Zwar nicht alle, aber doch viele reden von Spiritualität1. Jacques Delors sprach vor über 8 Jahren von der »spiritualité de l’Europe«, die zu entwickeln sei. Kirchenleute haben das damals gerne und sicher auch zurecht aufgenommen, um nach dem eigenen Beitrag zu fragen, um »Europa eine Seele« zu geben. Der französische Begriff spiritualité hat freilich neben einem religiösen Sinn auch einen allgemeinen. In großen französischen Wörterbüchern findet sich als erste Erklärung, noch vor der religiösen, eine solche, wonach spirituell etwas sei, was der Ordnung des esprit, im Unterschied zum Materiellen, zugehörig sei. Diese weite, z.T. durchaus säkulare Bedeutung von Spiritualität entwickelt sich langsam auch im Deutschen, auch wenn hier in aller Regel noch deutlich religiöse Konnotationen mitschwingen.

Spiritualität ist heute eines der Wörter, die alle irgendwie verstehen. Aber niemand weiß so recht, was sie bedeuten. Bei Begriffen, deren Gebrauch sich modisch ausgeweitet hat2, hilft der Rückgriff auf historische Definitionen wenig. Die Verwendung des Begriffs muss in seinem ganzen Umfang genau betrachtet werden. Die Bedeutung eines Begriffs ist bekanntlich sein Gebrauch in der Sprache. Ein Blick ins Internet kann den weiten und zugleich auch charakteristischen Gebrauch unseres Begriffs belegen. Die Suche nach der Verwendung des Begriffs Spiritualität kann zu den websites katholischer Orden und Universitätsinstitute aber auch mitten in die seichtesten Tiefen der Esoterik und zu den unterschiedlichsten Formen der Psychotherapie und alternativen Lebensberatung3 führen. Öffnet man im Internet etwa das einschlägige Portal sht-forum.de und klickt sich weiter zu »therapie & lebenshilfe«, so findet man unter den »Methoden« den Begriff Spiritualität mit Esoterik verbunden. Die unter Spiritualität/Esoterik angegebenen Bereiche nennen von Astrologie bis Tantra einen bunten Strauß beliebter Verfahren; zahlreiche psychologische Berater, Mediatorinnen bei Paartrennungen und auch ein Jesuitenpater, der in Beuron Exerzitien anbietet, stellen sich hier mit ihren unterschiedlichen Angeboten vor.

Charakteristisch für den »Sitz im Leben« des Begriffs Spiritualität ist die Tatsache, dass die Suchmaschine Yahoo – Deutschland Spirituelles nicht nur unter der Kategorie »Gesellschaft und Soziales > Religion« findet, sondern auch unter »Handel und Wirtschaft > Firmen > Religion«. Hier wird man einmal zu den vielen Versandhändlern »für Naturreligion, Schamanismus und spirituelle Ökologie« (Gaia – Versand), für »Magie- und Altarzubehör sowie Räucherwerk« usw. geführt, aber auch zu den noch zahlreicheren Instituten und Studienzentren, in denen irgendwie »Spirituelles« eine Rolle spielen soll. Als beliebige Beispiele dafür mögen etwa das »Oxalis – Institut – Seminare, Beratungen und Ausbildung zu Themen wie Bewusstseinserweiterung, Umwandlung und spirituellem Wachstum« dienen oder das »Forum für spirituelles Wachstum«. Wer über letzteres mehr wissen möchte, erfährt, dass es von den »Lichtkindern Walrabe und Erdentochter«, einer »therapeutischen Gemeinschaftspraxis – Heidelberg«, geleitet wird. »Wir möchten uns mit euch austauschen über unser spirituelles Wachstum und unsere spirituellen Erfahrungen. Dazu gehören auch Techniken, die uns dabei unterstützen, wie etwa Yoga und Meditation, Reiki und Energiearbeit. Hilfreiche Werkzeuge wie Astrologie und Tarot. Auch therapeutische Möglichkeiten, wie etwa Reinkarnationstherapie. Alles eben, was Ihr meint, was uns hilft uns mit unseren spirituellen Kraftquellen zu verbinden, sie zu nutzen und zu fördern.«

Die Präsentation in der Virtualität verrät natürlich nichts über die Größe einer Einrichtung mit einem irgendwie spirituellen Angebot in der Realität, aber sie zeigt Attraktivität und das weite Feld des Gebrauchs unseres Begriffs. Die Zeitschrift »Psychologie heute« behauptete schon im Heft 3/98, dass der Gesundheitsmarkt von morgen durch Selbstvorsorge einerseits und – so wörtlich – Spiritualität andererseits bestimmt werde. Amerikanische Buchtitel wie »Spirited walking«, The Tao of inner fitness oder »Diet for transzendance« würden diesen Trend genauso belegen wie Studien darüber, dass irgendwie religiöse Menschen gesünder seien.

Entdecke die Möglichkeiten

Mit dem Begriff »Spiritualität« kennzeichnen sich vor allem Angebote einer Szene, die die Förderung und Entwicklung des menschlichen Selbst mit allem betreiben, was anderes verspricht als Schulweisheit. Kräftig angestoßen durch die Transpersonale Psychologie eines Stanislav Grof meint Spirituelles nahezu jedes Berührt-, Bewegt- und Befördertsein von etwas Geistigem. Die Chiffre »spirituell« verheißt jenes unspezifische »Mehr«, an das ein Unbehagen am Alltag bei der Suche nach neuen Möglichkeiten anknüpfen kann.

Spiritualität bietet sich in den Anpreisungen der Psychoszene dabei als idealer Weg an, der nüchternen Rationalismus und Positivismus genauso vermeidet wie religiös-konfessionelle Standpunkte und Dogmen. Es ist ein Wort für die, die religiöse Praxis verloren oder vergessen haben und die ein Phantomschmerz plagt. Edith Zundel4 formuliert bezogen nicht nur auf die Transpersonale Psychologie, sondern das weite Feld psychotherapeutischer Lebenshilfe: »Darüber hinaus bezieht die transpersonale Psychologie die religiöse Dimension wieder ein, die in der säkularen Welt der Aufklärung weitgehend vernachlässigt wurde. … Es geht dabei nicht um Dogmen und Institutionen einer bestimmten Religionsform, auch nicht um Predigt und Überzeugung, sondern um eine Öffnung für spirituelle Erfahrung und deren Integration ins Leben«. Spiritualität signalisiert die Lichtseiten der Assoziationen des Religionsbegriffs und schließt alle denkbaren Schattenseiten aus. Der Spiritualitätsbegriff gibt die schöne Erlaubnis, mit gutem Gewissen eklektizistisch und synkretistisch zu sein oder in esoterischer Manier den einen gemeinsamen Grund aller Philosophien und Religionen in ein schönes Wort zu fassen.

Die Angebote für und die Suche nach Formen spiritueller Erfahrung sind also ausgewandert aus dem Bereich von Religionsgemeinschaften in einen profanen und doch nicht ganz profanen Bereich, in einen Bereich sakraler Säkularität, der seine Versprechen und Verheißungen besonderer, persönlichkeitsentwickelnder Erfahrungen mit dem Begriff »spirituell« kennzeichnet.

So weit der Begriff der Spiritualität auf dem Markt der Lebenshilfen verwendet wird, so sind doch zwei wesentliche Komponenten stets identifizierbar:

– die Andeutung eines »Mehr«. Wer spirituell oder Spiritualität sagt, vollzieht eine transzendierende Geste, ohne zugleich zu sagen, wohin diese Geste zeigt. In der Andeutung des Offenen, nicht Festgelegten liegt die weite Verwendungsmöglichkeit des Begriffs begründet;

– die Verheißung ganzheitlicher Erfüllung. Wer spirituell oder Spiritualität sagt, meint etwas, was die ganze Person erfüllt. Nicht nur Lehre, sondern Leben, nicht nur Kopf, sondern auch Bauch! Spiritualität bedeutet neue Kraft. In der Verheißung von neuen Möglichkeiten für das Ich liegt die Attraktivität des Begriffs.

Ein Kind der Individualisierung

Diese Andeutungen von Transzendenz und Erfüllung machen »Spiritualität« zum Zauberwort. Man könnte meinen, es sei also nicht der klar umrissene, verlockende Inhalt, der den Begriff attraktiv macht, sondern sein Charakter als Projektionsfläche für recht unterschiedliche Sehnsüchte und Bedürfnisse. Freilich ist gerade das Offene und auch in gewissem Sinne Hohle der attraktive Inhalt. Nur durch seine eigentümlich unspezifische Verwendung des Begriffs bedient er die Bedürfnisse nach dem anderen und nach dem Mehr. Nur so entspricht er auch dem modernen Ich, das auf der Suche und dem der Weg das Ziel ist. Spiritualität gibt eine Bewegung des Aufbruchs an, ohne ein anderes Ziel als Aufbruch und Offenheit zu nennen, der Hinweis auf Spiritualität öffnet ein Fenster, ohne eine bestimmte Aussicht zu versprechen.

Die gewachsene Bedeutung eines Begriffs wie Spiritualität auf dem Markt der Sinnanbieter kann man als Konsequenz des Individualisierungsprozesses der Moderne interpretieren. Die Erfahrung, die diesen begründet, lässt sich mit den Worten des Wandererlieds aus Schuberts Winterreise knapp auf die Formel bringen: »… muss selbst den Weg mir weisen in dieser Dunkelheit …« Angesichts des Verlusts selbstverständlich geltender Orientierungen und Vergewisserungen (»Dunkelheit«) müssen sich die einzelnen selbst »den Weg weisen« und suchen. Wo Tradition war, ist Option geworden; wo Vorgegebenes einengte und absicherte, muss man sich Aufgegebenem stellen.

Individualisierung5 vollzieht sich bekanntlich idealtypisch in einem dreistufigen Vorgang: 1. dem gewollten oder genötigten Auszug aus Traditionen und Bindungen, 2. der Erfahrung des damit einhergehenden Verlusts von Sicherheiten und Orientierungen sowie schließlich 3. einem gewählten oder genötigten Anschluss an Bindungskräfte unterschiedlichster Art.

Individualisierung bedeutet deswegen nicht nur Traditionsabbruch, sondern in gewissem Sinne auch Streben nach Traditionsanschluss. Spiritualität ist der Begriff, der das Bedürfnis nach Traditionsanschluss aufnimmt, ohne auf eine bestimmte Tradition festzulegen. Besondere Bedeutung gewinnt dabei das Erfahrungsorientierte des Begriffs. Wo Objektives Geltung verliert, wird Sicherheit bei dem subjektiven Empfinden gesucht. Das erklärt die Attraktivität von Fitness- und Joggingszene, aber auch von Musikszenen, insofern hier überall, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, das Ich sich selbst erleben kann. Vergewisserungssuche allein durch das eigene Erleben ist freilich dadurch gekennzeichnet, dass sie wenig nachhaltig ist. Damit ist schon ein Schatten angedeutet, der den offenen Spiritualitätsbegriff umgibt. Ein Weg, der selbst schon das Ziel ist, hat es schwer, nachhaltig zu orientieren und zu vergewissern.

Entwicklung oder Beziehung?

Die vielfältige Verwendung des Begriffs Spiritualität können Theologie und Kirchen einerseits freuen. Sie bietet durchaus einen Anknüpfungspunkt. Sie fordert aber auch zu einer intellektuell klärenden und seelsorgerlich behutsamen Unterscheidung der Spiritualitäten heraus.

Mit der Arbeit, den heute gängigen Spiritualitätsbegriff zu differenzieren, ist die Theologie nicht allein beschäftigt. Psychologische und medizinische Verbraucherberatung im Dschungel der Psychoszene publiziert über Wege und Irrwege der Spiritualität. Der Zürcher Psychiater Christian Scharfetter will die gesunden Wege zur Spiritualität von Transpersonaler Psychologie, Esoterik und Okkultismus deutlich unterscheiden. Er wendet sich besonders gegen das sehr häufige Verschwimmen der Begriffe transpersonal und spirituell in der Psychoszene. Dadurch nähert er sich selbst einer eher mystischen Definition von Spiritualität6: »Spiritualität meint eine ganz besondere religiöse Lebenseinstellung, die sich auf das All-Eine, das umgreifende eine Sein bezieht«.

Ganz anders differenziert der Religionswissenschaftler Joachim Süß zwischen einer »anthropozentrischen« und einer »autoritativen Spiritualität«7. Erstere sei eine solche, in der es um das Wachsen, die Selbsttranszendenz des Menschen gehe. Über den status quo hinaus zu kommen, laute ihre Verheißung und sei ihr Ziel. In der autoritativen, heteronomen Spiritualität bleibe der Mensch, wie es dem unfreundlichen Begriff entspricht, nach Süß befangen in der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Abhängigkeit von ihm vorgegebenen Größen einer Kirche oder einer religiösen Tradition.

Diese Differenzierungen im Gebrauch des Spiritualitätsbegriffs geben wichtige Hinweise. Nicht überall, wo Spiritualität draufsteht, ist Spiritualität drin; manches, was nicht Spiritualität heißt, ist dennoch spirituell. Und nicht immer ist heilsam und gut, was sich spirituell nennt. Auch der Versuch, den Spiritualitätsbegriff eher formal zu differenzieren ist durchaus sinnvoll. Freilich erscheinen die Begriffe, die Süß verwendet tendenziös. Sie verraten sofort, welche Spiritualität die »gute« und die »böse« ist.

Ich schlage vor, bei der Verwendung des Begriffs Spiritualität zu prüfen, ob der Begriff eher als »entwicklungsorientiert« oder als »beziehungsorientiert« zu beschreiben ist. In diesem Sinn kann dann zwischen einer Spiritualität, bei der die Entwicklung einer Person den Akzent trägt, und einer, bei der es primär um den Eintritt in eine Beziehung geht, differenziert werden.

Die Verwendungen des Spiritualitätsbegriffs in der Psychoszene lassen sich in aller Regel als »entwicklungsorientiert« charakterisieren. Das Ich, die Person – hier wird in aller Regel nicht differenziert – soll sich verändern, soll wachsen, sich transformieren. Die jeweiligen Transzendenzvorstellungen sind inhaltlich eher beliebig, weil die Entwicklung des Ich das Wichtige ist.

Entwicklungsspiritualität kann zwei Nebenwirkungen haben, die die Kehrseite ihres offenen und unbestimmten Charakters sind:

a) Sie kann mit einem Menschenbild verbunden sein, das den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt eines Kosmos aus Dingen und Personen stellt, die er aufnimmt und aufnehmen soll. Dieses Menschenbild oder Selbstverständnis nimmt andere Dinge und Personen v.a. als Ressource für das Wachstum des Ich wahr. Entwicklungsspiritualität anerkennt dann das Du nicht als sinnvollen Widerstand und heilsame Grenze, sondern sozusagen nur als potentielle Kolonie für das Wachsen des Ich. D.h. bei Entwicklungsspiritualität ist besonders auf soziale und ethische Nebenwirkungen zu achten. Selbstüberschätzung und Verlust des Realitätskontaktes können die problematischen Folgen sein.

b) Spiritualität gibt es nicht, ohne dass sie geübt wird. Entwicklungsspiritualität kann dabei aber zu neuartigen und sehr subtilen Formen von Stress führen; sie ist Abbild einer Leistungsgesellschaft. Wenn die Entwicklung und Selbsttranszendenz nicht gelingt, muss sich das Ich ein Ungenügen vorwerfen oder vorwerfen lassen. Das gibt den Anbietern der Psychoszene eine geheime Macht über ihre Klienten. Da Entwicklungsspiritualität kein Gegenüber und keine Grenze kennt, kennt sie auch keine Gnade.

Vor allem aber ist kritisch zu fragen, ob die Entwicklungsspiritualitäten auf dem Markt wirklich ihre Versprechen und Verheißungen erfüllen können, zu mehr Gewissheit und Orientierung zu führen. Mit der Frage, ob die erlebnisorientierten religiösen Angebote auf dem Markt die Funktionen von Religion wirklich nachhaltig erfüllen können, hat sich der Soziologe Carsten Wippermann8 eingehend beschäftigt. Er diagnostiziert zwei Schwächen der Erlebnisreligiosität:

a) Er hebt hervor, dass die Pluralisierung und Erlebnisorientierung auf dem sog. religiösen Markt der Funktionalität von Weltanschauungen und Religiösem eher hinderlich sind. Ihre Pluralität erweist sich als Problem. Durch ihre Vielfalt relativieren sie sich gegenseitig. »Die durch den Markt der Religion (und Ersatzreligion) verstärkte Unübersichtlichkeit erzeugt … zunehmend synkretistische Weltanschauungskonstrukte, die für die praktische Lebensführung deshalb unerheblich sind, weil der Einzelne die weltanschaulichen Komponenten nicht mehr in ein konsistentes Ganzes integrieren kann« (S. 369). Vergewisserungs- und Orientierungsleistungen können sie deswegen nicht nachhaltig erbringen. Der religiöse Markt bedient zwar religiöse Bedürfnisse, erschwert aber zugleich durch die Offenheit oder Profillosigkeit seiner Produkte, dass Religiöses für Identität und Lebensführung relevant wird. Wippermann stellt in seiner empirischen Studie fest, dass nicht etwa bei den Subjektivisten, sondern vornehmlich bei den Anhängern der christlichen Weltanschauung (sie sind nicht mit Kirchenmitgliedern identisch!) eine Bedeutung der Weltanschauung für Identität und Lebensführung festzustellen ist.

b) Damit Spiritualität und Weltanschauungen wirksam für die Bewältigung von Sinnkrisen und die ethische Orientierung bleiben, braucht es Reflexion über Religiöses. Kritische Reflexion über Religion macht Religiöses bewusst und verhilft dazu, begründete und unbegründete religiöse Ansprüche zu unterscheiden. Gerade auch die neue Spiritualität auf dem Markt muss in die Reflexion über Religiöses einbezogen werden. Die Voraussetzung solcher Reflexion sind Lebensräume, in denen die Religion lebendig ist und in denen Kommunikation über religiöse Orientierungen möglich ist. Der Soziologe betont: »Nur in Kommunikationen, in denen der Einzelne die Grundlagen seiner Lebenswelt und die existenziellen Fragen zu thematisieren bereit ist (und es ihm erlaubt ist), kann es gelingen, die Weltanschauungsfragmente auf logische Konsistenz zu prüfen und ihre Alltagstauglichkeit abzuschätzen« (S. 373). Nicht allein Erlebnis und Erfahrung, sondern Dialog und kritischer Diskurs sichern die Lebendigkeit und die Tragfähigkeit von Spiritualität.

Wenn Spiritualität nur beliebige Etappen und kein wirkliches Ziel bietet, gibt sie keinen Halt und keine Gewissheit. Wo der Weg selbst zum Ziel wird, verläuft sich das Ich. Es ist auch für andere nicht fassbar und gewinnt keine Position. Spiritualität bedarf eines Zusammenhangs, indem sie geprüft wird und sich auch sprachlich vermittelt. Spiritualität bedarf, um ihre orientierende und vergewissernde Funktion zu erfüllen, also a) verbindlicher Inhalte und b) eines Raums, in dem sie sich kognitiver Reflexion aussetzt.

Die Diagnosen Wippermanns unterstreichen mit säkularen Argumenten die Notwendigkeit der Existenz von Gemeinde und Theologie für Spiritualität. Die VELKD hebt in ihrer wichtigen Studie »Traditionsaufbruch« deswegen zu Recht die spezifischen Bildungsleistungen protestantischer Tradition und Frömmigkeit für die Postmoderne hervor: sie verhindere die Auflösung des Ich in der Pluralität der

Optionen und vermittele jene Gewissheit, die zu autonomen Entscheidung in einer Multioptionsgesellschaft nötig ist.9

Äußeres Wort und innere Wirklichkeit

Biblisches Menschenbild lebt elementar von der Tatsache eines Gegenübers. Coram Deo dachten und erfuhren die Reformatoren den Menschen. Die Entdeckung der«promissio«, des »verbum externum« geschah bei Luther auf dem Hintergrund der Erfahrung der Gnadenlosigkeit einer historisch anderen »Entwicklungsspiritualität«10: Er entdeckte: Ohne das »äußere Wort« gibt es keine Gewissheit. Das Gegenüber, also die heilvolle Tatsache, dass es nicht nur die Selbstentwicklung des Menschen gibt, ist die elementare Bedingung dafür, dass es so etwas wie Rechtfertigung des Sünders, ja auch die Auferstehung der Toten gibt.

Der »Sitz im Leben« christlicher Beziehungsspiritualität ist gleichwohl nicht schon das Hören des Evangeliums, sondern die subjektive Reaktion darauf, also das Gebet als Antwort auf Gottes Wort. Grundmuster christlicher Spiritualität ist das Gebet, weil in ihm das göttliche Du angesprochen wird und das Ich sich vor Gott ausspricht. Es begreift und positioniert sich selbst und sein Tun und Denken im Gegenüber zu dem, was Gott tut und getan hat und tun wird. Das christliche Gebet ist immer mehr als Selbstreflexion, weil es zugleich Gott reflektiert. In ihm wird der dreieinige Gott –, der die Welt erschaffen hat und erhält, der die gefallene Welt in Christus versöhnt hat und dereinst erlösen und vollenden wird, – erinnert, also ins Innere gezogen: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir …« Wer christliche Spiritualität entwickeln will, wird das Gebet in all seinen Formen pflegen und seine Welt- und Menschensicht aus der Haltung und den Formen des Gebets entwickeln. Anrede und Erinnerung Gottes bilden das Lebenselixier in der Übung christlicher Spiritualität. Sie garantieren, dass spirituell Suchende nicht dem Stress einer unendlichen Selbsttranszendenz ausgesetzt werden, sondern an der Position Gottes ihre eigene Position finden. Die Anrede Gottes gibt Gewissheit. Sie begrenzt das Ich und gibt ihm eine Gestalt, die es bei den unendlichen und beliebigen Möglichkeiten der Entwicklungsspiritualität so nicht findet. Ohne Gegenüber, ohne konturiertes und konturierendes Du verschwimmt auch das Ich.

Entwicklungsspiritualität braucht dennoch nicht nur kritisiert zu werden. Sie hat im christlichen Glauben zunächst ihren Platz im Bereich der Tatsache, dass wir Geschöpfe sind, von Gott ausgestattet mit Gaben und Talenten, mit Leib und Seele, Gedanken und Phantasie, Gefühlen und Hoffnungen. Zum Geschöpfsein gehört als gute Gabe die Möglichkeit eines Wachsens, eines ständigen innerweltlichen Transzendierens.

Es gibt im Raum christlicher Frömmigkeit Formen, deren entwicklungsspiritueller Charakter durch Aspekte einer Beziehungsspiritualität transformiert werden kann. Zwei sollen genannt werden.

a) Vor allem Musik ist in der Gegenwart ein Medium individueller religiöser Suchbewegungen. Es gibt keine modernen religiösen Bewegungen, die sich nicht in musikalischer Gestalt zeigten. Bezieht man die Kirchenmusik auf den Individualisierungsprozess, auf Entwicklungs- und Beziehungsspiritualität, so werden Stärken und Leistungen von Kirchenmusik benennbar. Gegenüber musikalischen Formen empfindet das Subjekt eine größere Deutungsfreiheit als gegenüber rein sprachlichen. Kirchenmusik nimmt die Vergewisserungssuche durch das eigene Erleben also auf und gibt in ihren unterschiedlichen Formen ganzheitlichen spirituellen Bedürfnissen eine Gestalt. Sie überwindet aber zugleich die Unverbindlichkeit der Individualisierung und gewährt Anschluss an objektive Sinnpotentiale einer Tradition. Kirchenmusik hat also die Fähigkeit, die religiöse Individualisierung aufzunehmen und zugleich zu transzendieren, indem sie sie wieder an eine Tradition anschließt. Sie gibt der unbestimmten Suche eine – z.T. gewiss unbestimmte – Bestimmtheit. Ähnliches wäre im Bezug auf Kirchenräume zu sagen, die sprechen, ohne Suchende mit Worten zu erschlagen.

b) Meditative Texte oder Gebete in kreisend-betrachtender Form erfreuen sich in Andachten und Gottesdiensten in unserer Zeit einer großen Beliebtheit und Akzeptanz. Sie sind sprachlicher Ausdruck einer Suchbewegung, einer transzendierenden Geste, der wir auch Raum geben können. Lasse ich mich von ihr leiten, muss ich als Pfarrer und als Theologe wissen, was ich tue. Die reflektierend-meditative Sprache darf die anredende nicht verschlingen oder ersetzen. Das Gebet vielmehr kann der Ort sein, wo die Entwicklungsspiritualität in Beziehungsspiritualität umschlagen kann und soll oder wo sie sich in Beziehungsspiritualität verwandeln und weiterentwickeln kann. Dies geschieht dadurch, dass Gott und Jesus Christus als Bezugspunkte ausdrücklich genannt werden. Dabei ist klar: Gerade die Bestimmtheit des christlichen Redens weiß um den Unterschied von Glaubensaussage und Glaubensgrund. Sie ist daher offen für stete Kritik und Neuinterpretation von Glaubensaussagen. Als metaphorischer Sprache eignet ihr, wenn man so formulieren kann, keine Unbestimmtheit, sondern eine bestimmte Unbestimmtheit.

Die vagabundierende Entwicklungsspiritualität auf dem Markt der Esoterik- und Psychoszene ist scharf zu kritisieren und christliche Spiritualität deutlich von ihr zu unterscheiden. Dennoch gilt auch hier: Erst wer die Wahrheit im Irrtum erkennt, kann den Irrtum richtig bekämpfen. Die Wahrheit im Irrtum ist, dass Frömmigkeit einladend und lebendig sein soll. Das Gegenüber des Glaubens ist keine Zwangsjacke, sondern ein Haus, in dem man ankommen, eine Heimat und eine Form finden, aber auch immer wieder Neues entdecken kann und wird.

 

 

 

Anmerkungen:

 

1 Vgl. Werner Thiede, Alle reden von Spiritualität, MDEZW 12/97, S. 353ff.

2 Vgl. Karl Friedrich Wiggermann, Art. Spiritualität. TRE, Band 21, S. 708ff, Berlin 2000.

3 Informationsreich im Internet hier: www.sht-forum.de oder www.welt-der-Seminare.de.

4 Psychotherapie und Spiritualität, in: Handbuch für ganzheitliche Therapie und Lebenshilfe, Gschwend 1999, S. 14ff.

5 vgl. Michael Nüchtern, Kirche in Konkurrenz, Stuttgart 1997.

6 Der spirituelle Weg und seine Gefahren, Stuttgart 1998; ders., Spiritualität – Wege und Irrwege, Psychologie heute, Juni 1999, S. 20–26.

7 In: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, Heft 2, 1997, S. 71ff.

8 Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne, Opladen 1998.

9 Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewißheit, Freiheit und Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft, hrsg. Im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD von Dorothea Wendebourg und Reinhard Brandt, Hannover 2001.

10 Vgl. hierzu v.a. Oswald Bayer, Promissio, Göttingen 1971.

 

Über die Autorin / den Autor:

M. N. (1949), Dr. theol. Oberkirchenrat in Karlsruhe.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2002

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26.08.2015 Ein Kommentar von Rossellina Kudos! What a neat way of thniking about it.
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