Sühne

»Sühne«, so hat es den Anschein, ist ein Grundwort der Bibel. Die Konkordanz zur Lutherbibel verweist auf über 50 Stellen zu »Sühne«, »sühnen« und »Sühnung«. Von daher erscheint es folgerichtig, wenn Theologen der Gegenwart das Sühneopfer als zentralen biblischen Begriff und »Jesu stellvertretenden Sühnetod am Kreuz« als den Inhalt des Neuen Testaments schlechthin verstehen.

Ein zweiter Blick in die Luther-Konkordanz macht aber stutzig. Im Neuen Testament findet sich der Eintrag »Sühne« und »sühnen« nur je ein einziges Mal (Rö 3,25; Hebr 2,17). »Sühnopfer« kommt im Neuen Testament überhaupt nicht vor. Das im griechischen Text zugrundeliegende Wort hilaskesthai mit Verwandten kommt zwar im Neuen Testament achtmal vor, die Übersetzung als »sühnen/Sühne« hat sich aber für die Lutherbibel anscheinend nur in zwei Fällen nahegelegt. Eine recht schmale Basis für den angeblich zentralen Inhalt des christlichen Glaubens.

Die Vertreter der Sühnetheologie erschließen deren zentrale Bedeutung denn auch nicht aus dem Vorkommen des betreffenden Begriffs, sondern aus einem ganzen Wortfeld: Blut, Tod Jesu, Kreuz, Sünde, Versöhnung, für uns … Überall, wo eines dieser Worte auftaucht, soll die »Denk- und Erfahrungswelt des Sühnekultes«1 im Hintergrund stehen.

Doch woher wissen die Vertreter der Sühnetheologie um diese »Denk- und Erfahrungswelt«?

Das Sühnopfer nach H. Gese

Luther hat in seiner Bibelübersetzung das hebräische Wort kpr pi. mit »sühnen, Sühne schaffen« übersetzt.2 Kpr pi tritt konzentriert auf in den priesterschriftlichen Opfervorschriften Lev 1-17 und hat dabei seinen Ort oft in einem Ritus, bei dem meistens ein Opfertier geschlachtet wird. Luther übersetzt die betreffenden Riten: »Sündopfer«, »Brandopfer«, »Schuldopfer«. Aus diesen priesterlichen Opfertexten wird die »Denk- und Erfahrungswelt des Sühnekultes« erhoben.

Durch die Übersetzung von kpr pi. mit »Sühne schaffen«, die Verbindung mit dem Opfer und auf dem Hintergrund der Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury schien von vornherein klar zu sein, worum es in diesen Riten geht: Genugtuung, Vergeltung, Strafe für begangenes Unrecht - dadurch, dass ein Tier stellvertretend die Strafe auf sich nimmt, die eigentlich den Menschen treffen müsste. Durch den Tod eines Tieres wird die Schuld des Menschen gesühnt.

Hartmut Gese3 hat seinerzeit dieses Verständnis modifiziert und vertieft und damit eine neue Epoche in der Interpretation des priesterschriftlichen Kultes eingeleitet, auf die sich die moderne Sühnetheologie stützt. Für ihn ist der priesterschriftliche Ritus keine Straftötung. Vielmehr ist sein Zweck ein »Zu-Gott-Kommen durch das Todesgericht hindurch …«.4

Gese geht aus von einer »anthropologischen Grundsituation verwirkten Lebens«5. Ein Mensch, als der Sünder, der er ist, könne in unmittelbarer Nähe des heiligen Gottes nicht bestehen. Er sei von vornherein dem Todesgericht verfallen.

Doch weil Gott den Tod des Sünders nicht will, habe er den Sühnekult gestiftet. Durch Handaufstemmung identifiziere sich der Opferherr mit dem Opfertier, welches dadurch zu seinem Stellvertreter werde. Das Opfertier wird geschlachtet und sein Blut an den Altar geschüttet bzw. am großen Versöhnungstag ins Allerheiligste gesprengt. Durch die Bluthingabe des Opfertiers, so Gese, finde nun stellvertretend die Lebenshingabe des Opferherrn statt, der sich mit dem Tier identifiziert habe. Indem das Blut, das jetzt symbolisch den Opferherrn vertritt, den Altar berühre, komme er in Kontakt mit dem Heiligen und werde so ins Heilige eingebunden. So eröffne Gott dem sündigen Menschen, für den eigentlich jede Begegnung mit Gott tödlich enden müsse, in der zeichenhaften Sühne doch noch einen Weg zu sich hin - vermittelt durch das Blut des Opfertieres und dessen stellvertretende Lebenshingabe.6

Geses Konzeption ist von beeindruckender Geschlossenheit und wird von den Vertretern einer neutestamentlichen Sühnetheologie als sichere Grundlage vorausgesetzt.

Widersprüche

Wenn man sich jedoch den Wortlaut der priesterlichen Opfervorschriften in Lev 1-17 genau ansieht, melden sich Zweifel, ob die Sühnopfertheorie Geses wirklich auf diese Texte paßt.

Für Gese ist Sühne ein »Zu-Gott-Kommen durch das Todesgericht hindurch«7. Würden die Texte seine Auffassung teilen, wäre zu erwarten, dass sie den Tod des Opfertieres deutlich herausstellen.8 Das ist aber nicht der Fall. Es heißt nur: »Und er soll das Rind schlachten vor Jahwe« (sht, Lev 1,5; vgl. 1,11; 3,2.8 …).

Das hier im Hebräischen gebrauchte Wort sht hat keinen Bezug zum Vergehen vor der Heiligkeit Gottes (»Weh mir, ich vergehe!« Jes 6,5: dmh) oder gar zur Todesstrafe (mwt z.B. Ex 19,12; 21,12.15.16…), sondern ist schlichtweg terminus technicus für das Schlachten von Tieren.

Weiter fällt auf, dass das Schlachten keineswegs dem Priester vorbehalten ist. Der Priester schlachtet nur, wenn er für sich selbst ein Opfer bringt oder, am Großen Versöhnungstag, es stellvertretend fürs ganze Volk tut (Lev 4, 4; 16, 6.11.15). Im Normalfall schlachtet der, der für sich das Opfer hergebracht hat, in Geses Terminologie: der Opferherr (Lev 1, 5.11; 4, 15.24 u.ö.).

Das ist ein bedeutendes Detail! Für Gese ist ja der Kern des Sühnerituals, dass das Opfertier stellvertretend für den Sünder vor der Heiligkeit Gottes vergeht.9 Dazu würde es passen, wenn der Priester, als Stellvertreter Gottes, generell schlachten würde. Das tut er aber nicht. Wenn aber der Opferherr sein Opfertier selbst tötet, müsste es sich, denkt man Geses Theorie konsequent weiter, beim Sühneopfer um symbolischen Selbstmord handeln.

Das kann natürlich nicht sein. Dafür gibt es in der ganzen Bibel keinerlei Anhalt und daran denkt Gese auch nicht. Doch das zeigt, dass seine Theorie nicht wirklich auf die Texte passt.

Wenn diese Beobachtungen richtig sind, ist im priesterlichen Kult nicht das Vergehen des Sünders vor der Heiligkeit Gottes symbolisch vollzogen worden. Das Tier ist nicht als Stellvertreter des Sünders gestorben. Und der Blutritus hat nicht den Zugang zu Gott »durch das Todesgericht hindurch« vermittelt.

Gibt es eine »anthropologische Grundsituation verwirkten Lebens«?

Das führt zur nächsten Anfrage an die Sühnetheologie: Teilt die Bibel überhaupt die Auffassung, dass jeder Sünder dem »Todesgericht« verfallen sei?

Dass jemand sein Leben verwirkt, kommt natürlich vor: »Wer einen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben« (Lev 24,17)10. Aber das Leben ist nicht von vornherein verwirkt infolge einer verhängnisvollen Grund-Situation, sondern wird verwirkt aufgrund einer genau beschriebenen Tat, die der eine tut, der andere aber nicht. Und hier ist bemerkenswert, dass derart verwirktes Leben nach Ansicht der Priesterschrift gerade nicht durch einen Ritus im Tempel gerettet werden kann.

Außerhalb der Priesterschrift gibt es jedoch bei unabsichtlichem Totschlag doch eine Möglichkeit zur Rettung verwirkten Lebens: Der Totschläger kann zum Altar fliehen (Ex 21,12-14). Ausgerechnet zum Altar, und er findet Schutz, wenn er ihn berührt (Ex 21,14)! Die Berührung des Heiligen setzt also keineswegs ein Todesgericht in Gang, sondern das Gegenteil: »Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht« (Ps 57,2). Der Heilige Gott bietet Schutz vor seinen eigenen Gesetzen. Weitere Texte, die diesen gnädigen Geist Gottes atmen, sind Legion im Alten wie im Neuen Testament11.

Bei den Opfervorschriften in Leviticus geht es nun aber nicht um schwere Verbrechen, sondern um Verfehlungen, die »aus Versehen« (bisgaga) unterlaufen sind. Und da steht nie: »Wenn jemand aus Versehen gegen irgendein Gebot des HERRN sündigte, der soll des Todes sterben«. Natürlich: die Beziehung zu Gott ist auch durch solch eine Verfehlung gestört, und damit das Leben beeinträchtigt. Aber »verwirkt« ist das Leben deshalb nicht.

Es sind also auch von dieser Seite her begründete Zweifel angebracht, ob die Sühneopfertheorie H. Geses wirklich von den Texten gestützt wird. Das gilt natürlich erst recht in bezug auf die Vorgängertheorien bis hin zu Anselm von Canterbury!

Opfer ohne Sühne

Doch dann stellt sich gleich die Frage, was es denn für eine Alternative gibt? Jede deutsche Bibel übersetzt doch kpr pi. mit »Sühne schaffen«. Nein, nicht jede! Martin Buber übersetzt kpr pi. konsequent mit »bedecken«. Er ist zwar Jude und kein Christ. Aber genau das sollte nachdenklich machen. »Bedecken« ist schließlich auch nach den christlichen Hebräisch - Lexika die Grundbedeutung von kpr.14

Versuchen wir also, hinter dem priesterschriftlichen Ritus einen Sinn zu finden, ohne uns auf Geses Sühnekonzeption zu stützen.

Ansatzpunkt dafür ist, dass es Fälle gibt, wo ein kpr-Ritus für unbelebte Gegenstände bzw. Gebäude vollzogen wird: für ein vom Aussatz gereinigtes Haus (Lev 14,53), die Stiftshütte (Lev 16,16), den Altar (Ex 29,36; 30,10; Lev 8,15; 16,18). Hier von »entsühnen« zu sprechen dürfte wenig sinnvoll sein, denn es kann sich kaum darum handeln, dass diese Gebäude durch ein Todesgericht hindurch zu Gott kommen müßten.

Sondern es legt sich nahe, von hier aus kprpi. als »reinigen«, »weihen« oder besser: »berühren, bedecken mit der Heiligkeit Gottes« zu verstehen. Besonders deutlich zeigt dies Lev 16,18f am Beispiel des Altars, wo kpr pi. mit reinigen/heiligen parallel steht:

»Und er soll hinausgehen zum Altar … und ihn »kpr pi.« und soll vom Blut des Stiers … nehmen und es ringsum an die Hörner des Altars streichen … und ihn reinigen und heiligen von den Verunreinigungen der Israeliten.«

Das Blut des Opfertiers heiligt also den Altar.15

Wie das? Was für ein besonderer Saft ist das Blut nach biblischem Verständnis, dass es solches vermag?

Das Blut ist das Leben

»Das Leben des Fleisches, im Blut ist es«, heißt es Lev 17,11. Und noch deutlicher Dtn 12,23: »Das Blut ist das Leben«. Ohne Blut kein Leben. Wenn das Blut vergossen wird, ist der Mensch tot. Soweit ist die Sache klar. Aber wessen Leben ist das, was da in unserem Blut ist?

Wir abendländisch geprägten Menschen antworten ohne Zögern: Natürlich unser eigenes, individuelles Leben, bzw. das Leben des Tieres das da geopfert werden soll.

Falsch, sagen die Menschen der Bibel. Ihr selber habt gar kein eigenes Leben. Euer Leben gehört nicht euch. Das Leben in euch ist Gottes Leben. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied zwischen unserem Denken und der Bibel. Nach biblischer Einsicht hat nur Gott selber Leben. Alle Lebewesen leben, weil Gott ihnen von seinem Leben gibt. Alles Leben, das uns in dieser Welt begegnet, ist ein Teil von Gottes eigener schöpferischen Lebenskraft.

»Siehe, alles Leben ist mein«, steht Hes 18,4. Und in der Vision vom Totenfeld in Hes 37 ist in sehr eindrückliche Bilder gefaßt, wie das gemeint ist. Die Totengebeine wachsen wieder zusammen, werden mit Sehnen, Fleisch und Haut überzogen. Aber erst als Gott seinen Atem (ruah) gibt, werden sie wieder lebendig (V10). Ohne Gottes Atem kein Leben!16

Das Bild ist bekannt aus Gen 2,7. Weniger bekannt ist allerdings, dass mit dem Lebensatem, den Gott den Lebewesen in die Nase bläst, kein einmaliges Anhauchen gemeint ist, worauf die Menschen dann selbständig, autark leben würden. Sondern alle Lebewesen bleiben auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass Gott sie weiter beatmet.

»Wenn er nur an sich dächte, seinen Geist (ruah) und Odem (nesama) an sich zöge, so würde alles Fleisch miteinander vergehen, und der Mensch würde wieder zu Staub werden« (Hi 34,14f.; vgl. Ps 104,28f.; Hi 27,3). Es gibt noch eine Fülle weiterer Belege, gerade aus exilisch - nachexilischer Zeit, also aus dem theologischen Umfeld der priesterschriftlichen Opferriten17, die dasselbe belegen: Alles Leben in dieser Welt ist und bleibt Gottes Leben. Er belebt mit seinem Leben, seinem Atem, solange er will. Wenn er seinen Atem wieder an sich nimmt, bleibt nur ein Häufchen Erde.

Wenn nun in Lev 17,11 gesagt wird, im Blut sei das Leben, so kann damit nicht das individuelle Leben eines autarken Wesens gemeint sein. Diese Vorstellung ist dem biblischen Denken ganz fremd. Auch wo das Leben im Blut lokalisiert wird, ist Gottes eigenes Leben gemeint.18 Im Blut ist also in gewisser Weise Gott selbst zur Stelle. Das ist der Grund, weshalb Blut keinesfalls verzehrt werden darf (vgl. Gen 9, 4f; Lev 17, 10 ). Wer sich am Blut vergreift, vergreift sich an Gott selber.

Und hier liegt nun genau der Punkt, an dem sich die Bedeutung des priesterschriftlichen kpr-Ritus entscheidet und damit die Frage, ob »Sühneopfer« ein biblisches Denkmuster ist - oder ob die Sühneopfertheologie der Bibel von abendländischen christlichen Theologen übergestülpt wurde.

H. Gese und in seinem Gefolge B. Janowski teilen die abendländische Auffassung, dass das Leben unveräußerlich zum jeweiligen Individuum gehöre: »Rituelle Freisetzung des Blutes ist Freisetzung des (individuellen) Lebens«19, also des Lebens des Opfertiers. Wenn also ein Mensch ein Opfer darbringt, so Janowski, »wird damit eine zeichenhaft - reale Hingabe der naefaes (d.h. des Lebens) dieses Menschen an das Heilige vollzogen.«20 Das Blut steht nach dieser Theorie also für den sündigen Menschen. Der Altar, an den das Blut gegossen wird, steht für den heiligen Gott. Die Bibel sieht es aber anscheinend genau andersherum: Das Blut steht für Gott! Es hat direkten Anteil an der Heiligkeit Gottes, während der Altar und das Heiligtum im Tempel von den Sünden der Israeliten ganz und gar verunreinigt sind (Lev 16,16).

Von diesen neugewonnenen Voraussetzungen her nun zurück zum priesterschriftlichen Kult. Die Schlüsselstelle zum Verständnis ist tatsächlich Lev 17,11, die Begründung des absoluten Verbots, Blut zu verzehren: »Denn das Leben (naefaes) des Fleisches, im Blut ist es. Und ich (Gott) selbst habe es euch für den Altar gegeben, damit es bedecke (le kippaer) über eurem Leben. Denn das Blut, durch das Leben (naefaes) bedeckt es.«

Auf einmal wird die Sache klar: Das Blut, das direkten Anteil hat am Leben Gottes, überdeckt die Sünden der Menschen. Das Blut überdeckt die Sünden mit dem Leben Gottes, mit der Heiligkeit Gottes, mit der Gegenwart des lebendigen Gottes. Was vom Blut berührt wird, wird geheiligt, sozusagen angesteckt von der Heiligkeit.

Opfer als Geschenk

Nun muss allerdings die Frage gestellt werden, ob das zentrale Ereignis beim Opfer wirklich das Blutsprengen ist, wie Gese meint.

»Opfer« heißt in der hebräischen Bibel qorban, also das, was man nahebringt oder: das Nahekommen (Buber übersetzt: Nahung). Dahinter wird die orientalische Praxis stehen, dass man, wenn man sich einem Höhergestellten nahen will, Geschenke mitbringt. Um so ein Geschenk für Gott handelt es sich wohl beim Opfer. Das Brandopfer (hebr. ola von: hinaufbringen) bringt das Geschenk vor Gott. Geht das geschlachtete Tier »in Rauch auf« ist es »ein lieblicher Geruch für den Herrn« (Lev 1,9 u.ö.). Ziel des Brandopfers ist, den, der opfert, »wohlgefällig zu machen vor dem Herrn« (Lev 1,3).

Ein Brandopfer ist also tatsächlich die Möglichkeit, wieder mit Gott in Verbindung zu treten: mittels eines Geschenkes, das man ihm bringt. Doch es muss nicht notwendigerweise Blut fließen, damit diese Verbindung zustande kommt.

Lev 5,11-13 zeigt, dass es bei ganz Armen auch genügt, wenn eine Handvoll Mehl in Rauch aufgeht. Das Mehl erfüllt genau den gleichen Zweck wie ein Stier oder ein Ziegenbock - ohne dass ein Tropfen Blut fließt21.

Die Handauflegung (z.B. Lev 1,4) soll wahrscheinlich zeigen: das ist mein Geschenk.22 Sie kommt nur vor bei großen Tieren, die auf dem Boden stehen. Hier ist Identifizierung nötig unter dem Gesichtspunkt, zu wem sie gehören, aus wessen Hand sie kommen. Bei den Tauben (Lev 5,7ff.) oder beim Mehl (Lev 5,11ff.) entfällt die Handauflegung. Warum? Der sie bringt, hat sie ja sowieso in der Hand und es ist unzweifelhaft, wessen Geschenk an Gott sie sind.

Die Handauflegung dient demnach sehr wohl zur Identifizierung, aber zur Identifizierung des Tieres als mein Geschenk und nicht zur Identifizierung mit dem Tier. Die Handauflegung im Opferritual hat demnach mit Stellvertretung oder gar Subjektübertragung überhaupt nichts zu tun.

Und das Opfer als ganzes ist einfach die Weise, wie man sich, nachdem ein Vergehen den Menschen von Gott entfremdet hat, ihm angemessen und respektvoll nahen kann: mittels eines Geschenkes, wie es sich geziemt. Sobald sich der heillose Mensch Gott wieder genaht hat, wird über dem Sünder »bedeckt«, d.h., der Sünder wird durch die Nähe zu Gott geheiligt und lebt wieder im Heil. So geschieht Vergebung. Das wird abschließend, nach der Beschreibung des ganzen Rituals, konstatiert.23

Das bedeutet: Ziel des Opfers ist, dass das Geschenk des Menschen in Rauch aufgeht, »zum lieblichen Geruch für den Herrn« (Luther). Wenn ein Armer sich Gott nahen will, geht das auch ganz ohne Blut.

Trotzdem hat das Blut, das an den Altar gesprengt wird, eine grundlegende Funktion im priesterschriftlichen Ritus: Es schafft die Voraussetzung dafür, dass das Opfer überhaupt seinen Zweck erfüllen kann. Denn nicht jedes irgendwo verbrannte Tier eröffnet den Zugang zu Gott. Voraussetzung für ein wirkliches Opfer ist, dass es an heiliger Stätte in Rauch aufgeht. Und geheiligt wird eine Stätte nur durch Gott selbst, im Fall des Altars eben durch das Blut, das Anteil an Gottes Heiligkeit hat (Lev 16,18f). Gott selber gibt also im Blut des Opfertiers gewissermaßen den Menschen einen Zipfel seiner Heiligkeit in die Hand und ermöglicht so, dass die Menschen eine Stätte heiligen und sich ihm so durch Darbringung eines Geschenkes nahen können.

Es geht also im priesterschriftlichen Ritus tatsächlich darum, dass Menschen Gott (wieder) nahe kommen. Doch von »Todesgericht« ist in diesem Zusammenhang nichts wahrzunehmen. Dass beim Opfer ein Tier geschlachtet wird, liegt auf derselben Ebene, wie wenn Abraham ein Kalb schlachtet, um seine Gäste zu bewirten (Gen 18,7). Das fehlerlose Tier bringt zum Ausdruck, wieviel dem Menschen die Begegnung wert ist, beim Opfer, wieviel ihm daran liegt, Gott nahe zu kommen.

Neue Perspektiven

Das überraschende Ergebnis dieser Nachfrage nach der biblischen Begründung des theologischen Denkmusters vom »stellvertretenden Sühnetod« ist also zweierlei:

1. Die Sühnetheologie der christlichen Dogmatiker aus alter und neuer Zeit wird durch die priesterschriftlichen Opfervorschriften des Alten Testaments nicht gestützt. Die Vorstellung, die mit dem Wort Sühne bezeichnet wird und damit auch die Vorstellung der stellvertretenden Übernahme von Schuld, ist diesen Texten vollkommen fremd.24

2. Wenn es stimmt, was ich oben aufgezeigt habe, dann erscheint auf einmal »Blut« in der Bibel in völlig verändertem Licht. Abgesehen von der Formel »Blut vergießen« muss »Blut« für die Menschen der Bibel immens positive Assoziationen ausgelöst haben: Blut ist Leben, das Leben! In unserem Kulturkreis dagegen - und vor allem in der christlichen Sühnetheologie - wird Blut ganz selbstverständlich mit Tod assoziiert.

»Durch Christi Blut« wird verstanden: durch seinen Tod. Möglicherweise ist aber in der Bibel nahezu das Gegenteil gemeint: Durch sein Leben, durch das Leben Gottes, das in ihm war - und in ihm ist!

Freilich ist Jesus am Kreuz gestorben. Aber nicht sein Tod als Tod ist das Heilsereignis. Sondern das Heilsereignis ist, dass in ihm das Leben erschienen ist (Joh 1,4) und dass auch nach Jesu brutaler Ermordung sich das göttliche Leben nicht von den Menschen zurückgezogen, sondern sich erst recht verströmt hat.

Ein Beispiel: »Wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde« (1. Joh 1,7).

Würde Blut hier Tod bedeuten würde hier stehen: Das Blut Jesu hat uns rein gemacht. Denn Jesu Tod ist Vergangenheit. Der Satz steht aber im Präsens! Das Blut Jesu ist also für den 1. Joh etwas Gegenwärtiges, was jetzt wirkt, was jetzt von aller Sünde rein macht. Es könnte das Herrenmahl gemeint sein: Wenn wir jetzt miteinander Gemeinschaft haben, dann ist - im Herrenmahl - das Leben Jesu mitten unter uns und macht uns rein. So wie Lev 16,19 der Altar durch Blut rein wird.

Es ist allerdings deutlich, dass Blut hier als Metapher steht und nicht etwa der Abendmahlswein als selbstwirksam gedacht wird: Voraussetzung für das Reinwerden von Sünden ist Wandeln im Licht und Gemeinschaft miteinander.

Doch es ist deutlich, wofür die Metapher Blut nicht steht: nicht für den Tod, nicht für ein Sühneereignis, das sich vor unserer Zeit und hoch über unseren Köpfen abgespielt hätte. Sondern Blut steht für Jesu Leben, für Gottes Leben in ihm. Und dieses Leben ist für Christen eine gegenwärtig erfahrbare Wirklichkeit.

Das ist nur ein Beispiel. Das neue Verständnis des priesterschriftlichen Opferkultes eröffnet einen ganz neuen Blick auf all die Stellen, wo es im Neuen Testament um Jesu Opfer, Jesu Blut, das Abendmahl und Jesu Sterben geht.

Es ist jetzt eine überaus spannende Aufgabe, die Bibel unter diesen Blickwinkel neu zu lesen und zu prüfen, ob mein Vorschlag sich als tragfähig erweist.

Ich hoffe jedenfalls gezeigt zu haben, dass in der Auseinandersetzung um »Jesu Sühnetod am Kreuz« die Front nicht zwischen bibeltreuer und unbiblisch-liberaler Theologie verläuft, sondern dass die Bibel selber die Vermutung nahelegt, dass es sich beim theologischen Denkmuster vom »stellvertretenden Sühnetod« um ein Konstrukt nachbiblischer abendländischer Theologen handelt. Falls sich das bestätigen sollte, muss sich zeigen, welches Gewicht das Schriftprinzip (sola scriptura) in unseren reformatorischen Kirchen noch hat und inwieweit es sich gegen die Tradition durchsetzten kann.

 

 

Anmerkungen:

 

1 P. Stuhlmacher, Zur Predigt am Karfreitag, S. 28, in: Th. Sorg / P. Stuhlmacher, Das Wort vom Kreuz, Stuttgart 1996.

 

2 Z.B. Lev 1,4; 16,6.17 u.ö.

3 H. Gese, Die Sühne, in: ders., Zur biblischen Theologie, Tübingen 21983.

4 Gese, Sühne, S. 104.

5 Gese, Sühne, S. 101.

6 Vgl. dazu: Gese, Sühne, S. 95ff.

7 Gese, Sühne, S. 104.

 

8 Etwa: »Und das Tier stirbt«, oder: »Und es gibt sein Leben«, wie ja auch stereotyp konstatiert wird: »Und ihm (dem, der opfert) wird vergeben« (Lev 4, 20.26.31.35 u.ö.).

 

9 Handaufstemmung als Subjektübertragung auf das Tier, vgl. Gese, Sühne, S. 95f.

 

10 Ebenso Ex 21, 12-17; 22, 17-19; Lev 20, 1-20 u.ö.

 

11 Z.B. die Paradiesgeschichte Gen 3, wo die Menschen, nachdem sie Gottes Gebot übertreten haben, eben nicht sterben. Sie werden aus dem Paradies auch nicht deshalb ausgewiesen, weil nun Gottes Gegenwart für sie lebensgefährlich wäre, sondern damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen (Gen 3, 22).

 

12 Z.B. die Paradiesgeschichte Gen 3, wo die Menschen, nachdem sie Gottes Gebot übertreten haben, eben nicht sterben. Sie werden aus dem Paradies auch nicht deshalb ausgewiesen, weil nun Gottes Gegenwart für sie lebensgefährlich wäre, sondern damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen (Gen 3,22).

 

13 Die Propheten hatten ja z.T. dem ganzem Volk eben dies anzusagen: Euer Leben ist verwirkt. Es ist zu spät. »Bereite dich, Israel und begegne deinem Gott« (Amos 4,12).

 

14 Vgl. z.B. Köhler/Baumgärtner, Lexicon in Veteris Testamentii Libros, 1958, S. 451.

 

15 So auch B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, Neukirchen 1982, S. 230: Das »In Kontakt- Treten mit dem Heiligen ist der Grundgehalt der kultischen Entsühnung von Altar und Heiligtum.«

 

16 Freilich schillert die Bedeutung von »Leben« auch in der Bibel. Aus der Perspektive des verfolgten Beters in den Klagepsalmen geht es um »mein Leben« (vgl. z.B. Ps 7,6; 11,14 …). Erst in der distanzierten theologischen Reflexion wird deutlich, bei wem die »Quelle des Lebens« ist (Ps 36,10).

 

17 Vgl. Gen 6,3; 6,17; Num 16,22; 27,16; Hi 33,4; Jes 42,5; 57,16; Jer 38,16; Sach 12,1 und auch im NT Joh 1,4; Gal 2,20; 1. Kor 3,22f und viele andere.

 

18 In Lev 17,14 und Dtn 12,23 »wird deutlich das Blut nachträglich zur naefaes erklärt; es ist eine andere Tradition, nach der nicht der Atem, sondern das Blut mit dem Leben zu identifizieren oder der Sitz des Lebens ist« (Jenni/Westermann, THAT, Bd. 2, Sp. 74)

 

19 Gese, Sühne, S. 98; zustimmend zitiert bei Janowski, Sühne, S. 246 (Klammer: Gese, Hervorhebung: M. R.).

 

20 Janowski, Sühne, S. 247 (Klammer und Hervorhebung: M. R.).

 

21 Vgl. Lev 5,13 (Mehlopfer) mit Lev 4,31 (Ziege). Das Ergebnis, Vergebung, ist dasselbe.

 

22 Lev 1,4: »… und lege seine Hand auf den Kopf des Brandopfers damit es ihn wohlgefällig mache.«

 

23 Vgl. die abschließenden Bemerkungen z.B. in Lev 4,20.31 u.ö.

 

24 In Jes 53 begegnet natürlich die Vorstellung von Stellvertretung. Allerdings wird die Stellvertretung nicht in kultischer Terminologie interpretiert. Gerade in V 7 wird das Lamm, nicht zum Altar geführt, sondern zur profanen Schlachtung und dann verstummt es gar vor dem Scherer, der im Kult überhaupt nichts zu suchen hat. V lOb, wird zwar gesagt, dass der Knecht sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, aber dabei geht es gerade nicht um Stellvertretung. Sondern Folge dieses Selbstopfers ist, dass der Knecht selbst im Heil leben wird. Für die Vorstellung eines stellvertretenden Leidens für andere, um die es im Spezialfall Jes 53 geht, hat demnach die kultische Terminologie nichts hergegeben. Die Frage, welche (wenigen) Verse aus Jes 53 im Neuen Testament zitiert werden und welche nicht (!) verdient eine eigene Untersuchung.

 

 

 

 

 

Über die Autorin / den Autor:

M. R., Jgg. 1963, Studium der Ev. Theologie in Tübingen und Hamburg, Vikariat in Meßstetten, Pfarrvikariat in Steinheim/ Alb., seit 1996 Pfarrer in Hülben (Württemberg).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2002

2 Kommentare zu diesem Artikel
26.03.2018 Ein Kommentar von Hanna Jüngling Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Text. Ich habe mich - als Katholikin - gerade auch sehr intensiv mit der Ideologie der "Messopfertheologie" befasst, die mir immer unglaubwürdiger erscheint und folgerichtig, wie Odo Casel es beschrieb, eigentlich aus dem Denken der heidnischen Mysterienkulte stammt. Einmal gedanklich an diesen Punkt gekommen, und entdeckend, dass auch die entsprechende Theologie des "Pascha-Mysteriums" nach dem Vaticanum II, die in der Eucharistiefeier nach der Liturgiereform 1970 Ausdruck findet, diese alte Mysterienlinie noch vertieft, kommt der große Zweifel auf, ob diese Theologie, die sich dogmatisch als unaufhebbar gesetzt hat, nicht völlig weitab von jeglichem biblischen Zusammenhang so etwas wie eine Totalverfremdung der Substitution unseres "schwindenden Lebens", dieses Verblassens des Lebens, das uns wegen unserer freiwilligen Verpflichtung auf die Sünde unweigerlich dem Tod zuführt, erzeugt hat: Einen wirklich "großen Abfall" von dem wirklichen Christus, der mit seinem Blut eines "Makellosen" und "kraft des ewigen Geistes", der in ihm ist (Hebr 9, 14) uns das Leben zurückgeschenkt hat, das in uns schwindet. Die Logik liegt nicht in einer Sühneleistung, sondern darin, dass "im Blut das Leben ist" und deshalb auch kategorisch jeglicher Blutgenuss verboten ist (auch auf dem Apostelkonzil aufgrund der Eingebung des Hl. Geistes für die Heidenchristen gültig - ein gebot, dass die RKK und auch die Ev. Kirche nicht mehr einhält, die Ostkirche dagegen schon): nur unter Verlust der Gottesnähe kann einer es wagen, Blut in "irgendeiner Weise" zu essen (Lev 17, 10). Das Blut ist die Teilhabe am Leben Gottes, am Leben überhaupt.
21.03.2013 Ein Kommentar von Frank Moritz-Jauk lieber michael, danke für den sehr interessanten artikel - ich komme halt erst 1o jahre später dazu, ihn zu lesen. die schlüsselstelle, wenn ich sie richtig verstanden habe, ob das blut die schuld des menschen sühnt, oder ob das blut für das leben (gottes leben) steht und die sünden des menschen bedeckt ist natürlich revolutionär. warum darf dann allerdings nur der hohepriester das allerheiligste betreten? mich selbst beschäftigt die frage nach der Symbolik des Blutes und Fleisches Christi. Warum bedienen wir uns in einem bedeutenden Teil unserer Gottesdienstliturgie, dem Abendmahl, einer „grauslichen“ Bildsprache um uns an unseren Erlöser zu erinnern? Können wir mit dieser Blut und Fleisch Symbolik den heutigen, mitteleuropäischen Menschen in seiner Lebenswirklichkeit abholen? Oder ist dies ein kanonisches Problem, das unauflöslich erscheint. mit brüderlichem gruss frank
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