In der Septemberausgabe 2021 des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblattes wurde über das erneute Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. Februar 2020 bezüglich des assistierten Suizids und die Umsetzung dieser Entscheidung in kirchlichen sowie diakonischen Einrichtungen kontrovers diskutiert. Hinter den unterschiedlichen Auffassungen steht oft eine generell unterschiedliche theologische Bewertung des Suizids. Andrea Schmolke leuchtet den theologischen und religionswissenschaftlichen Hintergrund aus und akzentuiert den Umgang mit Suizid sowie assistiertem Suizid neu.

 

Bei der theologischen Bewertung des Suizids stehen sich, vereinfacht dargestellt, zwei Positionen gegenüber: Die eine, die, wie das Bundesverfassungsgericht, auf das Selbstbestimmungsrecht des Menschen verweist, und auf der anderen Seite die derjenigen Vertreter, die sich an traditionelle theologische Denkmuster halten und das Leben als ein unverfügbares Geschenk Gottes betrachten. Ein Kompromiss scheint oft ausgeschlossen zu sein. In der Theologiegeschichte aber gab es auch immer eine Mittlerposition, die nie recht zur Geltung kommen konnte: der Suizid als Auftrag Gottes an den betreffenden Menschen! In diesem Artikel möchte ich diese verdrängte Linie der Betrachtung des Suizids innerhalb der Theologiegeschichte ins Bewusstsein rufen und die Erfahrungen Betroffener heben. Beides soll in eine religionswissenschaftliche Betrachtung des Suizids als ein Tabu münden und auf Konsequenzen im Umgang mit Suizid und assistiertem Suizid hinweisen.

 

Kurzer Abriss der Theologiegeschichte

Die Kirchengeschichte ist über Jahrhunderte hinweg von einer scharfen Verurteilung des Suizids geprägt. Vielen leidgeplagten Menschen, die einen Suizidversuch begangen haben, und unzähligen Angehörigen eines Suizidanten wurde großes Unrecht zugefügt. Gott sei Dank gehört dies der Vergangenheit an, und die großen Kirchen haben sich für die Nöte der Menschen geöffnet. Wie konnte sich innerhalb der Theologiegeschichte diese starke Verurteilung des Suizids durchsetzen und die Not der Menschen so oft unbarmherzig übergangen werden, obwohl im gesamten biblischen Zeugnis keine moralische Beurteilung des Suizids erfolgt?1

Mit der Christenverfolgung und den damit verbundenen Opfern wurde das Martyrium von einigen Theologen wie beispielsweise von Tertullian hochgeschätzt und als Pflicht und Ausdruck des absoluten Gehorsams angesehen. Freilich ist der Märtyrertod nicht mit einem Suizid gleichzusetzen. Aber im Zusammenhang mit dieser Diskussion beginnt auch die Verurteilung des Suizids. Denn ein Suizid wurde zu einem akzeptablen Weg erklärt und teilweise sogar als Martyrium gefeiert. In diesem Kontext sah der Kirchenvater Augustin eine Gefahr und erhob daher seine Stimme gegen eine leichtfertige Entscheidung zum Suizid. Für ihn waren keine menschlichen Gründe wie z.B. eine drohende Vergewaltigung relevant, um einen Suizid zu rechtfertigen. Aber Augustin kannte die mögliche Ausnahme, bei der eine Selbsttötung erlaubt oder gar geboten ist, nämlich dann, wenn Gott seine Zustimmung wie beim Richter Simson geben würde, was aber kein anderer von außen überprüfen könne.2 Unter Thomas von Aquin wurde diese Sicht auf den Suizid und die sich darauf aufbauende kirchliche Praxis im Zuge der scholastischen Theologie systematisiert. Mögliche Ausnahmesituationen kamen nicht mehr in den Blick.3 Eine strikte Verurteilung des Suizids, die über Jahrhunderte hinweg prägend für die Kirche im Umgang mit suizidbetroffenen Menschen war, war die Folge dieser konsequenten theologischen Grundhaltung.

Es gab freilich immer wieder auch Ausnahmen, die die menschliche Tragik hinter diesen Todesfällen sah, wie etwa das Relief auf einem Säulenkapitell in der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine, Vézelay, aus dem 12. Jh. eindrucksvoll zeigt: Jesus legt den erhängten Judas wie ein Hirte sein Schaf über seine Schultern und trägt ihn. Martin Luther brachte den Teufel als dämonische Macht ins Spiel, die einen Menschen vollkommen in Besitz nimmt und in den Suizid treiben kann.4 Damit wird der Mensch in seiner Schuldfähigkeit entlastet. Dennoch bleibt die Einschätzung, dass ein Suizid nach Gottes Wille nicht sein darf.

Anfang des 20. Jh. greift Karl Barth die Stimme Augustins wieder auf. Jedoch wird Barth mit seiner Betrachtung über den Suizid häufig so dargestellt, als würde er ihn ausnahmslos verurteilen. Tatsächlich unterscheidet Barth strikt zwischen Selbstmord und Selbsttötung. Während er in seiner kirchlichen Dogmatik den Selbstmord auf 18 Seiten scharf verurteilt, wendet er sich am Ende drei Seiten lang dem speziellen Grenzfall einer Selbsttötung zu: „[N]icht jede Selbsttötung [ist] an sich und als solche auch Selbstmord […], Selbsttötung muß ja nicht notwendig ein Nehmen des eigenen Lebens sein. Ihr Sinn und ihre Absicht könnte ja auch eine bestimmte, allerdings extremste Form der dem Menschen befohlenen Hingabe seines Lebens sein. […] Wer will nun eigentlich wissen, daß Gott ein Leben, das ja ihm gehört, nicht auch einmal in dieser Form aus den Händen eines Menschen zurückverlangen könnte?“5 In seiner Begründung greift er u.a. auf die Einsichten des Kirchenvaters Augustins zurück.

In der theologischen Beurteilung des Suizids wurde die Annahme, dass eine Selbsttötung auch auf Gottes Geheiß hin erfolgen kann, immer wieder verdrängt. Michael Herbst ist ein theologischer Vertreter, an dem dieses Verdrängen beispielhaft nachgezeichnet werden kann. In seinem Buch „Beziehungsweise“ schreibt Herbst über die Haltung Augustins inklusive seiner Ansicht, dass es Ausnahmen des Suizidverbotes gibt (S. 452). Theologiegeschichtlich greift Herbst dabei auch auf Karl Barth zurück, aber nur in Bezug auf die Verurteilung des Selbstmordes. Die differenzierte Argumentation Barths übergeht Herbst und schreibt nur elf Seiten nach der Nennung der Möglichkeit einer Ausnahme des Suizidverbotes bei Augustin: „Auch wenn die Selbsttötung nicht Gottes Wille ist [...].“ Eine mögliche Ausnahme wird bei Herbst nicht mehr in Betracht gezogen.6

Die Vorstellung, dass Gott einen Menschen in den Suizid ruft, ist zweifelsohne schwierig. Von Gott haben wir ein anderes Bild. Ist er nicht ein Freund des Lebens? Insofern verwundert es nicht, dass diese Sichtweise nicht wahrgenommen oder immer wieder verdrängt wird.

 

Die Erfahrung Betroffener

Nun ist zu fragen: Woher kommt diese Einschätzung, dass Gott einen Menschen beauftragen könnte, an sich selbst Hand anzulegen? Augustin führte diesen Gedanken auf den biblischen Bericht über den Suizid des Richters Simson zurück. Er habe sich vor seiner Tat mit Gott abgesprochen. Nur dadurch, dass er seine Kräfte zurückerhalten hatte, konnte er sich mit aller Gewalt gegen die Säulen stemmen und sie zum Einsturz bringen.7 Diese Interpretation mag abwegig erscheinen. Wer sie jedoch mit Berichten heutiger Betroffener – sei es als Hinterbliebene oder als Überlebende eines Suizidversuchs – vergleicht, kann im biblischen Bericht diese Erfahrungen wiederentdecken. Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, wie sehr der Suizid von göttlicher Seite beeinflusst wird.

Vorahnungen des Suizids

Der Schweizer Theologe Eberhard Aebischer-Crettol hat im Rahmen seiner Dissertation Suizidhinterbliebene nach ihren Erfahrungen befragt. Eine Witwe, Frau G., erzählte darin von Vorahnungen des Suizids, lange bevor sich ihr Mann A. mit 32 Jahren durch einen Kopfschuss selbst tötete. Ihre Vorahnungen begannen mit einer Art Tagtraum, den sie kurz nach dem Beginn der Beziehung mit ihrem Mann hatte: „Ich fragte mich, ob ich die Beziehung vertiefen sollte. Ich fragte mich, was ich mir vorstellte. Da hörte ich wie eine Stimme, die mir sagte: ‚Du musst dich für oder gegen die Beziehung entscheiden! Wenn du dich dafür entscheidest, wird sie sehr schön sein – aber nicht alt werden.‘ Ich sah ein Bild von A vor mir, wo er etwas am Kopf hatte [Frau G zeigt mit der Hand an ihre Schläfe]. Ich hörte weiter, wie die Stimme mir sagte, dass nicht ich die Ursache des Todes von A sein würde, aber ich müsste viel entscheiden. Ich überlegte. Doch doch, sagte ich zu mir: Ich sage ja. Dann war das [die Erscheinung] weg. […] Später hatte ich für kurze Momente wie ‚einen falschen Film‘, der mir durch den Kopf schoss: ‚Wenn ein Kind kommt, geht der Mann weg.‘ Das passierte mir auch an unserem Hochzeitstag. Ich verdrängte das, nahm es nicht ernst. Ich dachte, das sei so eine fixe Idee, und wollte mich damit nicht verrückt machen.“8

Des Weiteren hatte Frau G. in der Verlobungszeit eine Vision, als sie mit ihrem Partner an einem nahegelegenen Weiher spazieren ging: „Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich sei wie in Trance. Die ganze Stimmung schien mir unwirklich und traumhaft schön, obwohl regnerisches und unfreundliches Wetter herrschte. Da kam plötzlich jene Stimme wieder und sagte mir: ‚Geniesse [sic!] den Moment! Irgendwann stehst du wieder an diesem Ort und bist allein.‘ Es war irgendwie unwirklich. An dieser Stelle nahm A. sich das Leben …“9

Die Witwe hatte lange vor dem eigentlichen Tod eine Vorahnung, dass ihre Beziehung nur von kurzer Dauer sein wird. So wie sie es gesehen hatte, ohne die Einzelheiten bis ins Letzte genau interpretieren zu können, ist es geschehen. Es legt sich die Frage nahe, welche Rolle Gott bei diesem tragischen Tod spielt? Wird der Frau ein göttlicher Plan offenbart, der diesen Suizid schon lange auf dem Schirm hat? Oder gibt Gott dieser Frau durch göttliches Vorwissen diese Vision, damit sie sich selbst keine Schuldzuweisungen machen muss, was bekanntermaßen oft das größte Problem in der Trauer nach einem Suizid ist? Um diese Fragen klären zu können, wäre es entscheidend auch das Erleben des Mannes zu kennen.

Gott lässt Suizide zu

Die Erfahrungen an Suizid verstorbener Menschen kann man naturgemäß nicht abgreifen. Es sei denn, sie überlassen eine schriftliche Nachricht, in der sie auf Gott zu sprechen kommen, so wie der junge Mann der im Baum sitzend Gott bittet, ihm ein Zeichen zu senden, dass er sich nicht das Leben nehmen solle. Er bekam kein derartiges Zeichen und stürzte sich in den Tod.10 In einer theologischen Diskussion würde diesem Vorgehen in erster Linie menschliche Willensfreiheit attestiert. Für den Suizidanten war es in seinem letzten Zweifel über die Entscheidung für oder gegen einen Suizid offenbar ein eindeutiges Zeichen.

Suizidpläne werden durchkreuzt

Denn es gibt andererseits Erfahrungsberichte von Überlebenden, die ihren Suizid sehr gut geplant haben und deren Handeln auf wundersame Weise durchkreuzt wurde. Die Psychotherapeutin Dipl.-Psych. Stefanie Rösch vom Trauma-Informations-Zentrum berichtete auf der Frühjahrstagung 2017 der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention von ihren Erfahrungen mit suizidgefährdeten Patientinnen. Für diese Arbeit sei ihre eigene Spiritualität eine wichtige Ressource. Die Opfer ritueller Gewalt, mit denen Rösch arbeitet, seien durch die Täter massiver Gewalt und damit wiederholt Situationen ausgesetzt gewesen, in denen den Opfern etwas aufgezwungen wurde. Aus diesem Grund verzichte sie in der Therapie auf Zwang und damit auch auf erzwungene Einweisungen in die Psychiatrie, auch wenn die Klientin offensichtlich suizidal sei. In über 10 Jahren therapeutischer Tätigkeit mit dieser Klientel habe sie noch keinen Patientinnensuizid zu beklagen gehabt. In besonders kritischen Situationen gebe sie das Leben der betroffenen Klientin durch ein Gebet aktiv in Gottes Hand und vertraue auf seine Führung.

Rösch berichtet in einer persönlichen Kommunikation11 von erstaunlichen Erfahrungen in diesem Zusammenhang. Beispielweise erzählte sie von einer Klientin, die sich das Leben auf den Schienen nehmen wollte und später sagte, dass da plötzlich am späten Abend ein Mann gewesen sei, der sie von den Schienen gerissen und nach Hause gefahren habe. Die Klientin habe keine Ahnung, wer dieser Mann war oder wie er dorthin kam. Es gab keine Polizei, keinen Arzt, sondern nur die lebensrettende Hilfe. Die Klientin nannte ihn einen Engel. Während der Sohn von Anna Puryear auf dem Baum sitzend von Gott erbittet, durch ein Zeichen ihn von dieser Tat abzuhalten, kommt zur Klientin von Rösch ein unbekannter Mann wie aus dem Nichts und rettet die Frau vor dem Schienentod.

Ein anderes Mal, berichtet Stefanie Rösch, habe eine Klientin die Türe zum Treppenaufgang auf das Dach nicht mehr gefunden, von dem sie sich stürzen wollte. Es war, als sei sie mit Blindheit geschlagen gewesen. Dass Gott einen Menschen mit Blindheit schlägt, ist nicht nur sprichwörtlich, sondern ein bekanntes Motiv aus der Bibel. Lot wird von zwei Engeln vor den Männern aus Sodom gerettet, indem sie sie mit Blindheit schlagen und diese die Eingangstür zu Lots Haus nicht mehr finden konnten. Wer einmal für derartige übernatürliche Geschehnisse rund um den Suizid sensibel geworden ist, entdeckt immer wieder Erfahrungsberichte von Überlebenden eines Suizidversuches, die von wundersamen Dingen berichten können.12 Die menschlichen Pläne, sich selbst das Leben zu nehmen, wurden von einer höheren Macht durchkreuzt.

Die Erfahrung dunkler Mächte

Martin Luther wusste aus eigener Erfahrung, dass teuflische Mächte auf einen suizidgefährdeten Menschen wirken. Bis ins späte 18. Jh. war diese Vorstellung in Erklärungsmustern für den Suizid grundlegend.13 Durch die Erkenntnisse der modernen Psychologie und Psychiatrie wurde diese Anschauung zugunsten medizinischer Einsichten zurückgedrängt. Allerdings berichten auch heute noch hochgefährdete Menschen von Anfechtungen, Gottesdunkel und der Bedrohung wie von einer dämonischen Macht.14 So schreibt beispielsweise ein 15jähriger in seinem „Testament”: „Ich bin (war) vom Teufel oder einem der sonstigen, bösen Mächten besessen. […] Der Teufel zwang mich, Selbstmord zu begehen.“15

Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass es unzureichend ist, ausschließlich medizinische und psychologische Erklärungsmuster für suizidales Verhalten heranzuziehen, um dieses Phänomen zu verstehen. Bereits Jean Améry bekundete in seinem viel beachteten Essay über den Suizid: „Ich glaube in vollem Ernste daran, daß der Diskurs über den Freitod erst dort beginnt, wo die Psychologie endet.“16

 

Der Suizid als Tabu

Wer sich mit Suizid beschäftigt, stößt auf „etwas Mystisches“17 und muss erkennen, dass „Suizid wohl zu den widersprüchlichsten Phänomenen der Religions- und Geistesgeschichte gehört.“18 Dass der Suizid ein unbehagliches Thema ist, davon spürt man in unserer Gesellschaft etwas, weil er tabuisiert ist. Ein Tabu ist etwas, worüber man nicht spricht oder das man nicht tun darf, weil es gesellschaftlich verpönt ist.19 Da aber Tabus unhinterfragt, strikt und bedingungslos sind und so als soziale Norm unausgesprochen werden, sind sie auch jeder rationalen Begründung und Kritik entzogen. Diese säkularisierte Verstehensweise des Begriffs Tabu ist gegenwärtig grundlegend.20 Es ist begrüßenswert, dass die starke gesellschaftliche Tabuisierung des Suizids problematisiert und ihr entgegengewirkt wird, da die Hinterbliebenen oft unter den Folgen einer Tabuisierung und der daraus folgenden Stigmatisierung leiden.

Jedoch ist es erhellend, die religionswissenschaftliche Herkunft dieses Begriffes zu betrachten. Der Begriff Tabu stammt ursprünglich aus dem Polynesischen tapu (ta = „abgrenzen“, pu = grammatische Intensivierung) und bezeichnet dort „einen Komplex von Meidungsgeboten. Tabus verweisen auf Gegenstände, Lebewesen oder Handlungen, die wegen der damit verbundenen Gefahren gemieden werden sollen.“ Die Tabus werden damit begründet, dass diese „Phänomene […] über eine den Menschen überlegene schädliche Macht“ verfügen und „einer anderen ontologischen Sphäre als die Lebenswelt des Menschen“21 angehören. In vielen archaischen Kulturen gab und gibt es die Vorstellung, dass Dingen, Orten, Tieren, Pflanzen und Personen eine übernatürliche und unpersönliche Kraft innewohnt, die als Mana bezeichnet wurde. „Diese unbestimmte Macht wurde als geheimnisvoll, dynamisch und wirkmächtig und damit als übernatürlich und heilig erfahren. Die Menschen reagierten auf das Erlebnis dieser Macht ambivalent: Sofern sie das Mana als mächtig und hilfreich erlebten, verehrten sie es und beteten es an. Sofern sie es jedoch als unberechenbar und gefahrvoll empfanden, mieden sie es und suchten sich davor zu schützen. Die Meidung geschah mit Hilfe von Tabus, die im Wissen um die Unberechenbarkeit der heiligen Macht zur Distanz gegenüber einer Sache, Person oder Handlung aufforderten, um das eigene Leben und das der Gemeinschaft nicht in Gefahr zu bringen.“22

Wissenschaftler der Religionsgeschichte sahen in Tabubildungen die Anfänge der Moralbildung. Da diese Hypothesen aber nicht belegt werden konnten, verstanden Sozialanthropologen wie Émile Durkheim, Arnold van Gennep u.a. Tabus von ihrer gesellschaftlichen Funktion her, indem Tabus zur Stabilität einer Gemeinschaft beitragen würden. In der Psychoanalyse wie etwa durch Sigmund Freud wurden Tabus mit der Verdrängung begehrenswerter, jedoch verbotener Handlungen (z.B. Inzest oder das Töten von Totemtieren) schon in der Urgesellschaft erklärt. Problematisch dabei ist, dass sich in diesen Theorien der Tabu-Begriff seit dem ausgehendem 19. Jh. sehr weit von seiner ursprünglichen Herkunft entfernt hat.23 Mittlerweile ist das gegenwärtige gesellschaftliche Tabuverständnis nur noch in einer rein säkularisierten Version vorhanden. Jeglicher religiöser Bezug ist verloren gegangen.

Aus den Erfahrungsberichten von Suizidanten und ihren Angehörigen geht hervor, dass bei einem Suizid eine übernatürliche Macht ins Spiel kommt, deren sich ein Mensch nicht entsagen kann. Dabei wird diese Macht entweder als lebensrettend oder als in den Tod ziehend erfahren. Ethische Fragestellungen sind für Menschen, die in diesen Machtbereich des Heiligen geraten sind, nicht mehr von Belang. Mit Sören Kierkegaard ausgedrückt kann formuliert werden, dass das Ethische in dieser Situation suspendiert wird und der betroffene Einzelne im Gegensatz zur Allgemeinheit existiert.24 Das allgemein ethisch Anerkannte ist die Annahme, dass die übernatürliche Macht (in unserem Kulturkreis Gott genannt) keinen Suizid möchte, sondern das Leben eines Menschen. Aber ein Mensch kann im Einzelfall in den Machtbereich Gottes hineingezogen werden, in dem das ethische Gebot aufgehoben ist. Dort kann er sogar zur Hingabe seines Lebens aufgefordert und in den Suizid durch Gott selbst gerufen werden.

Ich kann hier nur die Hypothese des Suizids als Tabu im religionswissenschaftlichen Sinne aufstellen. Bei meinen Forschungsarbeiten25 mit Erfahrungsberichten von Suizidhinterbliebenen und ihren spirituellen Erlebnissen bin ich immer wieder auf die verdrängte Linie der Theologiegeschichte hinsichtlich der Einschätzung des Suizids als Hingabe des Lebens gestoßen. Mit diesem Artikel möchte ich diese für die betroffenen Menschen wichtige Sichtweise ins Licht rücken. Es erscheint mir lohnenswert in dieser Richtung weiterzudenken und zu forschen. Denn im Hinblick auf den assistierten Suizid wird eine strikte Bejahung oder Verneinung nicht weiterführen. Es wird immer wieder Ausnahmesituationen geben, in denen der betroffene Mensch wie der Richter Simson im Gespräch mit Gott selbst seinen Weg finden muss.

 

Anmerkungen

1 Vgl. Aebischer-Crettol, Eberhard: Seelsorge und Suizid, Bern und New York 2000, 82.

2 Vgl. Christ-Friedrich, Anna: Art. Suizid: II. Theologisch, in: TRE 32 (2001), 447, und dazu auch Barth, Karl: Die kirchliche Dogmatik: Dritter Band: Die Lehre von der Schöpfung, Vierter Teil, Zürich 1951, 470.

3 Vgl. Aebischer, a.a.O., 43ff, und Murr, Gert: Daseinsbruch – Brüchig-Sein – Angesehen-Sein: Anthropologische Aspekte der Seelsorge mit Menschen, die Angehörige durch Suizid verloren haben, Bd. 26 (Praktische Theologie und Kultur), Breisgau 2016, 79ff.

4 Vgl. Murr, a.a.O., 90.

5 Barth, a.a.O., 467f.

6 Vgl. Herbst, Michael: Beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2012, 452-463.

7 Vgl. Ri. 16,28-30.

8 Aebischer-Crettol, a.a.O., 430. Die Ergänzungen in den eckigen Klammern stammen von Aebischer-Crettol.

9 Vgl. ebd.

10 Vgl. Puryear, Anna: Stephen lebt! Mein Sohn Stephen: sein Leben, sein Suizid, sein Leben danach, Berlin 2007, in der Buchmitte, ohne Seite.

11 Vgl. Mailkontakt mit Stefanie Rösch vom 6. Juni 2022.

12 Vgl. z. B. die Sendung „Polizist überlebt Suizid” in der Reihe „ERF Mensch Gott”, abrufbar in der Mediathek von www.erf.de (Stand: 29. Juni 2022).

13 Vgl. Murr, a.a.O., 92.

14 Vgl. Seitz, Manfred: Weder Grabgeläute noch Leichenbegleitung. Vom Umgang der Kirche mit dem Suizid, in: Magazin für Psychotherapie und Seelsorge 2 (2010), 35.

15 Aebischer, a.a.O., 398.

16 Améry, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976, 22, zit. nach Murr, a.a.O., 37.

17 Mess, Anne Christina: Wenn ich das geahnt hätte. Suizid – Hilfen für Angehörige und Mitbetroffene, 2. überarb. Aufl., Moers 2009, 9.

18 Hoheisel, Karl: Art. Suizid: I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 32 (2001), 444.

19 Vgl. Dudenredaktion, Hrsg.: Duden. Das Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen Sprache, 4. neu bearb. Aufl., Mannheim u.a. 2007, 834.

20 Vgl. Art. Tabu, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Tabu (abgerufen am 6. Juli 2022).

21 Neu, Rainer: Art. Tabu, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2012 (abgerufen am 6. Juli 2022), 1.1.

22 Ebd, 1.2.

23 Vgl. ebd.

24 Vgl. Kierkegaard, Sören: Furcht und Zittern. Mit Erinnerungen an Kierkegaard von Hans Bröchner, Hamburg 20045, 57.

25 Vgl. Schmolke, Andrea: Trauer als Weg zur Versöhnung. Die Bedeutung der Spiritualität für Hinterbliebene nach einem Suizid. Ein Ratgeber für Pfarrer und Pfarrerinnen in der Gemeinde, Bd. 8 (Pastoral care and spiritual healing – Spiritualität interkulturell), Berlin und Münster 2019.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Dr. Andrea Schmolke, Jahrgang 1981, Studium der Evang. Theologie in Erlangen, Kiel und Oslo, während der Elternzeit (2012-2018) Promotion bei Prof. Dr. Traugott Roser (Münster) über die Bedeutung der Spiritualität für Hinterbliebene nach einem Suizid: "Trauer als Weg zur Versöhnung? (Münster 2019), seit 1.1.2019 im Gemeinde- und Schuldienst im Dekanat Münchberg der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.