Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Zum Artikel »Im Blut ist das Leben!« von Pfarrer M. Rau (DtPfrB1 102 [2002] 121ff) möchte ich wie folgt Stellung nehmen:

 

Der Artikel »Im Blut ist das Leben!« von M. Rau (DtPfrBl 102 [2002] 121ff) zeigt erfreulicherweise ein theologisches Interesse an den priesterlichen Texten im Alten Testament. Dies ist unter evangelischen Theologen seit Schleiermacher und Wellhausen nicht selbstverständlich und sei deswegen hier ausdrücklich gewürdigt.

Leider wird jedoch der Beitrag von Pfarrer Rau durch ungezählte methodische und sachliche Probleme getrübt. Aus den zahlreichen Missverständnissen und Fehlern kann ich im folgenden nur eine Auswahl hervorheben und zu klären suchen:

1. Die von Prof. Gese, Prof. Janowski und anderen Exegeten den Bibeltexten entnommene Sühntheologie hat nichts mit der Satisfaktionslehre von Anselm v. Canterbury zu tun. Dies wird allein anhand des Phänomens der »Strafe« deutlich: Für die Satisfaktionslehre ist dieser Rechtsterminus grundlegend. Im alttestamentlichen Hebräischen gibt es dagegen kein Wort, das dem Rechtsbegriff »Strafe« entspricht. Das wird auch nicht durch den deutsch-hebräischen Teil des Wörterbuches von W. Gesenius (17. Aufl., 1915) widerlegt: Die dort genannten elf Wörter sind viel mehr je in ihrem Kontext spezieller zu übersetzen (z.B. mit »Plage«). Das wird auch nicht durch die Diktion der revidierten Lutherbibel widerlegt: Sie setzt leider durch ihren unsachgemäßen Gebrauch des Wortes »Strafe« das Handeln Gottes im Alten Testament dem Verdacht der Willkür aus. Die o.g. Vertreter einer Sühntheologie verwenden den Terminus »Strafe« daher nicht. Vielmehr entnehmen sie die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Sünde und Unheil der biblischen Wirklichkeitsauffassung, wie sich besonders in weisheitlichen Texten zeigt.

2. Für Rau ist »Blut« etwas positives, ist das Leben bzw. »steht für Gott« selbst. Es bleibt aber dabei, dass Blut bei Mensch und Tier nur durch Gewalteinwirkung zu Tage tritt. Legitim ist diese Gewaltanwendung dem AT zufolge bei Menschen nie, bei Tieren bei der rituellen Schlachtung bedingt und nur im Opfer unbedingt. Das Getreideopfer begleitet die Tieropfer analog zum Brauch, zum Fleisch stets auch Brot zu genießen. Den Getreide- und Trankopfern kommt daher kein eigenständiger Stellenwert zu, wie Pfr. Rau es behauptet.

3. Rau nimmt für hebräisch kpr unter Verweis auf das Lexikon von Koehler-Baumgartner die Grundbedeutung »bedecken« an. Dieses Missverständnis hält sich beharrlich, weil in manchen deutschen Bibelübersetzungen der »Gnadenstuhl« zugleich als »Deckel« der Bundeslade verstanden wird. Pfarrer Rau hat jedoch bei Janowski die philologische Untersuchung von kpr übersehen (Sühne als Heilsgeschehen, WMANT 55, 2. Aufl. 2000 [1. Aufl. 1982], S. 15–102): kpr bedeutet in den altsemitischen Sprachen »wegwischen«! Die genaue Bedeutung von kpr im AT ist darüber hinaus der inneren Logik der priesterlichen Texte im Alten Testament zu entnehmen.

4. Daher ist das Sühnmahl (kapporæt) nicht einfach der Deckel »auf« der Lade, sondern ist laut Ex 25,21f »über« ihr anzubringen. Dieses »über« in einer aus theologischen Gründen nicht bestimmten Höhe drückt Ex 25,22 zufolge den Zweck des Sühnmahls aus: Gott will am Sühnmahl dem Vertreter Israels heiligend begegnen – und zwar in Verbindung mit der kultischen Sühnweihe. Das steht betont als theologisches Prinzip am Beginn der Baubeschreibung Ex 25ff und wird am Schluss in Ex 29,43ff wieder aufgenommen.

5. Rau interpretiert alle alttestamentlichen Opfer ohne literar- und religionsgeschichtliche Differenzierung als »Geschenke« (so auch Chr. Eberhardt, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament, WMANT 94, 2002). Das althebräische Wort für Geschenk, mattanah, wird jedoch in den priester(schrift)lichen Texten nicht verwendet (Ausnahmen: Ex 28,38 und Ez 46,16f). Der Grund: Aus priesterschriftlicher Sicht besaßen die vorpriesterlichen, insbesondere die deuteronomischen Opfer einen Gabecharakter (Ez 20,25f.31.39). Stadt und Tempel konnten 587 v.Chr. durch die Babylonier zerstört werden, obwohl im Tempel zu einem Zeitpunkt noch immer nach der Ordnung des Deuteronomiums Tieropfer gebracht worden sind, an dem das Volk längst überhaupt nichts mehr zu essen hatte. War damit nicht das deuteronomische Opferverständnis ad absurdum geführt? War nun im Exil nicht der Zeitpunkt gekommen, zu einem Opferverständnis zu finden, das das Totalgericht durch Jahwe im Sinne der vorexilischen Schriftpropheten als einzigen Weg zum Heil verinnerlicht bzw. ritualisiert? Wie besonders Janowski herausgestellt hat, betonen die exilischen und nachexilischen Opfertexte aus gutem Grunde die Sühnweihe ausdrücklich als eine ganz genau zu befolgende Stiftung durch Jahwe (z.B. Ex 24,15–18; 25,1–9 u.ö.). Nichts geht mehr (wie noch der Altarbau Noahs beim Jahwisten in Gen 8) vom Menschen aus, nichts erweckt mehr den Verdacht einer »versuchten Selbsterlösung des Menschen«: Pfr. Rau liefert sich dagegen mit seinem Opferverständnis als »Geschenk« nicht nur der Logik der priesterlichen Theologie im AT, sondern darüber hinaus den Messern der neuzeitlichen Religionskritik aus.

6. Auch bei der von Prof. Gese und Prof. Janowski konstatierten, von Pfarrer Rau aber zurückgewiesenen Todesverfallenheit des Menschen hat Rau den literar- bzw. traditionsgeschichtlichen Hintergrund nicht beachtet. Fragt man sich nach den Maßstäben für die Kritik der vorexilischen Schriftpropheten nicht auf der Ebene systematischer Spekulation, sondern mittels der Einzeluntersuchung aller Texte, so ist eines der dabei zutage tretenden Ergebnisse: Es werden nur selten grobe Verstöße gegen die Ordnung Jahwes kritisiert, sondern häufiger, dass der Einzelne die Intention der Ordnung Jahwes nicht versteht. Was sich in Amos 2 an Israel kritisiert findet, sind »Taktlosigkeiten« (W. Rudolph). »Lernet Guttun, suchet das Recht!« heißt es bei Jesaja (1,17). Wer diesem für Antike und Neuzeit gleichermaßen unerreichbaren Maßstab nicht genügt, verfällt dem Totalgericht Jahwes. Niedergeschlagen hat sich dies in hiskianischer Zeit in der pessimistischen Anthropologie des Jahwisten (Gen 6,5; 8,21). Die traditionsgeschichtliche Entwicklung ist aber dabei nicht stehengeblieben: Die priesterliche Sühnweihe impliziert die Identifikation des Einzelnen mit dem Leben des in den Tod gehenden Opfertieres. Nicht unabhängig davon kommt es in der exilischen Prophetie zur Ankündigung der Neuwerdung des Menschen, der ganzen Schöpfung und zur Erwartung der Ausgießung des Jahwegeistes auf dasjenige Israel, das das Gericht Jahwes angenommen hat (Jer 31; Ez 36f).

7. Für Rau ist die Bestimmung, nur versehentlich (bi?sgaga) begangene Sünden könnten gesühnt werden, ein Argument gegen die Plausibilität der von Gese und Janowski herausgearbeiteten Sühntheologie. Dabei übersieht Rau den Charakter dieses Rechtsprinzips: Daß eine Sünde »versehentlich« begangen worden sein soll, lässt sich im Einzelfall objektiv nicht nachweisen. Hier handelt es sich dagegen um eine Bestimmung hinsichtlich des subjektiven Standpunktes: Wer Reue zeigt, erfährt die Wirkung der Sühnweihe. Darüber hinaus ist entscheidend, dass die priesterschriftliche Sühne den ganzen Menschen heiligt, seine Existenz, und nicht nur einzelne Sünden.

8. Wenn Pfr. Rau meint, die Asylfunktion des Altars gegen dessen sakrosankte Funktion in den priesterlichen Texten ausspielen zu können, so vermischt er die nachexilischen mit den vorexilischen Verhältnissen. Die Erfahrung der Heiligkeit Jahwes in der Katastrophe von 587 v.Chr. muss für diejenigen, deren Stimme weiter überliefert worden ist, bedeutet haben, die Heiligkeit Jahwes theologisch und rituell so stark zu beachten, dass daraus das wichtigste theologische und liturgische Prinzip geworden ist. Daher durften nachexilisch nur noch die Priester das Innere des Tempels betreten. Wer aus dem Volk opfern wollte, brachte sein Tier an eines der Tore, um es den Leviten zu übergeben. Die alte Asylfunktion des Altars spielt daher in der nachexilischen Praxis für Laien keine Rolle mehr.

9. Entsprechend war man genötigt, die alten grundlegenden Opfergesetze nun nachexilisch in den Zusammenhang der Sühntheologie zu stellen. Was sich also in der Endgestalt von Lev 1–7 findet, ist nur bedingt als Quelle für die nachexilische Kultgeschichte heranziehbar. Der Zweck von Lev 1–7 (wie auch für Lev 16) ist vielmehr der einer elementaren Volksbelehrung. Hier liegt nicht esoterisches Priesterwissen vor, sondern das, was man sich in Priesterkreisen als »Konfirmandenwissen« für jedermann vorstellte. So weit weg von der Praxis kann das nicht gewesen sein. Noch heute beginnen m.W. die Schulanfänger im orthodoxen Judentum ihr Torastudium mit dem Auswendiglernen der Opfergesetze Lev 1ff.

10. Auch die Bestimmungen zum Großen Versöhnungstag in Lev 16 wollen daher keine umsetzbare liturgische Handlungsanweisung darstellen. Auch Pfr. Rau hat den o.g. Befürwortern einer Sühntheologie, zu denen auch Pfarrer Thomas Knöppler (Privatdozent für NT in München) hinzugetreten ist (Sühne im NT: [WMANT 88], 2001), den Vorwurf gemacht, es läge nirgends im AT der von ihnen postulierte Ritus vollständig dargestellt vor. Um eine Rekonstruktion kommt man allerdings angesichts der Tatsache, dass nur die für das Volk bestimmte priesterschriftliche Literatur im Kanon erhalten geblieben ist, nicht herum. Dass es seinerzeit wesentlich »mehr« gegeben haben muss, ist in den Quellen des antiken Judentums unübersehbar, insbesondere im Traktat Joma der Mischna.

11. Das auch von Rau beobachtete seltene Vorkommen kultischen Vokabulars in soteriologischen Texten des Neuen Testaments (das leider auch die revidierte Lutherbibel meidet, wo es im griechischen Text vorkommt, z.B. in Röm 3,25) bedeutet keineswegs, das NT habe den Tod nicht sühntheologisch gedeutet, wie aus neuerer Zeit Th. Knöppler dargelegt hat.

 

Prof. Dr. Thomas Pola

Univ. Dortmund, FB 14,

44221 Dortmund

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2002

1 Kommentar zu diesem Artikel
21.03.2013 Ein Kommentar von Frank Moritz-Jauk muss das sein, das man so miteinander umgeht? der artikel atmet einen überheblichen habitus der besserwisserei, der sich schon über die penetrante verwendung der akademischen titel erschließt. dabei kann er trotz aller polemik die von rau aufgezeigte fragestellung nicht konsequent erklären. zitat: Aus den zahlreichen Missverständnissen und Fehlern kann ich im folgenden nur eine Auswahl hervorheben und zu klären suchen: ich kann nur hoffen das ihnen und vorallem ihren studentinnen die pensionierung dies in zukunft erspart. frank moritz-jauk
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