Die Kirche inklusiv zu gestalten ist nichts, was die Kirche und ihre Diakonie neben anderem auch noch macht, sondern es ist ein Merkmal, das sie ausmacht. Von Beginn an galt es, die Freude an gelebter Gemeinschaft der Verschiedenen, aber auch die damit verbundenen Herausforderungen zu erleben. Der neu erstellte Orientierungsrahmen der EKD und der Diakonie in Deutschland, „Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln“, ist ein hilfreiches und praxisnahes Instrument, um mit gut machbaren Schritten inklusive Kirche zu bauen.

 

1. Inklusiv Kirche gestalten – eine Frage der Glaubwürdigkeit der Kommunikation des Evangeliums

Inklusion, also die Fähigkeit, mit der Vielfalt von Menschen proaktiv umzugehen und allen Menschen gleichberechtigte Teilhabe und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, macht „Kirche“ aus. Daher ist inklusiv Kirche zu gestalten nichts, was die Kirche und ihre Diakonie auch noch machen, sondern ist ein Merkmal, das sie ausmacht. Von Beginn an galt es, die Freude an gelebter Gemeinschaft der Verschiedenen, aber auch die damit verbundenen Herausforderungen zu erleben. Denn wenn schon vom Urchristentum an bis heute in einer christlichen Gemeinschaft Juden- und Heidenchristen, unfreie und privilegierte Menschen, Witwen, Witwer und Familien, Junge und Alte, Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungserfahrungen zusammen in der Nachfolge Jesu unterwegs sind, entstehen immer wieder neue und inspirierende Begegnungen.

Da die Gesellschaft in Deutschland immer vielfältiger wird, ist die Fähigkeit, inklusive Kirche1 zu gestalten, wichtig für die Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirche. Der neu erstellte Orientierungsrahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie in Deutschland (DD) „Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln“ ist ein hilfreiches und praxisnahes Instrument, um mit gut machbaren Schritten inklusive Kirche zu bauen. Er ist auf den Ebenen der Gemeinde, des Kirchenkreises, der Landeskirche sowie der EKD, der DD und diakonischer Werke anwendbar. Mit einem Aktionsplan kann es gelingen, mehr und vielleicht bisher nicht christlich orientierte Menschen in die Kommunikation des Evangeliums und die Freude an gelebter Gemeinschaft zu involvieren, die eigene kirchliche Einheit bzw. Organisation zu beleben und vielfältig und bewusster die aktive Teilhabe vieler anzustreben. Dabei können die vielen Menschen, die in Deutschland mit Behinderungen und anderen Ausgrenzungsrisiken leben, mit ihren für den Glauben an Gott wichtigen Erfahrungen und Potentialen, die Gemeinschaft der Glaubenden bereichern.

Dieser Beitrag zeigt auf, wie der Orientierungsrahmen „Aktionspläne inklusive Kirche2 aufgebaut ist, wie er genutzt werden kann, was er intendiert und wie er die anstehenden kirchlichen und diakonischen Reformen beflügelt.

Bereits die theologischen Reflexionen der Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“ (EKD 2014) vergegenwärtigen, wie weitreichend das soziale Rechts- und Leitprinzip Inklusion mit christlichen Überzeugungen übereinstimmt. Im Vorwort des Orientierungsrahmens erinnern die Ratsvorsitzende der EKD und der Präsident der DD daran, dass sich Gott oft nicht die Größten, Stärksten und Fittesten unter seinen Geschöpfen erwählt. „Sara zum Beispiel: die war schon uralt. Oder Mose: der war ein gesuchter Totschläger. Reden konnte er auch nicht gut. Nehmen wir Saul: der hatte Depressionen“3 usw.

Mit dem Bild des wandernden Gottesvolkes und dem offenen, flexiblen Zelt, das immer neu und an verschiedenen Orten der Gemeinschaft und ihrem Schutz dient, wird ein theologischer Anknüpfungspunkt gewählt, der zeigt: eine inklusive Kirche ist in Bewegung. Das Evangelium ereignet sich im Prozess inklusiver Kirche. Wo Menschen sich in der Kirche und durch sie als wahrgenommen und angenommen erfahren, sich mit ihren Gaben und Grenzen in die Kommunikation des Evangeliums einbringen und neu ein Reichtum an Gemeinschaftserfahrung in der Liebe Christi für alle entsteht, ist gelingende Inklusion ein Widerfahrnis der Gnade. Die Liebe Gottes wird in einer inklusiven Kirche immer wieder in aufspringender Freude erfahrbar. In der Erfahrung des Angenommensein scheint das Evangelium auf4.

Christian Grethlein (2012) zieht in seiner Praktischen Theologie eine enge Verbindungslinie zwischen Inklusion und der Kommunikation des Evangeliums als Proprium des christlichen Glaubens. In der Kommunikation des Evangeliums im Modus der Hilfe zum Leben beschäftigt sich die Diakonie und die Kirche mit gesellschaftlichen Exklusionsprozessen und verfolgt das Ziel, Teilhabe und Teilgabe zu ermöglichen. Die „Kommunikation des Evangeliums ist grundsätzlich und durchgehend für jeden Menschen offen“. Inklusion sei dem Evangelium inhärent. Insofern wird sie zu einem unverzichtbaren Maßstab, um die frohe Botschaft von Christus glaubwürdig zu kommunizieren5.

Weil das Evangelium auf alles Volk und alle Welt zielt (Mt. 28,19), gilt es, Gottes Geist Raum zu lassen, der in der Geistgemeinschaft der Kirche die Blicke und Perspektiven von und auf Menschen weitet6. Die dem Evangelium inhärente Inklusionsbewegung lässt uns Christi*innen darauf vertrauen, dass Jesus Christus heilsame Erfahrungen der Gottesnähe und des Angenommenseins aller ermöglicht. Die inclusio Dei ist die Voraussetzung der inclusio homini7.

 

2. Inklusive Kirche und Diakonie – ein Blick in die EKD und Diakonie Deutschland

Unsere Kirche und ihre Diakonie können in gelebter Nächstenliebe nicht aufhören, die Sorge für Menschen, die Hilfe brauchen oder in Gesellschaft und Kirche sozial ausgegrenzt werden, täglich ins diakonische Handeln zu übersetzen. Ein deutlich erkennbares Problem ist dabei die seit der Inneren Mission, der Professionalisierung der Hilfe zum Leben und der gesamten kirchlichen Arbeit weiter gestiegene Versäulung kirchlich-diakonischer Arbeitsfelder. Die auch mit den Leitsätzen der EKD (2021) „Hinaus ins Weite“ angeregte stärkere Sozialraumorientierung kirchlicher Arbeit (vgl. Hübner et al. 2021), kann nur Früchte tragen, wenn kirchliche Orte wie Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Bildungseinrichtungen, diakonische Dienste und Unternehmen um der Menschen und des Evangeliums willen intensiver und netzwerkartig zusammenarbeiten. Auch Menschen mit Behinderungserfahrungen können dann mit ihren Gaben, mit ihrem Glauben und ihren Ideen ihre Kirche und ihren Sozialraum mitgestalten. Oft entstehen neue „kirchliche Orte“ (Pohl-Patalong 2006), wenn in Begegnungen und Aktionen auch jenseits der Kirchenräume und Gemeindehäuser die Freude am Evangelium und an Teilhabe und Teilgabe aufleuchtet.

Wenn unsere Kirche sich vornimmt, inklusiver zu konzipieren und zu handeln und dazu neue Kontakte aufnimmt, gewinnt sie auch geübteren Umgang mit Vielfalt. Denn im weiten Inklusionsbegriff geht es nicht nur um Menschen mit Behinderungen. Unsere Kirche entwickelt in jedem kleinen Schritt hin zu inklusiverem kirchlichem Leben immer auch „Pluralitätsfähigkeit“. Vor dem Hintergrund der schnell noch bunter werdenden Gesellschaft ist das eine wichtige Komponente für Ausstrahlungskraft und missionarische Reichweite im Kontext der Missio Dei.

Allerdings ist die Entwicklung hin zu einer inklusiveren Kirche nicht nur Kommunikation des Evangeliums, sondern auch zugleich rechtliche Notwendigkeit. Daher ist „Inklusion“ in Diakonie und Kirche seit dem Beitritt Deutschlands zur UN-Behindertenrechtskonvention (2009) auch eine rechtlich verpflichtende Aufgabe.

Auch vor diesem Hintergrund publizierte der Rat der EKD 2014 die Grundsatzschrift zu Inklusion in Kirche und Gesellschaft „Es ist normal, verschieden zu sein“. Um kirchlich und diakonisch für Inklusion Verantwortlichen eine bundesweite Vernetzung und Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, organisierte das Kirchenamt der EKD 2018 eine erste Netzwerktagung Inklusion „Offen für alle? Anspruch und Realität einer inklusiven Kirche“ (EKD 2019). Denn in vielen diakonischen Unternehmen und in vielen Bereichen der verfassten Kirche waren Schritte hin zu einer inklusiven Kirche gegangen worden. 2018 beschloss die Synode der EKD, den Rat um eine Evaluation zu bitten, welche Entdeckungen seit Veröffentlichung seiner Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“ auf dem Weg zu einer inklusiven Kirche gemacht wurden, welche Hindernisse in den unterschiedlichen Handlungsfeldern von verfasster Kirche und Diakonie bei der Weiterentwicklung der Inklusion bestehen und mit welchen Maßnahmen und Instrumenten die Weiterentwicklung unserer Kirche zu einer inklusiven Kirche zukünftig intensiviert und unterstützt werden kann.

Daraufhin beschloss der Rat der EKD, einen Expert*innenbeirat Inklusive Kirche einzurichten, dessen namhafte Expert*innen in Inklusionsprozessen aller kirchlichen Ebenen um Rat gebeten werden können. Zugleich begleitet dieser Expert*innenbeirat die EKD-Prozesse der jährlichen „EKD-Fachforen Inklusive Kirche gestalten“, die stets offen sind für alle Interessierten. Zum anderen begleitete er die Erstellung des am 5. Oktober 2022 publizierten Orientierungsrahmens „Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln“ (EKD/DD 2022) der EKD und der DD. In der Arbeitsgruppe zur Erstellung des Orientierungsrahmes arbeiteten auch Mitglieder mit eigenen Behinderungserfahrungen mit und richteten sehr aktiv den Blick auf die aktuelle Gemeindearbeit in der Vielfalt ihrer Herausforderungen. Der Orientierungsrahmen soll für kirchengemeindliche Arbeit genauso hilfreich sein wie auf der Ebene der Landeskirchen sowie der EKD, der DD und ihrer Einrichtungen und Werke. Daher nimmt er in seinen Praxiselementen viele Felder kirchlichen Handelns auf. Er bietet einfach anzuwendende Checklisten und Umsetzungsmaßnahmen, mit denen in kleinen und schnell machbaren Schritten umfassende Transformationen zu einer inklusiven Kirche angegangen und von den kirchlichen Gremien auf allen Ebenen selbstdefiniert umgesetzt werden können. So kann je nach Situation vor Ort und kirchlich-diakonischer Ebene eine genaue Passung erzielt werden.

Die Kirche dabei als Netzwerk im Sozialraum zu sehen8 und zwischen evangelisch gestalteten Orten und Diensten zusammenzuarbeiten, gehört in den Veränderungsprozessen von Kirche nach den Lockdowns und den durch die Pandemie beschleunigten Abbrüchen zur Zukunftsentwicklung von Kirche. Hier noch stärker eine inklusive Perspektive mitzudenken, kann eine Bereicherung für viele Menschen und auch für die Kirche selber sein. Inklusiv zu arbeiten, ist allerorts meist ohne große Mühe in die sowieso anstehenden Veränderungen zu integrieren.

 

3. Den Orientierungsrahmen als Instrument kennen und nutzen

Der Orientierungsrahmen (OR) ist ein hilfreiches Instrument, (1) Veränderungs- bzw. Entwicklungsbedarfe zu ermitteln, (2) Changeprozesse zu gestalten und (3) Aktionspläne zu entwickeln. Seine Wirkung zielt auf alle Ebenen von Kirche und Diakonie. Vergleichbar mit staatlichen Aktionsplänen in Bund und Ländern möchte er alle Sozialräume und Gemeinden erreichen und einbeziehen.

Das erste Kapitel des OR klärt den gesellschaftlichen und kirchlich-diakonischen Auftrag. Es entfaltet die Hintergründe und Intentionen des OR (Kap. 1.1) und führt das Verständnis von Diversität und Inklusion aus (Kap. 1.2). Das Inklusionsverständnis entspricht dem UN- und UNESCO-Begriffsverständnis, wie es bereits 1994 eingeführt und durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK 2006) bekräftigt wurde. Auch wenn die UN-BRK das Recht auf Inklusion für die besonders benachteiligte Gruppe der Menschen mit Behinderungen konkretisiert, gilt es als Menschenrecht universal und unteilbar für alle. Auch der OR zur Erstellung von Aktionsplänen konkretisiert primär die barriere- und diskriminierungsfreie Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Er öffnet aber im Sinne eines weiten Inklusionsverständnisses den Blick für ganz unterschiedliche Dimensionen menschlicher Diversität. Dem trägt der Text in der durchgehenden Formulierung „Menschen mit Behinderungen und anderen Ausgrenzungsrisiken“ Rechnung. Denn Risiken exkludiert zu werden, sind alle Menschen ausgesetzt, wenn auch in erheblich unterschiedlichen Graden. Und diese variieren in Raum und Zeit, je nachdem wo und in welchen Lebenssituationen und -phasen sie sich gerade befinden.

Das zweite Kapitel des OR behandelt die oben ausgeführten theologischen Verbindlichkeiten und Visionen (Kap. 2.1) und die rechtlichen Verbindlichkeiten zur Inklusion in Kirche und Diakonie (Kap. 2.2). Beides, die rechtliche und die (kirchen-)politische Auftragslage strebt auf jeweils ihre Weise die notwendige Transformation zu einer inklusiven Gesellschaft an. Der OR bietet einen guten Überblick, welches überstaatliche und innerstaatliche Recht in welcher Form für die Kirche verbindlich ist. Die Umsetzung der verbindlichen Vorgaben hat Vorrang (P). Rechtliche Vorgaben, die aufgrund des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts im Ermessen der Kirche liegen (KE), bedürfen eigener kirchlicher Standards. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel betonte beim Online-Fachforum der EKD am 12.10.2022: „Ein Aktionsplan ist ein Qualitätsmerkmal. Wer einen solchen hat, ist auf der Höhe der Zeit.“ Die Qualität wird im OR u.a. gesichert, indem bei allen konkreten Umsetzungsmaßnahmen (Kap. 4) die Verbindlichkeit der Rechtsgrundlagen ausgewiesen werden (P = Pflicht; KE = im kirchlichen Ermessen; F = freiwillig).

„Ziel ist es, als Kirche glaubwürdig zu sein und hierzu den allgemein geltenden Mindeststandard zuverlässig und lückenlos zu sichern sowie über diesen noch hinauszugehen. Gerade auch in Zeiten, in denen erhöhter Spardruck und Konsolidierungszwang bestehen, sind diese Rechte sicherzustellen. So sorgen die kirchlichen Rechtsträger dafür, dass Einsparungen nicht zulasten von Menschen mit Behinderungen und anderen Ausgrenzungsrisiken gehen.“9 Inklusion ist keine Wohltätigkeit. Sie hat den Rang des Menschenrechts und Bundesrechts. Beim OR geht es somit nicht um das Ob, sondern vielmehr um das Wie der Umsetzung10. Die zu entwickelnden Aktionspläne Inklusion versuchen (u.a.), Gesetzeslücken zu schließen. Diese klaffen vor allem bei der Einstellung und Beschäftigung von Pfarrer*innen und anderen Mitarbeitenden mit Behinderungen und anderen Ausgrenzungsrisiken. Hier muss in den meisten Gliedkirchen Gleichbehandlung und Selbstbestimmung noch weiter geregelt und umgesetzt werden. Inklusionsbeauftragte sollten eingesetzt werden. Aufgaben, Befugnisse und Rechtsstellung der Schwerbehindertenvertretung sind zu klären. „Es gilt, den Missstand zu beheben, dass die kirchlichen Rechtsträger derzeit noch hinter dem geltenden Standard zurückbleiben.“11 Statt vollmundig inklusive Kirche zu verkünden, gilt es bescheiden Nachholbedarfe wahrzunehmen und zu erheben.

Das dritte Kapitel des OR bietet Anregungen zur Erstellung, Durchführung und Fortschreibung von Aktionsplänen. Die Empfehlungen für einen Entwicklungsprozess in acht Schritten sind Vorschläge, die aufgenommen und angepasst werden können. Jenseits der praktisch-theologischen und diakoniewissenschaftlichen Frage, wie eine gute inklusive Praxis in Kirche und Diakonie zu gewährleisten ist, bietet der Orientierungsrahmen ein kirchenpolitisches Instrument der partizipativen Steuerung im Sinne einer Governance12, die dem Priestertum aller Gläubigen und dem Selbstverständnis der Kirche als communio sanctorum entspricht.

Die Rechtsträger von Kirche und Diakonie können bereits auf begonnene Prozesse und unterschiedliche bewährte Instrumente zurückgreifen. Der OR hilft ihnen zu fragen, wie sie an diese Prozesse anknüpfen und mit bereits vorhandenen Instrumenten arbeiten können.

 

(1) Mit einem Aktionsplan beginnen:

Der Aufbruch, mit dem jeder Weg beginnt, ist entscheidend. (1.1) Ein Entschluss des zuständigen Gremiums, einen Aktionsplan Inklusion für die eigene Organisation zu erstellen, signalisiert Entschlossenheit! (1.2) Als Verantwortliche für die Umsetzung des Inklusionsprozesses können Akteur*innen bzw. Gremien auf Leitungs-, Fach- und Betroffenenebene in einer Arbeits- und Steuerungsgruppe eingesetzt werden, vergleichbar mit dem Interministeriellen Ausschuss zur Umsetzung des Nationalen Aktionsplans (NAP). Einzusetzen und einzubeziehen sind auch Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen (nach §§17f BGG). Betroffene bzw. Selbstvertreter*innen erhalten in ihrer Mitarbeit Unterstützung durch Assistenzleistungen. (1.3) Zusätzlich kann es sinnvoll sein, Kooperationspartner*innen zu ermitteln, um diese in die Veränderungsprozesse einzubinden, z.B. Netzwerke Inklusion, Behindertenvertretungen, Selbsthilfeeinrichtungen, Kirchenvertreter*innen für die Diakonie vice versa.

(2) Situation wahrnehmen:

Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Zielbestimmungen des Aktionsplans ist eine gute Bestandsaufnahme. Als Analyseinstrumente können neben den Checklisten und Umsetzungsmaßnahmen des OR (Kap. 4) auch die örtlichen Teilhabepläne und Indizes für Inklusion dienen.

(3) Austausch und Beteiligung organisieren:

Dieser partizipative Prozess von unten ermöglicht es, die ersten Bestandsanalysen und Umsetzungsvorschläge breit zu diskutiert und weiter zu entwickelt. (3.1) Betroffene bzw. Expert*innen in eigener Sache sind nach dem Grundsatz „Nicht über, sondern mit uns“ von Anfang an beteiligt. Der Inklusionsprozess profitiert von vielen Verbündeten, auch von denjenigen, die bislang von Kirche oder Diakonie wenig beachtet, verletzt oder enttäuscht wurden13, u.a. auch von der Perspektive der Disability Studies, einer „ebenerdigen Theologie“ (Bach 2006, 105-111) und einem inklusiven Theologisieren von Laien und Theolog*innen auf Augenhöhe. (3.2) Foren, Arenen und Gemeindeversammlungen bieten allen in barrierearmen Räumen sich vielstimmig einzubringen.

(4) Aktionsplan erarbeiten:

Die Erarbeitung des Aktionsplans wird so zu einem Gemeinschaftsprozess unterschiedlicher Akteur*innen, Gruppen und Foren. Konkrete Umsetzungsmaßnahmen werden in unterschiedlichen Handlungsfeldern nach den SMART Qualitätskriterien zusammengestellt (SPEZIFISCH, MESSBAR, AKTIVIEREND, REALISTISCH und TERMINIERT). „Es ist sinnvoll, in einer Zusammenschau zu dokumentieren, inwieweit einzelne Maßnahmen bereits umgesetzt werden bzw. noch umgesetzt werden müssen.“14

(5) Aktionsplan beschließen:

Die im Gesamtprozess erarbeiteten Umsetzungsmaßnahmen können von der Steuerungsgruppe in einer Qualitätskontrolle gesichtet und danach an die Verantwortlichen zur Beschlussfassung des Aktionsplans weitergeleitet werden.

(6) Den Aktionsplan anwenden:

Die konkreten Maßnahmen fristgerecht umsetzen, um den Plan dann in späteren Schritten (7+8) zu evaluieren und fortzuschreiben.

 

4. Übergreifende, vernetzende Maßnahmen

Das vierte Kapitel des OR schlägt in drei übergreifenden und in dreizehn am Nationalen Aktionsplan (NAP 2.0) orientierten Handlungsfeldern 112 Umsetzungsmaßnahmen vor, die nur in einer sinnvollen Auswahl aufgegriffen und nach Dringlichkeiten bearbeitet werden können. In allen Handlungsfeldern finden sich auch spezifische Ziele, Prüf- und Checklisten sowie anregende Praxisbeispiele und hilfreiche Materialien.

Drei übergreifende Handlungsfelder (Kap. 4.1) schlagen in (4.1.1) Verantwortung gestalten vier Maßnahmen vor, die den inklusiven Transformationsprozess insgesamt befördern können: Eine Dekade der Inklusion durchführen, ein Inklusionssiegel verleihen, regelmäßige Analysen und Berichterstattungen mit wissenschaftlicher Unterstützung durchführen und einen Fond für Inklusion einrichten. In Auswahl können sie bereits bei der ersten Beschlussfassung berücksichtigt werden.

Unter (4.1.2) Strukturen schaffen können Verantwortliche benannt und Gremien eingerichtet werden. Sie ermöglichen u.a. Vernetzung, Interessenvertretung und Steuerung. Bei der Entwicklung neuer Strukturen können Vernetzungen mit den oben genannten, oft unverbundenen Reformbemühungen, auch in ökumenischer Weite (DBK 2019) mitbedacht werden. Als wichtige Maßnahmen wird neben den bereits genannten Behinderungsbeauftragten und operativen Arbeits- und Steuerungsgruppen sowie eines vernetzenden Internetportals auch eine Delegiertenkonferenz Inklusion empfohlen:

„Die Organisation [X, insbesondere die EKD mit der Diakonie DD richtet eine „Delegiertenkonferenz Inklusion“ ein, in der z. B. „politische Behinderungsbeauftragte“, Selbstvertreter*innen, Arbeitgeberbeauftragte für Inklusion, Vertrauenspersonen (Schwerbehindertenvertretung), Expert*innen sowie Fachreferent*innen vertreten sind.“15.

Wie bei allen Umsetzungsmaßnahmen wird bei der Ausformulierung dieser Maßnahmen im Aktionsplan die Organisation [X], die federführende Stelle [S], der Zeitraum [Z] für Bestandsaufnahme und Implementierung und die konkrete Finanzierung [F] genannt.

Das dritte übergreifende Handlungsfeld Geistliches Leben (4.1.3) durchdringt als Triebfeder alle folgenden Handlungsfelder (Kap. 4.2). Dies macht deutlich, dass die Kommunikation des Evangeliums bzw. „was Christum treibet“ diesen inklusiven Prozess der Einbeziehung bestimmen möchte und weit über verpflichtende rechtliche Maßnahmen hinausgeht16.

 

5. Wer aufbricht, kann hoffen: Blick zum Horizont

Als wanderndes Gottesvolk unterwegs zu sein und in Umbruchszeiten neu aufzubrechen, steht unter dem guten Vorzeichen, dass Gott über alle Grenzen hinweg in seiner Schöpfung und Kirche aktiv dabei ist. Der OR eröffnet Chancen für die Zukunftsentwicklung von Kirche und Diakonie im Horizont ihres christlichen Auftrags. Als ein strategisches Instrument bietet er eine umfassende Orientierung, um verpflichtende Rechtsvorgaben der Inklusion umzusetzen, aktuelle Missstände zu beheben und Reich Gottes zu gestalten. Inklusion als soziale Einbeziehung kann unterschiedliche Reformbestrebungen auf dem Weg zu einem integralen Kirchenmodell der Vernetzung17 miteinander verknüpfen, Kirche und Diakonie zusammenführen und kirchliche Arbeit glaubwürdig und sozialräumlich mit und für Menschen in ihrer Vielfalt gestalten.

Der OR kommt im Herbst 2022 bei seinen Adressat*innen an. Er ist jedoch kein Instrument, das einfach technisch umgesetzt werden kann, um seine Wirksamkeit zu entfalten. Die Dynamik des Heiligen Geistes wird nötig sein, damit das Anliegen des OR ankommt und sich Veränderungsresistenzen in mehr Experimentierlust wandeln. Denn Jesu Wege mit und für die Menschen gewannen und gewinnen ihre lebensverändernde Dynamik, weil sich Jesus ohne Berührungsängste und mit offenen Sonnen und Herzen gerade auch den oft Ausgegrenzten öffnete.

Ohne Berührungsängste dem inklusiven Weg Jesu zu folgen, der bis in die Tiefen der Ausgrenzung und Verletzbarkeit hinabführte und am absoluten Endpunkt neu begann, das ist und bleibt der Grund christlicher Hoffnung und Freude, auch in der diakonischen Kirche der Zukunft.

 

Literatur

Bohne, Eva: Was für ein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen. Einblicke in unsere jüngere Zeitgeschichte. Berlin/München: Novum Verlag 2017

Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz: Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006

DBK (Deutsche Bischofskonferenz) (Hg.): Leben und Glauben gemeinsam gestalten. Kirchliche Pastoral im Zusammenwirken von Menschen mit und ohne Behinderungen. Eine Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz (= Arbeitshilfen Nr. 308), September 2019

EKD (Hg.): Hinaus ins Weite – Kirche auf gutem Grund: Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche. Beschluss der 12. EKD-Synode vom 09.11.2020. Hannover 2021

EKD (Rat der EKD) (Hg.): Es ist normal, verschieden zu sein: Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. Online: https://www.ekd.de/orientierungshilfe_inklusion2015.htm

EKD/DD (Evangelische Kirche in Deutschland/Diakonie Deutschland) (Hg.): Inklusion gestalten – Aktionspläne entwickeln. Ein Orientierungsrahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Diakonie Deutschland. Hannover 2022

EKD/Kirchenamt – Bildungsabteilung/Inklusion (Hg.): Offen für alle? Anspruch und Realität einer inklusiven Kirche. EKD-Netzwerktagung Inklusion 2018. Barrierefreie Dokumentation, Sonderausgabe, Hannover 2019

Grethlein, Christian: Praktische Theologie. Berlin/Boston: De Gruyter 2012

Hübner, Ingolf/Keller, Sonja/Merle, Kristin/Merle, Steffen/Moos, Thorsten/Zarnow, Christopher (Hg.): Religion im Sozialraum. Sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven. Tagungsband zum Kongress WIR&HIER. Gemeinsam Lebensräume gestalten. Kongress 2021. In: www.wirundhier-kongress.de

Liedke, Ulf: Inklusion in theologischer Perspektive. In: Kunz, Ralph/Liedke, Ulf (Hg.): Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 31-52

NAP 2.0: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Berlin 2016

Pohl-Patalong, Uta: Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten: Ein Zukunftsmodell von Kirche. 2., überarb. u. erw. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006

Rackles, Mark: Inklusive Bildung in Deutschland: Beharrungskräfte der Exklusion und notwendige Transformationsimpulse. Policy Paper 07/2021, Mark Rackles Consulting: Berlin. In: https://rackles.com/?p=215

Schramm, Steffen: Kirche als Organisation gestalten. Kybernetische Analysen und Konzepte zu Struktur und Leitung evangelischer Landeskirchen, Teilbände 1+2, Berlin/Münster: LIT 2015

UN-BRK 2006: Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: Die Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein. Stand November 2018, PDF: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf

 

Anmerkungen

1 „Kirche“ wird in diesem Beitrag als Kirche für alles Volk verstanden, die in vielen unterschiedlichen Strukturen diakonische Arbeit, Bildungsarbeit, Gemeindearbeit, Jugendarbeit, Familienarbeit, Friedensarbeit usw. gestaltet. Das Verbindende ist das gemeinsame Mandat der Kommunikation des Evangeliums in den Modi Lehren und Lernen, gemeinschaftlich feiern und Hilfe zum Leben geben (Grethlein 2012, 253ff). Die rechtlichen Organisationsformen können sehr unterschiedlich sein.

2 EKD/DD 2022.

3 EKD/ DD 2022, 5.

4 Vgl. den Vortrag von Ralph Kunz auf dem EKD Fachforum „Inklusive Kirche gestalten“ 30.-31.05.2022 in Berlin-Schwanenwerder.

5 Grethlein 2022, 494; vgl. auch 275, 326 und 429.

6 Vgl. Schramm 2015, 499, 511 und 536 in seiner umfassenden Arbeit zur kybernetischen Analyse und zukunftsfähigen Netzwerkstruktur der Organisation Kirche.

7 Vgl. Liedke 2013.

8 Siehe Hübner et al. 2021.

9 EKD/DD 2022, 24.

10 Siehe Rackles 2021, 11.

11 EKD/DD 2022, 25.

12 Vgl. Rackles 2021, 11

13 Vgl. Bohne 2017.

14 EKD/DD 2022,23.

15 EKD/DD 2022, 39.

16 Siehe den folgenden Beitrag (Galle/Kremer) in dieser Ausgabe.

17 Vgl. Schramm 2015, 503ff.

 

Über die Autorin / den Autor:

PD Pfarrer Dr. Wolfhard Schweiker, Jahrgang 1963, Pfarrer und Diplom-Sonderpädagoge, 2001 Promotion rer. soc., u.a. bei K.E. Nipkow zu Deutung und Krisenbegleitung nach Diagnose Down-Syndrom, 2016 Habilitation bei F. Schweitzer an der ­Universität Tübingen zur Inklusion aus religionspädagogischer Perspektive, seit 2002 Dozent am Päd.-Theol. Zentrum Stuttgart, 2020-2022 Vorsitzender der EKD Arbeitsgruppe zur Erstellung des Orientierungsrahmens Inklusion.

Oberkirchenrätin Dr. Birgit Sendler-Koschel, Jahrgang 1961, 1992-2003 Pfarrerin in Hausen o.V. und Backnang, 2003-2011 Schuldekanin in den Kirchenbezirken Backnang und Marbach, seit 2011 Leiterin der Bildungsabteilung des Kirchenamts der EKD.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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