in: E. Busch (Hg.): Karl Barth Gesamtausgabe II.30, Zürich 1998, 321-326.

23 Vgl. Werner Thiede: Die Predigt aus evangelischer Sicht. Theologische Grundlagen, Wesen und Auftrag, in: Auftrag und Wahrheit 1, 1/2021, 27-39.

24 Vgl. Albrecht Peters: Gesetz und Evangelium, Gütersloh 19942.

25 Gerhard Müller: „Es weiß ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist…“ Wirklich?, in: CA 2/2016, 47-53, hier 51.

26 So hat sich laut Karl Richard Ziegert „innerhalb der EKD-Kirchenwelt ein neuer christlicher Totalitarismus etabliert, der Politik und Theologie, Religion und Gesellschaftssteuerung in einem sein will“ (Dieses Spiel ist aus. Über das verdrängte Sterben der EKD-Kirchenwelt, in: DPfBl 10/2014, 558-563, hier 558). Vgl. auch Reinhard Junghans: Kirche im Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen, in: DPfBl 4/2021, 201-205.

27 Im AT waren „Gottesherrschaft“ und Politik freilich in anderer Weise verwoben, weshalb Jesu Messiasanspruch sowohl von jüdischer als auch von römischer Seite missverstanden werden konnte.

28 Vgl. Karl Barth: Evangelium und Gesetz (1935), Neuabdruck in: Ders.: Rechtfertigung und Recht, Zürich 1998.

29 Vgl. Werner Thiede: Am Ende keine Gerechtigkeit? Probleme neuzeitlicher Resonanz auf die Vorstellung vom Endgericht, in: Chr. Raedel u.a. (Hg.): Die biblische Rede vom Gericht Gottes als Herausforderung für Theologie und Gemeinde, Holzgerlingen 2020, 35-58.

30 Vgl. Wilfried Joest: Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 1951; Werner Thiede: Im Aufblick zur himmlischen Kirche. Melanchthons ökumenischer Einsatz aus evangelischer Sicht, in: M. Fricke/M. Heesch (Hg.): Der Humanist als Reformator, Leipzig 2011, 345-370.

31 Vgl. näherhin Werner Elert: Morphologie des Luthertums. Bd. 2, München 1931, 313ff; Bernhard Lohse: Luthers Theologie, Gütersloh 1995, 168ff und 333ff.

32 Frieling u.a.: Konfessionskunde, a.a.O., 190.

33 Ulrike Guérot kritisiert von daher zurecht das aktuelle Versagen der Kirche in der Corona-Krise: Wer schweigt, stimmt zu, Frankfurt/M. 20224, 123.

34 Hierbei gilt es zu beachten, dass die naiv-fromme Auffassung, Gott sitze bei allem und jedem „im Regiment“, an dem biblischen Tatbestand vorbeigeht, dass das universale Reich Gottes noch Zukunft ist (1. Kor. 15,28). Vgl. Günter Klein: „Über das Weltregiment Gottes“. Zum exegetischen Anhalt eines dogmatischen Lehrstücks, in: ZThK 90 (1993), 251-283; Werner Thiede: Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007.

35 Vgl. T. Braune-Krickau/Chr. Galle (Hg.): Predigt und Politik. Zur Kulturgeschichte der Predigt von Karl dem Großen bis zur Gegenwart, Göttingen 2021.

36 Bei dieser vereinfachenden Symbolik darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass der Gottessohn schon im Schöpfungsakt und -wirken als „kosmischer Christus“ bzw. präexistenter logos dabei war und ist (vgl. Werner Thiede: Wer ist der kosmische Christus?, Göttingen 2001).

37 Vgl. Wilfried Engemann: Einführung in die Homiletik, Tübingen 20203, 371-380.

38 Siehe Stuart Olyott: Predigen – fesseln oder faseln? Bielefeld 2021, und mit Blick auf den britischen Prediger Charles Spurgeon (1834-1892) Arnd Schnepper: „Wir können die Menschen nicht ins Königreich schnarchen“ (idea 16/2021, 21f).

39 Günther Dehn: Predigt – heute, in: Verkündigung und Forschung 1947, 156-163, hier 156.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. theol. habil. Werner Thiede, Pfarrer der ELKB, apl. Professor für Syst. Theologie an der FAU Erlangen und Publizist (www.werner-thiede.de).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

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