Statt dem Trostpotential ihrer Botschaft zu entsprechen, haben die Kirchen eher vertröstet und besänftigt – vertröstet mit der Aussicht auf das Himmelreich und besänftigt mit der Ermahnung, Unrecht zu dulden und friedlich zu sein. Wie es dazu kam, und welchen wirklichen Trost die biblische Tradition zu spenden vermag, erläutert Hans-Jürgen Benedict.

 

Der US-amerikanische Religionssoziologe Will Herberg hat einmal die Rolle der Kirchen mit der Formel gekennzeichnet, es sei ihre Aufgabe zu trösten und herauszufordern – to comfort and to challenge. In der Regel haben die Kirchen allerdings eher vertröstet und besänftigt. Vertröstet mit der Aussicht auf das Himmelreich und besänftigt mit der Ermahnung, Unrecht zu dulden und friedlich zu sein. Wie kam das? Dass der christliche Glaube mit der Endlichkeit des Lebens aussöhnt, indem er darauf vertraut und es zusagt, dass die Verbindung mit Gott und Christus auch über den Tod hinaus bestehen bleibt (lange Zeit gedacht als Unsterblichkeit der Seele, an der noch der Aufklärer Kant festhielt), das ist seine Trostwirkung. Doch die von dem frommen Verstand bzw. Gemüt entwickelten Bilder dieser über den Tod hinausreichenden Verbindung mit Gott haben aus dem Trost zumeist eine Vertröstung gemacht.1

Die Hoffnungsbilder früherer Zeiten besagten: Diejenigen, die ihr oft armseliges Leben im Jammertal Erde im Vertrauen auf den barmherzigen Gott gelebt haben, werden im Himmel oder im Jenseits mit einer glückseligen Existenz entschädigt. So konnten die mit den Mangelgesellschaften einhergehenden Hungersnöte, Krankheiten und Entbehrungen durch den Glaubenstrost besser ertragen werden. Mit der Entwicklung der Wohlstandsgesellschaft aber scheint dieser Trost hinfällig.

 

Weh euch, ihr Reichen. Denn ihr habt euren Trost schon empfangen.“ – Eine Rückblende ins Neue Testament

In der frühen Christenheit war der Trost der Gläubigen allerdings keine Vertröstung auf den Sankt-Nimmerleinstag, sondern die Ansage einer bald schon geschehenden Wende. Besonders der Evangelist Lukas tröstete mit seiner Erzählung der Worte und Werke Jesu die Armen. So in den Seligpreisungen, in denen die Armen direkt angesprochen werden: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes gehört euch. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ (Lk. 6,20-21) Ganz materiell wird hier den Armen, Hungernden und Weinenden ein eschatologischer Ausgleich verkündigt, der bald geschieht. Der Jetzt-Dann-Dualismus dieser Aussagen meint hier nicht die Antithese von Diesseits und Jenseits, sondern den Umschlag von irdischem Leid in irdische Freude. Das Reich Gottes ist kein jenseitiges Himmelreich, sondern eine Veränderung, die bald über die Welt kommt.

Im Unterschied zu der guten Wendung des Schicksals der Armen wird den Reichen hingegen gesagt: „Weh euch, ihr Reichen. Denn ihr habt euren Trost schon empfangen.“ (Lk. 6,24) Es ist auffällig, dass hier Trost, griech. paraklesin, steht. Es ist Trost im Sinne von Lebensglück und Festigkeit. Die gleiche Redefigur vom eschatologischen Ausgleich findet sich recht drastisch erzählt in der Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus. Dieses Gleichnis scheint dem Gedanken des irdischen Ausgleichs, der mit dem innerweltlichen temporalen „jetzt“ und „dann“ in den Seligpreisungen verheißen wird, zu widersprechen. Denn der Reiche stirbt und kommt in die Hölle, Lazarus aber wird nach seinem Tod von den Engeln in Abrahams Schoß getragen als einem Bild für ein ausgleichendes Jenseits und so getröstet. Zwischen der Hölle und dem Schoß Abrahams aber liegt, so sagt Abraham, eine tiefe Kluft, niemand kommt hinüber und herüber. Kein Trost für die Reichen! Nur für die Armen!

Es ist eine drastisch erzählte Geschichte, weil sie die Hörenden verändern will. Und sie ist heute noch überraschend aktuell: Eine von J. Berkessel und J. Gebauer vorgelegte Studie der Universität Mannheim belegt, dass Religiosität mit ihrem Trost des himmlischen Ausgleichs heute nach wie vor für Menschen in armen Ländern den Umstand mildert, zu einer niedrigen sozialen Klasse zu gehören. In ihrer Studie, die 3 Mio. Menschen aus mehr als 150 Ländern einbezog, war aber besonders das Ergebnis bemerkenswert: „Je reicher die Länder sind, desto weiter öffnet sich dort die Glücksschere zwischen Armen und Reichen.“ Arme in reichen Ländern sind unglücklicher als Arme in armen Ländern. Sie haben oft nicht mehr wie diese den Trost der Religion, den Zusammenhalt der religiösen Gemeinschaft und die Anerkennung, die sie dadurch erfahren, sie leiden vielmehr unter ihrem niedrigen sozioökonomischen Status.

 

Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ – Sehnsucht nach Christus: Trost in der frühen Christenheit

Der Apostel Paulus berichtet im 2. Kor. von den Verfolgungen, die er erleiden musste. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn er der Gemeinde in Philippi bekennt, er sehne sich danach, „aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre, aber um euretwillen ist es nötiger, daß ich weiterlebe“ (Phil. 1,23). Diese Sehnsucht nach dem bei Christus im Himmel Sein ist angesichts der irdischen Schwierigkeiten stark verbreitet bei den frühen Christen. Sie amalgamiert sich mit der Hoffnung auf die Wiederkunft Christi, die in einem gewaltigen Drama beim „Schall der letzten Posaune“ die von Gott Erwählten verwandeln wird und die Toten auferstehen lässt. Etwas weniger dramatisch: „Unsere Heimat (eigentlich steht dort „Bürgerschaft“) ist im Himmel, von dort her erwarten wir den Heiland, der unseren nichtigen Leib verwandeln wird.“ (Phil. 3,20) Diese Naherwartung meinte also nicht die Weiterexistenz in einem Jenseits, sondern die Verwandlung der Welt zu einem mystischen geheimnisvollen bei Gott und Christus Sein.

Im Johannesevangelium, entstanden um 100 n. Chr, konfrontiert Jesus seine Jünger*innen mit der traurigen Wahrheit, dass er weggehen, sie verlassen muss. Er wird ihnen aber den Heiligen Geist „als Beistand und Tröster geben, der für immer bei euch bleiben soll.“ (Joh. 14,15) Die Gottheit wird sozusagen um die Tröstergestalt, den Parakleten, den Beistand erweitert. Mit diesem Tröster an der Seite konnte die Christenheit ihren Weg nach dem Weggang Jesu zu seinem Vater getrost fortsetzen. Tröstung als Beistand im Hier und Jetzt. Der scheidende Jesus tröstet seine Jünger*innen: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16,33) Dieses „Seid getrost“ hat viele Menschen immer wieder getröstet. „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“ (Ernst Troeltsch) und hilft seine Unbilden und Ungerechtigkeiten zu ertragen.

 

Die Zufälligkeit der eigenen Existenz und die Trostbedürftigkeit des Menschen

In dem Moment, in dem der Mensch über die Grenzen seiner Existenz nachdenkt und begreift, dass er sterben muss, da spürt er das Verlangen nach Trost. Er möchte Trost empfangen und Trost spenden. Der Mensch ist trostbedürftig und zugleich untröstlich. Denn letztlich kann auch der tiefste Trost das Faktum der Sterblichkeit nicht vergessen machen. Wir sind trostbedürftig, weil wir zufällig in die Welt gesetzt sind und eigentlich keinen Grund haben da zu sein. Schon Hiob verflucht den Tag seiner Geburt: „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt. Jener Tag soll finster sein und Gott droben frage nicht nach ihm.“ (Hiob 3,3f) „Man muß die Menschen bei ihrer Geburt beweinen, nicht bei ihrem Tod,“ sagte der französische Schriftsteller Charles de Montesquieu. Immanuel Kant meinte, weil wir Menschen ohne gefragt worden zu sein, auf die Welt gesetzt werden, müssen die Eltern ihren Kindern manches nachsehen, ihnen das Dasein versüßen. Kleine Kinder wie mein neunjähriger Enkel Felix handeln manchmal, als kennten sie diesen Kant-Satz schon: wenn über sie gelacht wird oder ihnen die Erfüllung eines starken Wunsches verwehrt wird, verfallen sie melodramatisch in Ausrufe wie „keiner mag mich, ich will nicht mehr hier sein, ich will sterben“ usw.

Trostbedürftig ist der Mensch also von Kindheit an. Der Psalmist dankt Gott: „Du hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin.“ (Ps. 139,13f) Die Urgestalt des Trostes bzw. der Tröstenden ist die Mutter. Das Kind ist hingefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen. Da sitzt es und weint herzzerreißend. Die Wunde blutet und schmerzt. Die Mutter kommt und tröstet. Das hält sich durch bis auf das Totenbett, wo von Sterbenden oft noch die Mutter angerufen wird. Insofern ist der Satz aus dem Propheten Jesaja „Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,12) eine anthropologisch gut fundierte biblische Aussage. Trost und Erbarmen sind mütterlich konnotiert, bis in den Sprachgebrauch hinein, denn das hebräische Wort für Barmherzigkeit rachamim ist der Plural von rächäm Mutterschoß.

Beides also steht in der Bibel: bei Hiob der Zweifel am Sinn menschlicher Existenz angesichts der Ungerechtigkeit Gottes, in den Psalmen und bei Jesaja 66,13 die Zusage, dass der Mensch von Gott gewollt ist und von ihm wie eine Mutter getröstet wird.

 

Alltagsweltliches Trösten heute in der Überflussgesellschaft

In einer Studie von Karin Borck von der Fachhochschule Potsdam (ich zitiere aus einer Zusammenfassung der Studie von Matthias Drobinski, Trost lenkt den Blick nach vorn, in: Chrismon, April 2021) wurde erkundet, wie die verschiedenen Altersgruppen, von Kindergartenkindern bis zu alten Menschen in Pflegeheimen, Trost verstehen, Trost erfahren, Trost geben. Fünfjährige antworteten: Trost ist, wenn einen jemand in den Arm nimmt, wie die Mutter es tut. Oder wenn man jemanden hat, der einen an die Hand nimmt und sagt, das schaffen wir. Trostwesen, die sie malten, konnten fliegen und hatten bunte Trösteaugen. Ältere Schulkinder erlebten sich durch Gemeinschaftserlebnisse getröstet, durch Musikhören, durch aufregende Sportereignisse, durch Rückzug in die eigene Zimmerhöhle.

Erwachsene sind doppelt gefordert, als Tröstende wie als Trostbedürftige. Gerade Menschen in helfenden und unterstützenden Berufen, ob Seelsorger, Arzt, Polizist oder Feuerwehrmann, die in schlimmen Situationen (Unfälle, Selbstmord, tödliche Krankheit uä.) gefordert sind, brauchen selbst auch Trost und Ermutigung. Wo diese Seite nicht gesehen wird, sind sie überforderte oder hilflose Helfer. In Supervisionen und Balintgruppen kann diese Trost-Überforderung bearbeitet werden, die Hilflosigkeit eingestanden werden.

Am schwierigsten waren für die Potsdamer Forscherinnen die Gespräche mit alten Menschen. Über den Trost zu reden heißt auch, über Wunden, Schmerzen und Verletzungen zu reden, die sie in ihrem Leben erlitten haben. Jetzt wo das Ende des Lebens nahegerückt ist, manches nicht mehr zu korrigieren ist, wo schlimme Erinnerungen aus der Kindheit wieder auftauchen, Einsamkeit belastend wirkt, was kann da trösten?

Ich erinnere an die Schlussszene aus Anton Cechovs Onkel Wanja, in der Sonja mit dem biblischen Szenario eines himmlischen Ausruhens tröstet und Onkel Wanja gewissermaßen in den Mantel dieser Vertröstungen hüllt. Mantel heißt auf Lateinisch pallium, und Palliativmedizin soll den Übergang vom Leben zum Tod erleichtern. Man könnte sagen, nötig ist auch eine Palliativtheologie des Alters, die die letzten Lebensjahre erleichtern hilft. Es sind oft die alten Lieder und Texte, die bei den vergesslichen Hochbetagten Trost und ein Stück „innerer Festigkeit“ (Kluges Etymologisches Wörterbuch zum Stichwort Trost) bringen. Der Psychoanalytiker C.G. Jung empfahl geradezu den christlichen Glauben mit seinen Ritualen und Tröstungen als Erleichterung der Existenz im Alter.

 

Warum trägt der Trost der Musik mehr als andere Trostzusagen?

Was kann Trost leisten? Der österreichische Philosoph Peter Strasser hat darauf 1993 in einem Essay geantwortet: Er kann „Geborgenheit im Schlechten“ geben. Oder anders, paradox, gesagt: Trost ist Hilfe, wenn Hilfe nicht mehr hilft. Und wenn auch keine Argumente und verbalen Vergewisserungen mehr trösten. Denn Argumente trösten nicht. Zuweilen aber tun es gelungene Gedichte, etwa das Gedicht Auferstehung von Marie Luise Kaschnitz. Goethes Kurzgedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“ verströmt eine Aussöhnung mit der Endlichkeit. Wenn diese poetischen Worte versagen, kann aber die Musik noch trösten. Der Trost der Musik, so wie er in dem Schubert-Lied An die Musik (auf einen Text von Schober) beschrieben wird, erfasst den ganzen Menschen. Er hat auch etwas tröstend Regressives an sich. Die ersten Lieder, die das kleine Kind hört, sind tröstende Wiegenlieder. Manche meinen, es wäre sogar eine Rückkehr in vorgeburtliche Erfahrungen, die der Embryo im Mutterleib mitbekommen hat, wenn die Mutter singt. Der Wiegenrhythmus des Siziliano-Taktes etwa in der Hirtenmusik des Weihnachtsoratoriums Bachs vermittelt diese Geborgenheit. Oder Brahms wunderbares Geistliches Wiegenlied mit dem eingestreuten „Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen meine Kindelein“.

„Das Unaussprechliche Innige der Musik, infolgedessen sie als ein ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich, beruht darauf, dass sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern aller Qual.“ – so Schopenhauer. Schließlich die Nähe der Musik zum Tod, wie Ernst Bloch sie im Prinzip Hoffnung beschreibt: Orpheus schlägt erst im Hades siegreich die Harfe gegen den Tod. Ob Sterbende Musik hören sei dahingestellt, sagt Bloch, aber doch hören Lebende in der Musik wahlverwandt ein Sterben, aber mit dem Pauluswort in den Sieg verschlungen. „Schlage doch, gewünschte Stunde“ (BWV 53) – mit der Zeile dieser Bach-Kantate geht der Mensch mit Heimweh durch die letzte Angst, meint Bloch. Und in „Die Seele ruht in Jesu Händen, wenn Erde diesen Leib bedeckt“ (BWV 127) läuten die Sterbeglocken im Pizzicato der Streicher so tröstlich schön, dass die Angst fast verfliegt. In den Kindertotenliedern Gustav Mahlers auf Gedichte von Friedrich Rückert, der zwei Töchter durch Diphterie verloren hatte, wird musikalisch schwermütig mit dem irrealen Gedanken getröstet: „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen, bald werden sie wieder nach Hause gelangen. Der Tag ist schön, o sei nicht bang! Sie machen nur einen weiten Gang.“ Mahlers Musik transformiert diese „Lüge“ in einen Klang-Trost, der das inständig Gewünschte für ein paar Minuten wirklich werden lässt.

 

Ja, Effi, du wirst“ – Jenseitstrost als barmherzige „Lüge“

Ich habe fast vier Jahre lang einen Freund, der an ALS (amyotrophe Lateralsklerose) litt, künstlich beatmet und ernährt wurde, begleitet. Er konnte mit uns die letzten drei Jahre nur noch über den Augencomputer kommunizieren. Das dauerte oft lange, bis ein Satz fertig war. Aber er machte oft einen Scherz, z.B. wenn seine Frau und ich eher aus Versehen über einen Restaurantbesuch sprachen: er wolle jetzt auch mal wieder ein Dreigängemenü eines Sternelokals im Krankenhaus bestellen. Er genoss das Vorlesen, darunter auch Passagen aus Heines Geständnissen, „da sehen Sie, wie man mich in Paris auf Händen trägt“, war eine seiner Lieblingsstellen und ich habe sie auch bei seiner Trauerfeier zitiert. Heine glaubte an die Fortdauer der Seele nach dem Tode, in einem seiner Testamente vermerkt er ausdrücklich, dass Gott sich seiner unsterblichen Seele erbarmen möge.

Im Glaubensbekenntnis bekennen wir Christen, dass wir an die Auferstehung der Toten glauben und an das ewige Leben. Wie das sein wird, wissen wir nicht. Auch die Theologen wissen es nicht. Ich war fast ein wenig erleichtert, dass mein Freund mich nicht danach fragte. Denn angesichts des Nichtwissens zu trösten und eine Zusage zu machen, ist nicht leicht. Aber vielleicht sollten wir es machen, wie der alte Pastor Niemeyer in Fontanes Roman Effi Briest. Die nach der Scheidung und der Trennung von ihrer Tochter traurigkranke Effi macht mit ihrem alten Konfirmator einen Spaziergang und kommt an die Schaukel ihrer Mädchenzeit, springt drauf und fliegt durch die Luft. Sie erinnert sich an den Schaukelflug früherer Zeiten und ruft aus: „Ach, wie schön war es, und wie mir die Luft wohltat; mir war als flög ich in den Himmel. Ob ich wohl hinein komme? sagen Sie mir’s, alter Freund, sie müssen es wissen. Bitte, bitte.“ Niemeyer nahm ihren Kopf in seine alten Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Ja, Effi, du wirst.“ Eine beeindruckende tröstende Geste. Wie sagte Julian Barnes in Nichts was man fürchten müsste: Die Religionen waren die „erste große Erfindung fiktionaler Autoren“ – „eine schöne wohlgestaltete Geschichte, in der harte exakte Lügen stecken.“ Sei getrost, du kommst in den Himmel, du hast eine unsterbliche Seele, du bist nicht vergessen! – Manchmal wünschen sich Angehörige solche Tröstungen. Manchmal lehnen sie diese Art zu trösten ab. Dann ist es besser, wie die Freunde des vom Unglück hart betroffenen Hiob einfach schweigend bei ihm zu sitzen.

 

Trost, der im Gedenken liegt

Insofern war die Gedenkfeier für die Corona-Toten, die Bundespräsident Steinmeier am Sonntag nach Ostern 2021 in Berlin veranstaltete, eine gelungene Trauerfeier für die Verstorbenen und ihre Angehörigen.2 Denn diese kamen exemplarisch, fünf Schicksale von knapp 80.000, zu Wort, berichteten vom Leben und Sterben ihrer Eltern und Kinder. Und dann wurden 150 Fotos von Verstorbenen mit ihrem Geburts- und Sterbedatum gezeigt. Es wurde kein Trost verkündigt, keine Hoffnung beschworen. Zwar erklang das tröstliche „Selig sind, die da Leid tragen“ aus Brahms Deutschem Requiem. Doch der eigentliche Trost lag im Gedenken, darin, dass die Toten nicht vergessen waren, dass ihrer und ihres Leidens gedacht wurde. Und darin, dass die Angehörigen selber Worte fanden für den Abschied von ihren Liebsten, auch dort, wo sie wegen der Kontaktbeschränkungen nicht selbst Abschied nehmen konnten. Dadurch verwandelte sich ihre Trauer in den Trost des Gedenkens. Denn wirklich tot sind wir erst, wenn keiner mehr an uns denkt.

 

Was ist Theologenehrlichkeit angesichts des Todes?

Theologen weichen bei der Frage nach der Hoffnung angesichts des Todes oft aus. Nicht so Dorothee Sölle. In ihrer Autobiographie Gegenwind bekannte sie: „Ich glaube an das Leben, das weitergeht nach meinem individuellen Tod, an den Frieden, der vielleicht einmal sein wird (…) ich glaube nicht an eine individuelle Fortexistenz und ich möchte auch nicht in die Lage kommen, daran glauben zu müssen. Ich empfinde das wie eine Krücke des Glaubens.“ Bis zuletzt hat sie diese Frage kontrovers mit ihrem Mann Fulbert Steffensky diskutiert. Noch bei einem Gespräch mit Fulbert sechs Wochen vor ihrem Tod 2003 sagte sie, dass sie nicht an ein Jenseits, an ein ewiges Leben, an eine Weiterexistenz nach dem Tode oder an die Unsterblichkeit der Seele glaube. Für sie sei wichtig, dass Gott weiterexistiere. „Lässt sich nicht eine Geborgenheit denken, die nicht in meiner Weiterexistenz, wohl aber in Gottes Weiterexistenz liegt? ‚Ich in dir, du in mir, niemand kann uns scheiden‘ – reicht das nicht?“ (Dorothee Sölle, Mystik des Todes).

Ja, das ist die Frage, ob das reicht. Sollte es nicht ein Bilderverbot über die Jenseitshoffnung geben? Oder zumindest die absolut gebotene Erinnerung daran, dass das alles „nur“ Bilder sind, die wir uns von einem Jenseits machen?! Und dass Bilder gelungene Fiktionen sind, deren Wahrheitsgehalt dahinsteht?

Allerdings: Was wir nicht wissen können, worauf wir aber hoffen dürfen, ohne dass es zur Vertröstung für ein schlechtes Leben wird, das darf man dann auch angesichts des Todes von liebsten Angehörigen den Trauernden (zu)sagen – die Verbindung zu Gott hört auch im Tod nicht auf. Vielleicht kann man dann auch mit Jürgen Moltmann sagen, dass Gottes Gedenken meiner Individualität auch im Tode erhalten bleibt. Ich gehe nicht ins Meer des Vergessens ein, sondern, bildlich gesprochen, in den Himmel des Gedenkens.

 

Anmerkungen

1 Ausführlicher beschäftige ich mich mit diesem Thema in meinem Buch „Kein Trost, nirgends? Texte zu Gedenken und Vergessen, Sterben und Trösten“, Hamburg 2022.

2 Anders als der von den beiden großen Kirchen gestaltete Corona-Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, s. zum Vergleich der beiden Gedenkveranstaltungen meinen Aufsatz: Der Corona-Toten gedenken – staatlich und kirchlich getrennt, in: Pastoraltheologie (110) 2021/6, 206ff.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. theol. Hans-Jürgen Benedict, Jahrgang 1941, 1980-1991 Pfarrer in Hamburg, 1991-2006 Prof. für Diakonische Theologie an der Evang. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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