Wie möchten Sie sterben?“

In manchen Zeitungen gibt es die „Fragebögen“. Da werden Prominente angeregt, auf Lebensfragen kurze Antworten zu geben. In einer solchen Zeitschrift fand ich die Frage: „Wie möchten Sie sterben?“ Ja, wie möchte ich sterben – wenn es denn sein muss? Wie wäre es mit dieser Antwort: „Im Gefühl der Erfüllung meiner Wünsche und des Gelingens meines Lebens. Im Gefühl des Erfolges und der Anerkennung meiner Mitmenschen. In der Ahnung meines Nachruhmes.“

In der Tat war Wolfgang Borchert solch ein Sterben vergönnt, als er am 20. November 1947 nach langer schwerer Krankheit im Alter von 26 Jahren verstarb. Am 21. November, also exakt am folgenden Tag, war die Uraufführung seines Stückes „Draußen vor der Tür“ in den Hamburger Kammerspielen angesetzt. Dass dies ein Riesenerfolg werden würde, war dem Sterbenden bereits klar. Das Stück war am 13. Februar 1947, also ein Dreivierteljahr zuvor, mit sensationeller Resonanz als Hörspiel im NWDR gesendet worden. Wolfgang Borchert wusste, dass ihm mit diesem Stück ein Platz in der Literaturgeschichte sicher sein würde.

Ob ihn das getröstet hat? Was ist ihm durch den Kopf gegangen – ihm, dem 26jährigen? Hat er vielleicht umgekehrt gedacht: „Was soll mir der Ruhm? Noch ein paar Jahrzehnte in den Armen einer geliebten Frau – wie viel gäbe ich darum? Dafür gäbe ich meinen ganzen Ruhm hin?“ Oder hat er vielleicht auch manchmal gedacht: „Gewiss, der Ruhm ist schön, gerade jetzt, kurz vor dem Tod. Aber noch schöner wäre es, wenn ich in der Vorfreude auf das ewige Leben getröstet sterben könnte?“

 

Das Drama der Nachkriegszeit

Borcherts eminenter Nachruhm hat sicher auch etwas mit seinem Tod als 26jähriger, blutjunger Mensch zu tun. „Draußen vor der Tür“ ist ein anrührendes Stück. Aber ob dieses Stück ebenso legendär geworden wäre, wenn der Autor nicht so „punktgenau“ gestorben wäre – darüber darf man nachdenken. Wenn Borchert womöglich zehn Jahre später als imaginierter Büchner-Preisträger ein Glas Sekt hätte erheben können – dann wäre er eben durchaus nicht mehr „draußen vor der Tür“ –, sondern er wäre auch „drinnen im Salon“ gewesen. Was übrigens ja auch keine Schande ist, denn man kann nicht wollen, dass man „draußen vor der Tür“ steht. Und man kann auch „drinnen im Salon“ Wahres reden und Gutes tun.

„Draußen vor der Tür“ ist ursprünglich ein Hörspiel und erst daraufhin ein Theaterstück. Worum geht es? Ein Soldat kehrt aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er hat fünf Jahre Krieg und dazu die Entbehrungen der Gefangenschaft hinter sich. Seine Jugend ist ihm gestohlen worden. Nun endlich kommt er nach Hause. Er freut sich auf sein Zuhause. Er freut sich auf seine Frau. Aber die will nichts mehr von ihm wissen, sie erkennt ihn kaum noch. Sie redet ihn einfach mit seinem nackten Nachnamen an: „Beckmann“. Deswegen heißt die Hauptfigur in dem Stück auch so spröde „Beckmann“. Aber nicht nur bei seiner Frau steht Beckmann im wahrsten Sinne des Wortes „draußen vor der Tür“. Auch als er eine Arbeit sucht, wird er abgewiesen. Und als er seine alten Eltern besuchen will, da wo er aufgewachsen ist, erlebt er eine verschlossene Tür. Seine Eltern haben in der Nachkriegsverzweiflung den Gashahn aufgedreht und sich das Leben genommen. Das wird ihm ganz locker von den jetzigen Bewohnern der elterlichen Wohnung mit dem Kommentar mitgeteilt: „So was Dummes. Mit dem Gas hätten wir einen ganzen Monat kochen können.“

Das ganze Kriegs- und Nachkriegselend wird in dem Drama beschworen. Und da taucht natürlich auch die Gottesfrage auf. Gott wird sogar als Person auf die Bühne geholt und befragt. Beckmann: „Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott? Warst du lieb, als du meinen Jungen, der gerade ein Jahr alt war, als du meinen kleinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließest? Warst du lieb, als du ihn ermorden ließt, lieber Gott? … Oder warst du lieb, als von meinem Spähtrupp elf Mann fehlten? … Die elf Mann haben gewiss laut geschrien in dem einsamen Wald. Aber du warst einfach nicht da, lieber Gott. Warst du in Stalingrad lieb, lieber Gott? Wann warst du denn eigentlich lieb?“ Gottes etwas müde Antwort: „Mein Junge, mein armer Junge! Ich kann es doch nicht ändern! Ich kann es doch nicht ändern … Ihr Menschen habt euch von mir abgewandt, ihr von mir. Nicht ich von euch.“ Und das sind denn auch die letzten Sätze des Stückes: „Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Gibt denn keiner, keiner Antwort???“

 

Der „liebe Gott“

Der Begriff „lieber Gott“ wird viel gebraucht und viel kritisiert. Es lohnte sich wohl, eine Geschichte dieses Begriffs in der deutschen Frömmigkeitssprache zu schreiben. Und dann wäre es interessant, seit wann es eine ausdrückliche Kritik an diesem Begriff gibt. Sicherlich nicht erst seit Borchert und „Beckmann“. Dazu ein paar Anregungen:

1. Von Bibel und Gesangbuch her ist der Ausdruck „lieber Gott“ unbedingt gerechtfertigt. Er ist ein schönes und unersetzbares Kürzel für die christliche Botschaft.

2. In einer christlichen Zeitschrift las ich von Pastoren, die ihre Konfirmanden zehnmal im Chor den Satz nachsprechen ließen: „Es gibt keinen lieben Gott!“ Die Begründung war natürlich, dass der Ausdruck „lieber Gott“ diesen in gemütlicher Weise verharmlost und die Majestät und Gerechtigkeit Gottes beiseite lässt. Gott ist eben kein „gutmütiger“ Gott, sondern ein „gütiger“ Gott. Und deshalb dürfe man auch nicht vom „lieber Gott“ sprechen. Als Ersatz für diesen Ausdruck wird manchmal der „liebende Gott“ vorgeschlagen.

3. Mir selbst ist der Ausdruck „lieber Gott“ auf unvergessliche Weise „lieb“ geworden durch einen Satz des damaligen Münchner Generalmusikdirektors August Everding. Der lebensfrohe und in vieler Hinsicht erfolgreiche Everding erkrankte mit ungefähr 70 Jahren an Krebs. Ihm blieben noch wenige Wochen zu leben. In einem Interview wurde Everding gefragt, wie er so auf den Tod zugehen könne. Er antwortete: „Ich vertraue darauf, dass der ‚liebe Gott‘ wirklich ein lieber Gott ist.“

4. Borcherts Frage an den „lieben Gott“ ist alt, mindestens so alt wie das Buch Hiob. Man wird die Kritik am lieben Gott verstehen und respektieren müssen. Aber man wird auch fragen dürfen, wie „ernst“ Borchert diese Kritik am lieben Gott wirklich meint und meinen kann. Ist die „Kritik am lieben Gott“ nicht immer ein Stück rhetorischer Übertriebenheit? Kann man das wirklich so meinen? Was bleibt uns denn letztlich anderes, als an den „lieben Gott“ zu glauben? Ich kann in der Gebetsanrede auf das „lieb“ (lieber Gott, lieber Vater, lieber Herr Jesus) nicht verzichten.

5. Wer den „lieben Gott“ wirklich verabschiedet, sollte wissen, dass er damit nicht nur den vermeintlichen Grund unseres Elends verabschiedet, sondern zugleich den einzigen Grund unserer Hoffnung.

6. So ganz „ernst“ meint Borchert seine Gotteskritik denn auch nicht. Im Vorspruch zu dem Drama „Draußen vor der Tür“ steht der Satz: „Eine Injektion Nihilismus bewirkt oft, dass man aus lauter Angst wieder Mut zu leben bekommt.“ Auch (der sterbende) Borchert kann nicht ganz umhin, dem Gedanken des (sterbenden) Everding eine Tür offenzulassen: „Ich vertraue darauf, dass der ‚liebe Gott‘ wirklich ein lieber Gott ist.“

 

Reaktionen auf das Stück

Das Stück „Draußen vor der Tür“ wurde am Tage nach Borcherts Tod als Theaterstück aufgeführt. Als Hörspiel war es schon neun Monate vorher im NWDR zu hören gewesen. Und die Reaktionen darauf hat Borchert noch erlebt. Er hat das überwältigende Interesse erlebt und auch viele Zuschriften erhalten. Diese Zuschriften sind zwiespältig. Kritisch äußert sich ein Pastor: „Wir Christen seufzen nicht über die schwere Zeit, in der wir leben. Wir brechen nicht darunter zusammen. Wir wissen von einer Kraftquelle, die uns immer wieder stark macht, mit allem, was uns begegnet, fertig zu werden.“ Und dann nennt der betreffende Pastor einige Beispiele dafür, dass Menschen sich nicht jammernd über das Kriegs- und Nachkriegselend beklagt haben, sondern in Gottvertrauen nach vorne blickten.

Man kann sich über eine solche Reaktion vielleicht ärgern und sie als beschwichtigendes pastorales Gerede abtun. Aber hatte unser verehrter Amtsbruder anno 1947 nicht doch irgendwie etwas Richtiges gesagt? Man kann diese „Kraftquelle“ ironisieren – aber man kann nicht ohne sie leben. Und ist es nicht wirklich wunderbar, wenn wir Menschen begegnen, die aus dieser Kraftquelle leben?

Ganz anders die Reaktion einer alten Freundin von Borchert, der Schauspielerin Aline Bußmann, die in einem Brief an Borchert schreibt: „Ja, das ist der Schrei der Zeit, in dem die Millionen Stimmen der Entwurzelten, Ausgestoßenen, Halt- und Zukunftslosen, der von Gott … Verlassenen eins geworden sind, und Deiner Kehle, Deines Herzens, Deiner Ausdruckskraft haben sie sich bedient, und Du hast ein Werk vollbracht, dessen Widerhall wohl in Gottes Herz dringen müsste, sollte man meinen, sofern er der ‚liebe‘ Gott wäre, nach dem du fragst und an dem du zweifelst. Aber – gibt es ihn: hat nicht er Dir diese heilige Glut ins Herz gehaucht?“

In Aline Bußmanns Interpretation wird eben gerade der „Zweifel“ an Gott als Teil des Gespräches mit Gott interpretiert. Kann man das so sehen? Oder ist der Zweifel – so gesehen – nicht immer nur ein gespielter Zweifel? Ist da womöglich der brave Pastor, der die ewige „Kraftquelle“ zitiert, zwar etwas langweiliger – doch letzten Endes offener und ehrlicher?

 

Schnodderige Verse

1945 hat Borchert einige Vierzeiler verfasst, die er selbst als „schnodderige Verse“ bezeichnet. Sie sind eben auch nicht als letzte Wahrheiten zu verstehen. Insofern darf man sie gern stehen lassen – aber doch kritisch kommentieren:

Trost der Religion
Ich will vom Leben nicht getröstet werden,
ich will nicht glücklich und zufrieden sein –
das ist nicht unser Sinn auf Erden:
Zufrieden ist der Käfer und das Schwein!

Ist das nicht doch eine – quasi pubertäre – Selbststilisierung? Gibt es überhaupt jemanden, der „nicht glücklich“ sein will? Jeder Mensch will, so oder so, glücklich sein. Der Satz „Ich will nicht glücklich sein“ ist originell – aber leider gelogen.

Christliche Geduld
Ich hasse diesen Kreuzes-Kult
und diese unerotische Geduld.
Ich häufe lieber Schuld auf Schuld
um eines Augenblickes süße Huld.

Welcher Mensch könnte das nicht nachempfinden? Und doch: Nachher ist er wie Faust für Gretchen – er hat ein Leben zerstört. „Schuld auf Schuld“, das hört sich mutig und tapfer an – aber die Last trägt Gretchen; die Last tragen die anderen.

Vom Glauben
Warum soll Christus meines Glaubens Mitte sein?
Ich glaub an Shakespeare, Bach und Goya.
Man kann doch auch für Nietzsche oder Rilke sein,
vielleicht für Dionysos, für Steiner und Loyola.

Das mag wohl sein. Und manchmal empfinde ich Jesus im Vergleich zu Shakespeare oder Rilke geradezu langweilig. Aber dass Shakespeare und Rilke nicht meine Heilande und Erlöser sind, das ist mir noch nie zweifelhaft gewesen.

Ich sterbe meinen Tod
Und was das Sterben anbetrifft:
Für mich ist Christus nicht gestorben!
Im Augenblick genieß ich unverdorben,
dass Charon mich hinüberschifft.

Wie schön, dass Borchert einschränkt: „im Augenblick“. Es ist eben ein Unterschied, ob man spielerisch an den Tod denkt. Da mag das Bild des Charon reizvoll sein. Aber wenn es ernst wird: ob da die Frage nach der Vergebung meiner Sünden mich denn nicht doch packt? Der Fährmann ist ein schönes Bild – aber der Fährmann ist eben kein Heiland.

Unendlichkeit
Aufs Weiterleben freut sich meine Seele ungeheuer:
Wir haben Platz genug in unseren Stratosphären
für dieses unerhörte Abenteuer –
Vielleicht spiel ich schon morgen mit dem großen Bären.

Ja „vielleicht“. Aber unsere Seele hungert doch nicht nach dem „Vielleicht“. Sondern nach dem Wunder der Gewissheit.

Der große Unbekannte
Und Gott? Fragst du, wo lässt du ihn?
Im Unbekannten, wo er immer war.
Denn dort auch hat er mir verziehn,
dass ich so jeder Ehrfurcht bar.

Das hört sich wieder sehr elegant an: Gott ist so weit oben, so weit weg, so überlegen und am besten ehre ich ihn, wenn ich ihn nicht ehre. Denn wenn ich meine, ihn ehren zu können, dann bilde ich mir ja schon ein, vor ihm jemand zu sein. Im Spaß gesagt: So gehe ich aus lauter Frömmigkeit nicht in die Kirche. Denn in der Kirche wird Gott ja sozusagen in die Endlichkeit herabgezerrt. Und in diesem Sinne würde man am Ende aus lauter Frömmigkeit auch nicht beten. Denn wie kann ich den großen Gott mit meinen Bauchschmerzen belästigen? Aber auch das Bild dieses „fernen Gottes“ ist doch ein selbstgemachtes Gottesbild. „Er ist nicht ferne von einem jeglichen von uns. Denn in ihm leben und weben und sind wir.“ (Apg. 17)

Thomas Schleiff


 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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