Leipzig, 26.9.2022. In seinem Vorstandsbericht vor der Mitgliederversammlung des Verbandes evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V. am 26.9.2022 in Leipzig stellte der Vorsitzende des Verbandes, Pfarrer Andreas Kahnt (Westerstede), die Situation des pfarramtlichen Dienstes angesichts des Krieges in der Ukraine und der Corona-Pandemie sowie den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Kirche in den Vordergrund.

Kahnt stellte fest, dass aufgrund der Corona-Pandemie regional und teilweise von Gemeinde zu Gemeinde, auch in Schulen, in Einrichtungen und Werken erhebliche Unterschiede in den Arbeitsbedingungen zu beobachten seien. „Während hier mit Maske und ohne Gesang Gottesdienst gefeiert wird, gibt es nebenan kaum sichtbare Einschränkungen,“ so Kahnt. Indem die Entscheidungen dazu in die Hände der vor Ort Verantwortlichen gelegt werden, würden die örtlichen Gegebenheiten ernst genommen. Dabei liege es auf der Hand, dass Pfarrerinnen und Pfarrer in ihren verschiedenen Aufgabenbereichen in Konflikt mit Erwartung und Wirklichkeit geraten würden: „Nicht alle sind gleichermaßen gesund, viele müssen auf Familie und Angehörige Rücksicht nehmen, Fragen rund um Post- oder Long-Covid sind noch immer nicht abschließend erforscht und als Krankheit anerkannt, und nicht alle Kirchen gehen gleichermaßen offensiv mit Infektionen um, die im Dienst erlitten wurden. Auch die Auseinandersetzung mit den teils staatlich verordneten, teils selbst auferlegten Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 in den Bereichen Gottesdienst und Seelsorge steht noch aus“, so Kahnt vor der Versammlung.

Von vielen Maßnahmen sei zudem das berufliche Selbstverständnis von Pfarrerinnen und Pfarrern betroffen. Dazu gehöre unter anderem die Frage, inwieweit die Anstrengungen, Menschen an die Kirche zu binden, fruchten würden. Das gelte nicht zuletzt für die vielen kreativen Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entwickelt wurden, zumal im Internet. „Dass hier eine Chance für die Zukunft liegt, Mitglieder an die Kirche zu binden oder neu zu gewinnen, die Anstrengungen also dauerhafte missionarische Kraft entfalten, ist zu wünschen“, betonte Kahnt vor den Delegierten. Er zeigte sich erfreut, dass die öffentliche Wirksamkeit der kirchlichen Angebote „teils enorm“ gewesen sei. Daran lasse sich anknüpfen, und „die Kirchen sind gut beraten, die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen dafür bereitzustellen“. Kahnt bilanzierte: „Pfarrerinnen und Pfarrer haben die sich ständig ändernden Bedingungen durch die Corona-Pandemie überwiegend schnell und konstruktiv angenommen.“

Krieg in der Ukraine: Aktiv in der Flüchtlingsbetreuung

Auch seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hätten sich die Pfarrerinnen und Pfarrer ein weiteres Mal als verantwortliche Berufsgruppe in Gemeinden, Einrichtungen und Werken bewährt. Als Flüchtende verstärkt ankamen, wurden Pfarrerinnen und Pfarrer in und mit ihren Gemeinden aktiv in der Aufnahme und Betreuung der Menschen, so Kahnt. Im Laufe der Monate erstreckte sich diese Hilfe auch auf andere Gebiete, in denen Flüchtende vorübergehend oder dauerhaft untergebracht wurden. Die Frage, ob im Zuge der Aufnahme von Flüchtenden aus der Ukraine im Vergleich zu solchen aus anderen Ländern mit zweierlei Maß gemessen wird, sei virulent, so Kahnt, habe aber die Bereitschaft zur Hilfe in der konkreten Situation nicht geschmälert. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer hätten bereits 2015 gemeinsam mit vielen ehrenamtlich Engagierten Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe gesammelt.

Krieg stellt Haltung der Kirche und mancher Pfarrerinnen und Pfarrer zum Frieden infrage / Forderung nach erneutem theologischen Nachdenken

Kahnt ging in seinem Bericht auf die Bedenken vieler Pfarrerinnen und Pfarrer gegenüber dem Krieg in der Ukraine als solchem und den Reaktionen der westlichen Staatengemeinschaft ein. Nicht zuletzt ältere Pfarrerinnen und Pfarrer seien „Kinder“ der Friedensbewegung, nicht wenige aufgrund des bedrohten Friedens im kalten Krieg zur Theologie und ins Pfarramt gekommen.

Nun scheint die Zeit martialischer Worte zurück, so Kahnt. „Was Reden, Berichte und Analysen zumeist vermissen ließen, drängte sich nicht nur, aber ganz bestimmt nicht zuletzt Pfarrerinnen und Pfarrern auf: dass Menschen in einem Krieg sterben. Der Krieg und die Folgen für die Menschen - ob Zivilisten oder Soldaten, ob Frau oder Mann, ob Greis oder Kind - mussten in Predigten, in der Seelsorge, im Unterricht und sonst in Gesprächen bedacht und benannt werden. Aus der persönlichen und theologisch geprägten Haltung zum Frieden und im Gedenken an das Leid und die Opfer der gewesenen Kriege musste alles darangesetzt werden, das neuerliche Sterben und den neuerlichen Schrecken über Generationen hinweg zu vermeiden“, resümierte Kahnt vor der Versammlung.

„Der Krieg in der Ukraine hat die Haltung der Kirche und mancher Pfarrerinnen und Pfarrer zum Frieden infrage gestellt. Die Weltordnung, in der es sich vermeintlich sicher leben und zum unbedingten Frieden bekennen ließ, hat sich verändert. Es geht nicht mehr um Fragen von Auf- oder Abrüstung oder von gegenseitiger Bedrohung, sondern um einen Angriffskrieg mitten in Europa“, sagte Kahnt. Die Voraussetzungen, unter denen die Friedensbewegung sich mit guten Gründen formierte, seien durch die bewusste Aggression Russlands gegen die Ukraine um Aspekte erweitert worden, die ein erneutes theologisches Nachdenken erfordern, so der Vorsitzende. „Nicht zuletzt die Haltung des Moskauer Patriarchen Kyrill, der den Angriffskrieg mit fragwürdigen theologischen Argumenten stützt und sich dabei nicht scheut, die Aggression als den unmittelbaren Willen Gottes zu bezeichnen, fordere ein klares Bekenntnis zu Frieden und Versöhnung zwischen Menschen und Völkern geradezu heraus“, unterstrich Kahnt.

Unlösbares Dilemma aushalten: Einerseits alles für den Frieden tun zu wollen, es aber ohne Waffen nicht zu können

Kahnt setzte sich auch mit Aspekten einer angemessenen Friedensethik auseinander. „Pazifismus oder doch zumindest der unbedingte Wille zum Frieden ist eine Haltung, die Christinnen und Christen entspricht und im persönlichen Tun und Lassen sichtbar wird. Für diese Haltung darf mit dem eigenen Beispiel geworben werden. Sie anderen aufzuerlegen, verbietet die Haltung selbst“. Das gelte umso mehr, wenn das Leben, die Identität und die Integrität von Menschen oder eines ganzen Volkes angegriffen werden, wie jetzt in der Ukraine, so Kahnt.

Der Ukraine in dieser Situation Gewaltfreiheit abzuverlangen, sei zynisch. „Das Land in jeder Hinsicht, auch mit Waffen, zu unterstützen, ist eine Frage, deren Beantwortung vor dem Hintergrund eigener Friedensethik äußerst komplex ist und in das Dilemma führt, einerseits alles für den Frieden tun zu wollen, es aber ohne Waffen nicht zu können“, sagte er. Dieses Dilemma lasse sich nicht lösen. Aber es lasset sich aushalten, indem am eigenen, unbedingten Willen zum Frieden und zum Pazifismus festgehalten, der Ukraine aber die Nothilfe nicht verweigert werde, sich gegen einen Angriff auf Menschenleben, nationale Identität und staatliche Integrität zu wehren, sagte der Vorsitzende.

Nothilfe sei hier nicht präventive Aufrüstung, um anderen zu drohen, sondern „Unterstützung zu rechtserhaltender Gewalt in einer konkreten Ausnahmesituation“. In einer solchen Situation dürfe der Pazifismus eine Ausnahme machen, ohne sich selbst zu verleugnen. „Nichts zu tun, wäre eine Haltung, die den Pazifismus zu einer Sache privilegierter Menschen machte, die das Glück haben, in einem Land zu leben, in dem seit über 70 Jahren Rechtsstaatlichkeit und die Abwesenheit von Krieg den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen“, unterstrich der Vorsitzende.

Weniger Christinnen und Christen in Deutschland

Angesichts der Tatsache, dass neuerdings die Zahl der einer der großen Kirchen angehörenden Christinnen und Christen in Deutschland unter die Marke von fünfzig Prozent gefallen ist, warb Kahnt dafür anzuerkennen, dass auch von einer Minderheit wesentliche Impulse in die Gesellschaft ausgehen können. Dies würde jedoch gute Arbeitsbedingungen voraussetzen: „Je schwerer die Kirchen ihren Mitarbeitenden und nicht zuletzt den Pfarrern und Pfarrerinnen die Arbeitsbedingungen gestalten, je weniger junge Menschen sich deshalb für den Pfarrberuf begeistern lassen, desto weniger Strahlkraft wird von ihnen ausgehen“.

Eine Kirche in der Minderheit werde zudem das Verhältnis von Kirche und Staat verändern. Niemand wisse, wie lange die Theologie ihren Stellenwert an den Universitäten werde bewahren können. Immer häufiger werde auch die Abschaffung der Staatsleistungen diskutiert. Diakonie und Caritas würden als Anbieter unter vielen wahrgenommen. Kirche sei in einigen Teilen des Landes eine unbekannte Größe ohne Relevanz für die Bevölkerung. Kahnt forderte die Pfarrerinnen und Pfarrer auf, sich dieser Situation zu stellen und ihr eigenes berufliches Selbstverständnis daran zu schärfen. „Auch wenn zunehmend die Person das Amt tragen muss, darf das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Stärken nicht das Vertrauen in Gott unterminieren. Und vielleicht kann die Sache auch mal so gesehen werden: Knapp fünfzig Prozent der Bevölkerung ist Mitglied einer der großen Kirchen? Das ist ja richtig viel!“ so Kahnt vor den Delegierten.

Sexualisierte Gewalt in den Kirchen

Zum Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt in den Kirchen der EKD begrüßt der Verbandsvorstand die Entscheidung, das Thema wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen und die Untersuchung nicht selbst durchzuführen, sondern in die Verantwortung von Instituten und Universitäten zu geben, so Kahnt. Zugleich verwies er darauf, „dass mit der Aufarbeitung die Verletzungen von sexualisierter Gewalt Betroffener nicht aus der Welt sind“.

An die eigene Berufsgruppe gewandt sagte Kahnt: „Auch Pfarrer und möglicherweise Pfarrerinnen haben sich sexualisierter Gewalt schuldig gemacht. Unter Ausnutzung von Abhängigkeit, Seelsorgesituationen oder psychischem Druck haben sie Grenzen überschritten, die für alle Menschen gelten, besonders aber für die, die sich beruflich der Nachfolge Jesu und der Predigt des Evangeliums verschrieben haben“. Die Überschreitung dieser Grenzen sei mit nichts zu entschuldigen, so der Vorsitzende. Die Erinnerung an erlittene Gewalt bleibe lebenslang. Das Eingeständnis von Schuld seitens der Täter könne aber helfen, dass Betroffene ins Recht gesetzt werden.

Jahrzehntelanges Schweigen von Kirche und Diakonie einziges Versagen / Auch Verband hat sich Thema nie gestellt

Das jahrzehntelange Schweigen von Kirche und Diakonie sei ein einziges Versagen, so der Vorsitzende in Leipzig. „Auch der Verband hat sich dem Thema wider besseres Wissen nie gestellt, allenfalls bei der Bewertung dienstrechtlicher Konsequenzen. Insofern hat der Verband die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in seiner Berufsgruppe nicht erkannt und die Not der Betroffenen nicht ernstgenommen“ beklagte Kahnt. Er unterstrich: „Auch wenn die Pfarrer und möglicherweise Pfarrerinnen, die sich sexualisierter Gewalt schuldig gemacht haben, nicht alle Mitglied eines Pfarrvereins waren, so ist doch in jedem Einzelfall unser Berufsstand betroffen. Dem dürfen sich Verband und Vereine nicht verschließen. Darum steht außer Frage, dass Fälle sexualisierter Gewalt vor Gericht gehören und disziplinarisch verfolgt werden“, so Kahnt. Es sei zudem wichtig, Sexualität in der Ausbildung und der Supervision zu thematisieren, sexuelle Vielfalt nicht auszublenden, vor allem aber für sexuelle Integrität sensibel zu machen, so der Vorsitzende.

(Christian Fischer, Pressesprecher)