Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den evangelischen Kirchen eine Vielzahl von geistlichen Gemeinschaften mit gemeinsamem Leben gegründet - ein Novum im Protestantismus, wenn man einmal von Vorläufern im Raum des Pietismus absieht. Kirchengeschichtlich gesehen, bedeutete die Spiritualität der Kommunitäten eine Wiederkehr monastisch geprägter Frömmigkeit in der evangelischen Kirche. Kein Wunder, daß Skepsis und Vorbehalte zunächst groß waren und die Anerkennung von seiten der offiziellen Kirche erst spät erfolgte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit kommunitärem Christsein wird im Rahmen der evangelischen Theologie bis heute weithin von Insidern geführt - wenn sie denn überhaupt erfolgt. Zu den bekannter gewordenen gehören Johannes Halkenhäuser, langjähriger Pfarrer der »Communität Casteller Ring« (seine Dissertation stellt immer noch das Standardwerk zu den Kommunitäten dar: Kirche und Kommunität. Ein Beitrag zur Geschichte und zum Auftrag der kommunitären Bewegung in den Kirchen der Reformation, 2. Auflage, Paderborn 1985), Franziskus Joest (Mitglied der »Jesusbruderschaft« in Gnadenthal) und auch Ingrid Reimer, die seit ihrem Ruhestand in der »Lebensgemeinschaft für die Einheit der Christen« auf Schloß Craheim mitarbeitet. Angesichts dieser Situation wollen die folgenden Ausführungen die kommunitäre Spiritualität nach Impulsen für die Gesamtkirche befragen und zugleich eine breitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen anstoßen. Die gegenwärtige Krise der Volkskirche legt die Beschäftigung mit Kommunitäten nahe, da diese offensichtlich lebendige spirituelle Zellen darstellen, die gerade auch für jüngere Menschen attraktiv sind.

1. »Kommunität« und »Spiritualität«

- Begriffsklärungen

Da die Begriffe »Kommunität« und »Spiritualität« inhaltlich sehr unpräzise sind, ist eine Begriffsklärung unerläßlich.1 So bringen z.B. die Selbstbezeichnungen der unterschiedlichen geistlichen Gemeinschaften ihre innere Struktur nicht klar zum Ausdruck. Unter dem Begriff »Kommunität« werden im folgenden solche evangelischen Gemeinschaften zusammengefaßt, die nach der - entsprechend dem jeweiligen Aufgabenschwerpunkt der Gemeinschaft - modifizierten Regel der drei monastischen Gelübde zusammenleben: des Gehorsams gegen eine Leitungsinstanz, des Verzichts auf Privatbesitz und z.T. auch auf die Ehe. Die Gemeinschaften können zölibatär lebende Männer und Frauen und Familien zusammen oder nur einzelne dieser Gruppen oder verschiedene Kombinationen von ihnen umfassen. Einmal abgesehen von Dietrich Bonhoeffers Finkenwalder Bruderhaus, ist die älteste evangelische Kommunität - mit der bis heute weitesten Ausstrahlung - die von Roger Schutz 1940/42 gegründete Bruderschaft von Taizé in Burgund; die erste Kommunität in Deutschland ist die 1947 von Klara Schlink in Darmstadt gegründete Evangelische Marienschwesternschaft.

Auch der Begriff »Spiritualität« ist mittlerweile zu einem Container-Begriff geworden. Ursprünglich stammt er aus der katholischen Ordenstheologie Frankreichs. Er unterscheidet sich vom protestantischen Begriff »Frömmigkeit« dadurch, daß er im Gegensatz zu diesem Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung mit dem Glauben zusammenschließt. Dadurch bringt er die Bedeutung des Geisteswirkens für den Glauben neu zu Bewußtsein, das in der abendländischen Theologie lange ungenügend berücksichtigt worden ist. Der Aspekt der Gestaltwerdung des Glaubens macht deutlich, daß die ekklesiologische Dimension zur Frömmigkeit untrennbar dazugehört. Außerdem impliziert der Begriff eine Vielzahl und Vielfalt von Spiritualitäten und ist im Bereich der gesamten Ökumene verständlich.

Spätestens seit der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Nairobi 1975 war der Siegeszug des Begriffs nicht mehr aufzuhalten.2 In Deutschland wurde er durch die Ende der 70er Jahre erschienene EKD-Studie »Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung« kirchlich anerkannt. Die Studie, erarbeitet unter dem Vorsitz des Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz, erschien im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland erstmals 1979 und bereits 1980 in 2. Auflage. Mit ihr vollzog die evangelische Kirche einen doppelten Paradigmenwechsel: Sie brach - vorbehaltlos - mit ihrer aus der Reformationszeit herrührenden Ablehnung monastischer Lebensformen und nahm das Problem der Spiritualität als eine für das Christsein in der modernen Welt wesentliche Fragestellung auf. Die Bischofskonferenz der VELKD hatte diesen Schritt schon Mitte der 70er Jahre getan. Ihre damalige Stellungnahme ist abgedruckt in dem von Lutz Mohaupt im Auftrag der Bischofskonferenz herausgegebenen Sammelband »Modelle gelebten Glaubens - Gespräche der Lutherischen Bischofskonferenz über Kommunitäten und charismatische Bewegungen«. Die EKD-Studie »Evangelische Spiritualität« geht davon aus, daß Kommunitäten eine legitime Ausprägung biblisch-reformatorischen Christseins darstellen und würdigt sie als Orte spiritueller Übung und Erfahrung: »In neuerer Zeit sind Kommunitäten und Einkehrhäuser für viele zu ›Gnadenorten‹ geworden. Diese Entwicklung sollte gefördert werden« (S. 54).

Im folgenden verstehe ich unter Spiritualität in Aufnahme von Überlegungen der EKD-Studie die gelebte und damit äußere Gestalt gewinnende Frömmigkeit, die in der paulinischen Forderung des »vernünftigen Gottesdienstes« von Röm 12, 1f ihre biblische Begründung besitzt. Einerseits wird sie motiviert, andererseits aber auch relativiert durch den reformatorisch verstandenen Rechtfertigungsglauben: Die Erfahrung der voraussetzungslosen Annahme durch Gott führt zur Dankbarkeit und befreit dazu, den Glauben in unterschiedlichen Formen im Alltag zu leben. Gleichzeitig bewahrt sie davor, Spiritualität als Leistung mißzuverstehen.

2. Charakteristika kommunitärer Spiritualität

Obwohl die Spiritualität von Kommunitäten ganz unterschiedliche Ausprägungen besitzt, gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen, die es erlauben, von einer gemeinsamen kommunitären Spiritualität zu sprechen.3 Ein wesentliches Merkmal kommunitärer Spiritualität besteht in der Verbindlichkeit bestimmter Formen. Dazu gehören neben Zeiten des persönlichen Gebets und der Schriftmeditation der regelmäßige Besuch von Tagzeitengebeten und Gottesdiensten. Charakteristisch ist weiter, daß kommunitäre Frömmigkeit im Rahmen gemeinsamen Lebens praktiziert wird. Sie ist außerdem »charismatisch«: Die Kommunitäten stellen Übungsräume dar, die dazu herausfordern, die unterschiedlichen Charismen ihrer Mitglieder zu entdecken und auszuüben. In der Konsequenz kommt es zu einer Reintegration der Theologen in die Gemeinschaft der übrigen Kommunitätsmitglieder. Der Laie wird zum gleichberechtigten Partner des Amtsträgers. Zur kommunitären Spiritualität gehört das Streben nach ganzheitlicher Verwirklichung des Glaubens. Kommunitäten plädieren für ein Christentum mit Leib und Seele. Z.B. wird ihre Spiritualität wesentlich durch Symbole und Rituale geprägt. Das zeigt sich an der Gestaltung der Wohnräume unter Einbeziehung geistlicher Gesichtspunkte - eine »schöne Ecke« mit Kruzifix gehört zur Einrichtung vieler Zimmer in Kommunitäten - und an der von den Gemeinschaften wiederentdeckten Praxis der Einzelbeichte. Charakteristisch für die von evangelischen Kommunitäten gelebte Spiritualität ist auch der Zweiklang von Kontemplation und Aktion bzw. von Gottes- und Weltbezogenheit. Kommunitäten wollen auf diese Weise einerseits der Gefahr der Weltvergessenheit und andererseits der des Aktionismus entgehen. Die Ausrichtung kommunitärer Spiritualität auf den Gottesdienst hält das Bewußtsein des »eschatologischen Mehrwerts der Gnade« fest, womit ich einen Begriff aufnehme, den Christian Möller in seinem Buch »Gottesdienst als Gemeindeaufbau. Ein Werkstattbericht« geprägt hat (2. Auflage 1990, S. 55f). Konsequenterweise gehört die Betonung von Fest und Freude zu den Merkmalen kommunitären Lebens. Ein weiteres Charakteristikum kommunitärer Spiritualität besteht in ihrer Ökumenizität. Kommunitäten haben das reiche spirituelle Erbe der katholischen und orthodoxen Konfession wiederentdeckt. Ihre Spiritualität ist deshalb von katholischen und orthodoxen Frömmigkeitselementen und -formen mitgeprägt. An kommunitärer Spiritualität wird sichtbar, daß gelebtem Glauben eine ökumenische Potenz innewohnt. Einen Beitrag zur Ökumene stellt die Existenz von Kommunitäten aber auch deswegen dar, weil der kommunitäre Aufbruch in allen Konfessionen zu beobachten ist. Schließlich besitzt kommunitäre Spiritualität eine eschatologische Ausrichtung, wofür die Kommunitäten sich auf das Neue Testament berufen, nach dem zum Christsein die unmittelbare Erwartung des Reiches Gottes gehört. Die freiwillige Verpflichtung zu einem Leben nach den Evangelischen Räten soll die eschatologische Dimension des Glaubens wachhalten.

Trotz dieser positiven Merkmale, darf nicht verschwiegen werden, daß kommunitärer Spiritualität auch eine Reihe von Gefährdungen drohen. In diesem Zusammenhang sind vor allem vier Problemkreise zu nennen. Schon Ingrid Reimer hat in ihrer Eigenschaft als für Kommunitäten zuständige Mitarbeiterin der EZW in ihrem Buch »Verbindliches Leben in Bruderschaften, Kommunitäten, Lebensgemeinschaften« (Stuttgart 1986, S. 25ff) auf ähnliche Schwachpunkte hingewiesen. Erstens besteht die Gefahr, daß in Kommunitäten ein Idealbild von spirituellem Leben kultiviert wird. Die Besonderheit kommunitärer Spiritualität und ihre starke Außenwirkung führt leicht dazu, daß Alltagsprobleme von den Kommunitätsmitgliedern nicht mehr offen und vorurteilsfrei wahrgenommen werden. Das erstrebte Ideal macht häufig blind für die Realität des Alltags mit seinen Schwierigkeiten. Zweitens steht die Frömmigkeit des einzelnen Kommunitätsmitglieds in Gefahr, in Abhängigkeit von der besonderen geistlichen Prägung des Leiters bzw. der Leiterin der Gemeinschaft zu geraten. Diese Gefahr wird durch enge seelsorgerliche Beziehungen noch verstärkt und kann zu einer regelrechten geistlichen Unselbständigkeit führen. Dadurch geht die neutestamentliche Demokratisierung des Geistes wieder verloren, wie sie etwa in Apg 2 und 1. Kor 12-14, aber auch in Mt 23, 8-10 zum Ausdruck kommt. Drittens droht kommunitärer Frömmigkeit eine Überbetonung der Gemeinschaft. Als erster im evangelischen Raum hat Dietrich Bonhoeffer dieses Problem in seinem Buch »Gemeinsames Leben« ausführlich thematisiert (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd 5, S. 65ff). Die Konsequenz sind ein unguter Zwang zur Einigkeit auch in nebensächlichen Fragen und fehlendes Eigenprofil der Spiritualität des einzelnen Kommunitätsmitglieds. Als Besucher erhält man den Eindruck, daß der persönliche Glaube der Mitglieder kein eigenständiges Gesicht mehr besitzt. Schließlich droht viertens die Entstehung und Kultivierung von internen Sonderlehren. Äußere Abgeschlossenheit und fehlenden Transparenz mancher Kommunitäten bilden hierfür einen geeigneten Nährboden.4

3. Impulse kommunitärer Spiritualität für die Gesamtkirche

Trotz der genannten Gefährdungen kann kommunitäre Spiritualität gerade in der gegenwärtigen Situation volkskirchlicher Krisenerscheinungen unter bestimmten Voraussetzungen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur kirchlichen Erneuerung leisten. Sylvia Mallinkrodt-Neidhardt formuliert in ihrem Buch »Gottes letzte Abenteurer. Anders leben in christlichen Gemeinschaften und Kommunitäten« von 1998: »Kommunitäten sind ein Stück ›Kirche auf dem Weg‹. So gesehen stellen alle verbindlichen Gemeinschaften - wenn die Kirche sie integriert - nicht nur eine Bereicherung des geistlichen Lebens innerhalb der Gemeinden dar, sondern können auch deren Erneuerung bewirken und so zu ihrem Fortbestehen beitragen« (S. 14). Die erste grundlegende Voraussetzung dafür, daß das Erneuerungspotential kommunitärer Frömmigkeit zur Geltung kommen kann, besteht darin, daß Christsein im Protestantismus nicht länger mit dem traditionellen bürgerlichen Leben in Familie und Beruf identifiziert wird und die Parochie nicht länger die einzig anerkannte Sozialgestalt von Kirche bleibt. Dafür plädierten bereits mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit der neutestamentlichen Nachfolgegestalt Johannes Halkenhäuser in seinem Aufsatz »Das Evangelium in Gemeinschaft leben. Zur ekklesialen Dimension des Christseins in Kommunitäten« (in: J. Schreiner/K. Wittstadt (Hg), Communio Sanctorum. Einheit der Christen, Einheit der Kirche (FS für P.-W. Scheele), Würzburg 1988, S. 494ff) und aus mehr systematisch-theologischen Gründen mit dem Hinweis auf die Selbstunterschiedenheit des trinitarischen Gottes Christoph Joest in seinem Beitrag »Der Protestantismus und die evangelischen Kommunitäten« (Kerygma und Dogma 42 (1996), S. 278). Die zweite wesentliche Voraussetzung dafür, daß das Erneuerungspotential kommunitärer Spiritualität zur Geltung kommen kann, besteht darin, daß sie nicht als Hochform evangelischer Frömmigkeit mißverstanden wird, die allein einige wenige religiöse Virtuosen zu leben vermögen. Eine solche Interpretation entspricht zwar dem Trend modernen Lebens mit seinem zunehmenden Spezialistentum, das konsequentenweise auch religiöse Spezialisten verlangt, bedeutet aber einen Rückfall in ein vorreformatorisches Zwei-Stufen-Christsein von Christen erster Klasse, die kommunitär leben, und von Christen zweiter Klasse, die in Familie und Beruf verbleiben. Diese Gefahr kann nur gebannt werden, wenn Kirche und Kommunitäten an der Gleichwertigkeit von traditioneller volkskirchlicher und kommunitärer Spiritualität festhalten und darüberhinaus ihr Aufeinanderangewiesensein erkennen. Voraussetzung dafür, daß die Erneuerungspotentiale kommunitärer Frömmigkeit zur Wirkung kommen können, ist schließlich die Überwindung des Mißverständnisses, daß kommunitäre Spiritualität unmittelbar in den Alltag einer Kirchengemeinde übertragen werden könnte. Es geht also nicht um eine »Verklösterlichung« der Kirche. Kein in Familie und Beruf engagierter Christ vermag auf Dauer eine kommunitär geprägte Frömmigkeit zu leben. Z.B. ist es im normalen Alltag kaum möglich, Zeit für regelmäßige Stundengebete einzuräumen. Ebensowenig ist es für einen im Berufsleben Stehenden denkbar, sich spontan für sozial-diakonische Aktionen zur Verfügung zu stellen, die einen größeren Zeit- und Kraftaufwand erfordern. Die besondere Gestalt kommunitären Christseins bedarf der durch die Strukturen einer Kommunität gegebenen Freiräume, um gelebt werden zu können. Dazu gehört vor allem die weitgehende Freiheit von bürgerlichen Familien- und Berufspflichten.

Ziel meiner Überlegungen ist vielmehr, den Weg freizumachen für eine Bereicherung und Herausforderung traditioneller protestantischer Frömmigkeit durch theoretische und praktische Impulse von seiten kommunitärer Spiritualität. Dieses kann nur erreicht werden, wenn sich beide Seiten, Kommunität und Volkskirche, der bleibenden und notwendigen Unterschiedlichkeit ihres spirituellen Lebens bewußt sind.

Im folgenden sollen zunächst exemplarisch Impulse kommunitärer Spiritualität genannt werden, die in theoretischer Hinsicht eine Bereicherung und Herausforderung für die evangelische Frömmigkeit darstellen. Beim Vergleich der unterschiedlichen Kommunitäten zeigt sich, daß ihre Spiritualität pluralistisch ist, ohne deshalb in unverbundene Spiritualitäten zu zersplittern. Die unterschiedlichen kommunitären Spiritualitäten besitzen vielmehr eine gemeinsame Mitte im Glauben an Jesus Christus, in der Liebe zur Bibel, in der Hochschätzung des Gottesdienstes einschließlich der Sakramente und in der Ausrichtung auf Gemeinschaft, Kirche und Gesellschaft. Dadurch wirkt der Pluralismus der kommunitären Spiritualitäten nicht dissoziierend, sondern bereichernd. Christoph Joest begründet das Ineinander von Einheit und Unterschiedenheit der christlichen Spiritualität in dem bereits genannten Artikel mit dem dreieinigen Leben Gottes: »Letztlich ist die ›Dialektik‹ zwischen der einen Spiritualität und den vielen Spiritualitäten, ihre spannungsvolle Einheit und wechselseitige Bedingtheit, implizit im dreifaltig-einen Leben Gottes enthalten, dessen Geist unsere Spiritualität begründet.« Auf diese Weise können Kommunitäten dazu beitragen, in der Gesamtkirche die Bedeutung eines schöpferischen Pluralismus zu entdecken, um einen Begriff Michael Welkers aufzugreifen (Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995). Dies scheint mir eine auf dem Hintergrund der oft zerstörerischen Flügelkämpfe zwischen den Anhängern verschiedener theologischer Richtungen in den Parochialgemeinden besonders dringliche Aufgabe darzustellen.

Die in Kommunitäten gelebte verbindliche Spiritualität bildet angesichts der bei der überwiegenden Mehrzahl der evangelischen Kirchenmitglieder zu beobachtenden Unverbindlichkeit des Glaubens, die sich z.B. an sporadischer oder ganz fehlender Teilnahme am Gottesdienst und dem übrigen Gemeindeleben und an mangelnder Erkenntnis Gottes zeigt, ein wichtiges Gegengewicht. Gegenüber dem gegenwärtig vorherrschenden protestantischen Frömmigkeitstypus, der seit dem 19. Jahrhundert zunehmend von Individualismus, Subjektivismus und Innerlichkeit geprägt wurde, stellt die Neuentdeckung der ekklesiologischen Ausrichtung des Glaubens durch die Kommunitäten ein notwendiges Korrektiv dar.

Indem die geistlichen Gemeinschaften die Bedeutung der Charismen für den Gemeindeaufbau entdeckt haben, tragen sie zur Überwindung der Konzentration des Charismas auf den Amtsträger bei, die für die Gesamtkirche immer noch typisch ist, und helfen so, die reformatorische Forderung nach dem »allgemeinen Priestertum« praktisch umzusetzen.

Das Zentrum kommunitärer Spiritualität bildet die Feier des Gottesdienstes. Mit ihrem Gottesdienstverständnis wenden sich die Kommunitäten gegen die »Herabsetzung des liturgischen Gottesdienstes zu einem bloßen Mittel zur Verwirklichung des vernünftigen Gottesdienstes«5, ein Mißverständnis, das den protestantischen Gottesdienst seit seiner Ethisierung durch Käsemann und Lange bedroht. Für die immer noch primär an den Früchten des Glaubens orientierte volkskirchliche Spiritualität, man denke nur an die Bedeutung des diakonischen und sozialethischen Engagements für das kirchliche Selbstverständnis, bildet kommunitäre Spiritualität damit ein unverzichtbares Korrektiv.

Schließlich stellt auch die eschatologische Ausrichtung kommunitärer Spiritualität eine unverzichtbare Herausforderung gegenüber einer die volkskirchliche Frömmigkeit bis vor wenigen Jahren dominierenden Diesseitsorientierung dar.

Daneben bildet kommunitäre Spiritualität auch in ganz praktischer Hinsicht eine Bereicherung und Herausforderung für die Gesamtkirche. Kommunitäten bieten als »evangelische Gnadenorte« Besuchern und Besucherinnen die Möglichkeit, geistlich aufzutanken. Diesem Zweck dienen spirituelle Tagungsangebote von seiten der Kommunitäten und die Einladung, für kürzere oder längere Zeit in den Kommunitäten mitzuleben (»Kommunität auf Zeit«). In Kommunitäten erfahren Menschen in einer sonst von Lärm und Leistungsdruck geprägten Gesellschaft innere Entspannung: Die von Stundengebeten und Gottesdiensten getragene Spiritualität hilft, zur Stille zu kommen. Ein weiterer praktischer Beitrag kommunitärer Spiritualität für die Gesamtkirche besteht in seelsorgerlichen Angeboten. Kommunitätsmitglieder sind als Fachleute für Seelsorge bekannt geworden und werden von vielen Gemeindegliedern regelmäßig aufgesucht. Die Situation des Abstands vom normalen Alltagsleben während des Aufenthalts in einer Kommunität fördert die Bereitschaft zu existentieller Veränderung, worauf Gerd Heinz-Mohr bereits 1975 in seinem Buch »Die Kunst des geöffneten Lebens« hinwies (S. 44f).

Mit ihrer Spiritualität geben Kommunitäten außerdem eine Antwort auf die in den vergangenen Jahren immer wieder gestellte Frage, wo es im Rahmen der traditionellen Kirche Angebote für - gerade auch junge - religiös suchende Menschen gibt. Kommunitäten bilden Experimentierfelder für Glaubenserfahrungen, was besonders Ulrich Wilckens betont hat, der frühere Beauftragte des Rates der EKD für den Kontakt zu den evangelischen Kommunitäten. Das Moment der Übung ist konstitutiver Bestandteil kommunitärer Frömmigkeit. Dadurch tragen geistliche Gemeinschaften dazu bei, daß dieser von der traditionellen evangelischen Frömmigkeit weithin vergessene Aspekt in die evangelische Spiritualität reintegriert werden kann.6 Gerade für die Glaubensvermittlung ist das Moment der Übung unerläßlich. Kommunitäten heben in diesem Zusammenhang auch den Aspekt des gelebten Vorbilds in seiner Bedeutung für die Weitergabe des Glaubens hervor. Sie können sich dabei auf Dietrich Bonhoeffer berufen, der bereits im »Entwurf einer Arbeit« aus »Widerstand und Ergebung« dem menschlichen Vorbild für die Erneuerung der Kirche eine wesentliche Bedeutung zuerkannte: »Sie [die Kirche] wird die Bedeutung des menschlichen ›Vorbildes‹ (das in der Menschheit Jesu seinen Ursprung hat und bei Paulus so wichtig ist!) nicht unterschätzen dürfen; nicht durch Begriffe, sondern durch ›Vorbild‹ bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft« (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8, 560f). Veranschaulichungsinstanzen des Glaubens sind nötig, weil der Glaube sonst welt- und ortlos wird, d.h. auf der einen Seite in die religiöse Innerlichkeit, auf der anderen Seite ins Jenseits abgedrängt wird. Ohne eine Art Existenzmitteilung der Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu Christi scheint die Vermittlung des Glaubens heute kaum noch möglich zu sein. In gleicher Richtung argumentiert die 1994 erschienene EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht »Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven der Religionsunterrichts in der Pluralität« im Hinblick auf die Aufgabe von Religionspädagogen und -pädagoginnen: »Weil die subjektive Glaubwürdigkeit immer mehr zählt, müssen sich auch die Lehrenden ihrer Vorbildwirkung bewußt sein. Wenn die Plausibilität der Inhalte nicht mehr durch religiöse Sitte und Erfahrung außerhalb der Schule gestützt wird, werden die Personen, wird das gelebte christliche Vorbild besonders wichtig« (S. 29). Konsequenterweise wurde in Kommunitäten die Bedeutung von geistlicher Vater- und Mutterschaft, die bereits für die Seelsorge der ägyptischen Wüstenväter eine wesentliche Rolle spielte, für die Glaubensweitergabe wiederentdeckt.7

Schließlich sind Kommunitäten inzwischen ein beliebtes Ziel für Ausflüge von Gemeindekreisen und Gesamtgemeinden, wobei Einblicke in kommunitäre Spiritualität und Impulse für die Frömmigkeitsgestaltung vermittelt werden. Der gleiche Effekt tritt ein, wenn Gemeindekreise Referenten aus Kommunitäten zu spirituellen und seelsorgerlichen Themen einladen.

Das Erneuerungspotential der Spiritualität von Kommunitäten wird auf Dauer nur dann gesamtkirchlich zur Wirkung kommen, wenn es gelingt, die in Kommunitäten und herkömmlichen Kirchengemeinden gelebte Spiritualität im Sinne einer gegenseitigen Ergänzung und Korrektur wechselseitig aufeinander zu beziehen. Die normale Ortsgemeinde ist und bleibt die Nagelprobe für die in Kommunitäten gewonnenen spirituellen Erkenntnisse. Erst im normalen Alltag in Beruf und Familie zeigt sich ihre Tragfähigkeit. Ein erster Schritt in Richtung auf eine gegenseitige Ergänzung und Korrektur auch in institutioneller Hinsicht wurde durch die Berufung eines Vertreters der Kommunitäten in die Synode der EKD und durch die Berufung eines EKD-Beauftragten für die evangelischen Kommunitäten gegangen. Hier liegen noch unausgeschöpfte Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung. Z.B. wäre zu überlegen, ob dem EKD-Beauftragten - meist jeweils ein im Ruhestand befindlicher Bischof - nicht von den Kommunitäten ein Visitationsmandat übertragen werden könnte. Das würde zur Transparenz der geistlichen Gemeinschaften in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit beitragen. Vielleicht könnte mit diesem Mandat eines Tages auch die Mitwirkung bei der Neuwahl der Kommunitätsleitung verbunden werden und auf diese Weise die häufig die Existenz der Gemeinschaft gefährdenden Turbulenzen beim Leitungsübergang begrenzt werden.

 

 

 

Anmerkungen:

 

1 Vgl. im folgenden bes. Gerhard Hage/Joachim Graf Finckenstein/Gerhard Krause, Art. Bruderschaften/Schwesternschaften/Kommunitäten, in: TRE, Bd. 7, Berlin/New York 1981, 207; Peter Zimmerling, Art. Bruder- und Schwesternschaften, in: ELThG, Bd. 1, Wuppertal/Zürich 1992, 310-312; Hans-Martin Barth, Spiritualität (Bensheimer Hefte, 74, Ökumenische Studienhefte 2), Göttingen 1993; ders., Gemeinsam im Glauben und in der Liebe wachsen. Kriterien evangelischer Frömmigkeit, in: Im Lichte der Reformation. Evangelische Frömmigkeit (Jahrbuch des Evangelischen Bundes, 34), Göttingen 1991, 5-24.

 

2 Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse - Erlebnisse - Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates

der Kirchen. 23. Nov. bis 10 Dez. 1975 in Nairobi/Kenia, hg von Harald Krüger/Walter Müller-Römheld, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1976, bes. 321ff.

 

3 Vgl. im folgenden Lydia Präger (Hg), Frei für Gott und die Menschen. Evangelische Bruder- und Schwesternschaften in Selbstdarstellungen, Stuttgart 1959; Gerd Heinz-Mohr, Christsein in Kommunitäten, Stuttgart 1968; Gottfried Wenzelmann, Nachfolge und Gemeinschaft. Eine theologische Grundlegung des kommunitären Lebens (Calwer Theologische Monographien, Reihe C, 21), Stuttgart 1994; Christoph Joest, Spiritualität in evangelischen Kommunitäten. Altkirchlich-monastische Tradition in evangelischen Kommunitäten von heute, Göttingen 1995; Ingrid Reimer, Verbindliches Leben in evangelischen Bruderschaften und kommunitären Gemeinschaften (Studienbücher der Stiftung Geistliches Leben), Gießen 1999.

 

4 Entsprechende Phänomene im Rahmen der »Evangelischen Marienschwesternschaft« in Darmstadt-Eberstadt haben jüngst zwei ehemalige Marienschwestern kritisiert: Marianne Jansson/ Riitta Lemmetyinen, Wenn die Mauern fallen. Zwei Marienschwestern entdecken die Freiheit des Evangeliums, Bielefeld 1997; dies., Christliche Existenz zwischen Evangelium und Gesetzlichkeit. Darstellung und Beurteilung von Lehre und Leben der »Evangelischen Marienschwesternschaft« in Darmstadt (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23 Theologie, 605), Frankfurt a.M./ Berlin / Bern / New York/Paris/ Wien 1997.

 

5 So Eberhard Jüngel, Der evangelisch verstandene Gottesdienst, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens, Theologische Erörterungen III (Beiträge zur evangelischen Theologie, 107), München 1990, 305.

 

6 Vgl. dazu im einzelnen Manfred Seitz, Evangelische Askese, in: ders./Hans-Rudolf Müller-Schwefe, Evangelische Askese. Einübung in die Zeitlichkeit (Kirche zwischen Planen und Hoffen. Neue Folge, Heft 19), Kassel 1979, 7ff; Manfred Seitz, Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität, 3. Auflage, Göttingen 1985, bes. 155ff; ders., Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität, 2. Auflage, Göttingen 1991, bes. 57ff; Horst Reller/ Manfred Seitz, Herausforderung: Religiöse Erfahrung. Vom Verhältnis evangelischer Frömmigkeit zu Meditation und Mystik, Göttingen 1980.

 

7 Vgl. im Hinblick auf geistliche Vaterschaft den instruktiven Aufsatz von Rudolf Bohren, Mit dem Geist bekommen wir Väter und mit den Vätern einen Geist, zuletzt abgedruckt in: Peter Zimmerling (Hg), Aufbruch zu den Vätern. Unterwegs zu neuer Vaterschaft in Familie, Kirche und Kultur, Moers 1994, 44-65.

 

 

 

 

 

Über die Autorin / den Autor:

PD-Dr. habil. P. Z., geb. 1958 in Nidda/ Oberhessen; Studium der Evangelischen Theologie in Krelingen, Tübingen, Erlangen; Vikariat in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau; Pfarrer der Kommunität Offensive Junger Christen, Reichelsheim i.Odw.; Promotion zum Dr. theol. über Zinzendorfs Trinitätslehre; 1999 Habilitation an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über die charismatischen Bewegungen der Gegenwart, dort und an der Universität Mannheim seitdem Privatdozent für Praktische Theologie. Veröffentlichungen (in Auswahl): Starke fromme Frauen, Begegnungen mit Erdmuthe von Zinzendorf, Juliane von Krüdener, Anna Schlatter, Friederike Fliedner, Dora Rappard-Gobat, Eva von Tiele-Winckler, Ruth von Kleist-Retzow (3. Auflage 1999); Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeinde. Geschichte, Spiritualität und Theologie (1999); zusammen mit Rainer Mayer: Dietrich Bonhoeffer: Beten und Tun des Gerechten. Glaube und Verantwortung im Widerstand (1997); Die charismatischen Bewegungen. Theologie, Spiritualität, Anstöße zum Gespräch (2001).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2001

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