Wenn es in der Theologie um den christlich-islamischen Dialog geht, dann kommt es oft zu bekenntnishaften Diskussionen. Dann wird den Akteuren vorgeworfen, sie würden das christliche (trinitarische) Gottesbild aufgeben oder ihre Theologie sei nicht mehr christologisch begründet oder sie würden alles in einem synkretistischen Einheitsbrei vermischen. Die Frage der »Orthodoxie« rückt schnell ins Zentrum. Nichtsdestotrotz gibt es viele Angehörige verschiedener Religionen weltweit, denen interreligiöse und interkulturelle »Ortho­praxie« ein wichtiges Anliegen ihres beruflichen Alltags geworden ist. Für sie sind die theologischen Fragen schon insoweit geklärt, dass Kooperation möglich ist; oder für sie klären sich theologische Fragen auf dem Weg gemeinsamer Praxis. Dirk Siedler berichtet vom ­»Internationalen Seminar für Interkulturelle Seelsorge und Beratung« im Oktober 2018 in Wien, das mit 100 Teilnehmenden aus aller Welt zum 30. Mal stattfand.


30 Jahre internationaler und interreligiöser Austausch

Schon Ende der 1980er Jahre wurden in Wien Interkulturalität und Interreligiosität in der Seelsorge ein zentrales Thema. Früher kam diese Thematik nur in den Schulen und der Religionspädagogik an. Die frühzeitige Aufmerksamkeit auf dieses Thema ist dem spiritus rector der Tagungen, Helmut Weiß, zu verdanken. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der »Gesellschaft für interkulturelle Seelsorge und Beratung« (sipcc) und hat dem Thema durch zahlreiche Veröffentlichungen eine breite Öffentlichkeit verschafft.

Thema der Tagung zum 30. Jubiläum im Oktober 2018 war »Religionen im Dialog: Zusammenarbeit in interkultureller und interreligiöser Seelsorge«. Sie weitete den Blick international, kulturell und religiös: Teilnehmende und Referent*innen waren auch aus Osteuropa gekommen, aus Asien, Afrika, Nord- und Südamerika. Sie gehörten nicht nur dem Christentum, Judentum und Islam an, sondern auch dem Buddhismus und Hinduismus. Darin bestand eine besondere Qualität dieser Tagung: nicht nur mit Angehörigen der drei monotheistischen Schriftreligionen ins Gespräch zu kommen, sondern auch mit Buddhisten und Hindus. Alle verfügten über wertvolle Expertise in der Seelsorge und im Dialog vor Ort, sodass sie aus einem tiefen Fundus beruflicher und persönlicher Erfahrungen schöpfen konnten. In dieser Breite und Qualität ist dies bestimmt einzigartig.

Eine andere Besonderheit dieser sechs (!) Konferenztage war, dass die Hauptvorträge immer dreifach besetzt waren. So folgten auf einen Vortrag immer zwei Reflexionen von Angehörigen zweier anderer Religionen. Dieser »Trialog« war an sich schon so anregend und intensiv, dass am Ende oft die Zeit fehlte, um den Vortrag noch länger im Plenum zu diskutieren. Offene Fragen konnten zum Abschluss eines Tages in festen Kleingruppen weiterdiskutiert werden.


Geschenkte Wahrheitsgewissheit

Susanne Heine, Wien, plädierte im eröffnenden Vortrag dafür, eine Seelsorge zu entwickeln, die sich einer religiösen Interpretation enthalte und den Hilfe suchenden Menschen in den Mittelpunkt stelle. Dies sei eine Basis für eine interreligiöse seelsorgliche Praxis. Diese müsse in einer religionspluralistischen Welt die Konkurrenz- und Machtkämpfe überwinden, die die bisherige Geschichte bestimmt hätten. Heine sieht die Basis für eine interreligiöse Seelsorge in einer »Glaubensgewissheit«, die immer mit Wahrheitsgewissheit zu tun habe: »Wer … erkennt, dass die eigene Wahrheitsgewissheit geschenkt wurde, kann dann auch die Wahrheitsgewissheit von Menschen anderer Religionen als eine geschenkte anerkennen. Darin gründet der Respekt voreinander.«

Der Bezugspunkt »Wahrheitsgewissheit« ermögliche es, die eigenen Glaubensüberzeugungen nicht auszublenden, ohne sich durch wechselseitige Konkurrenzen zu blockieren. Gegenüber abstrakten Vorstellungen von Liebe, Gerechtigkeit oder Transzendenz, die oft dem konkreten religiösen Erleben übergeordnet würden, ermögliche dieser Ansatz konkrete interreligiöse Begegnung auf der Ebene des Gebets und des Gottesdienstes. Jeder Glaubende – nicht nur Christinnen und Christen – wisse, dass »kein Glaube Zweifel ausschließt und jemals vollkommen mit dem Willen Gottes übereinstimmen kann, so dass er (oder sie) angewiesen bleibt auf Gottes Barmherzigkeit«. So verbinde die Angehörigen verschiedener Religionen das gemeinsame Bewusstsein des Geschenkcharakters des Glaubens. Dies ermögliche dann auch, die Liebe anderer zu ihrer Religion nachzuvollziehen und zu bejahen.

In seiner Erwiderung konnte der Ankaraer Theologe Cemal Tosun an Ausführungen Heines anknüpfen und darlegen, dass es im Islam keine Konzentration auf Buße und Sünde gebe. Das Hauptprinzip sei, die Reinheit der Gemeinde zu erhalten und anderen Menschen zu helfen.


Ein Gefühl für den Anderen

Im nächsten Vortrag widmete sich Willy Weisz dem aktuellen Thema »Flüchtlinge und andere Fremde – Jüdische Zugänge von der Bibel bis ins 21. Jahrhundert«. Weisz ist jüdischer Vizepräsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich und verantwortet die jüdische Patientenbetreuung am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, einem der größten Krankenhäuser Europas. Hier haben nicht nur christliche Konfessionen Möglichkeiten der Seelsorge, sondern auch jüdische, muslimische und buddhistische Gemeinden. Ihre Büros sind allesamt auf einem Flur, was eine sehr gute Kooperation ermöglicht.

Weisz stellte zuerst die schwierigen aktuellen Entwicklungen in Österreich dar, die er anhand der Einrichtung einer Sektion »Fremdenwesen« im Innenministerium fokussierte. Hinzu kämmen die diskriminierenden Folgen, die es habe, dass die Begriffe »Fremde«, »Migranten« und »Flüchtlinge« seit Monaten die Debatte beherrschten. Weisz unterschied in der Bibel nechar / »fremd« (manchmal auch sar) vom ger / »einem Fremden«, der zumindest temporär seinen Wohnsitz im Siedlungsgebiet Israels hat. Der nechar galt als ein Götzendiener, der sich nicht den Vorschriften des bildlosen Monotheismus unterwarf. Die Teilnahme am Opferdienst war ihm verwehrt, ebenso durfte er nicht vom Pessach-Opfer essen. Vom ger (von g-w-r »wohnen«) wurde erwartet, dass er keinen Götzenkult betrieb; die Männer waren allerdings nicht zur Beschneidung verpflichtet. Für ihn galten die sieben noachidischen Vorschriften und die gleichen Gesetze wie für die jüdische Umgebung. Seine Rechte durften nicht eingeschränkt, und er durfte nicht drangsaliert werden (Ex. 22,20; 23,9). Ihm musste Gerechtigkeit widerfahren (Dtn. 24,17). Wer dies missachtete wurde verflucht (Dtn. 27,19)!

Die Erinnerung an die eigene Fremdheitserfahrung führte zur Aufforderung, Fremden Nächstenliebe entgegenzubringen und ein »echtes Gefühl für den Anderen« zu entwickeln. Das Wort ahav könne zweierlei bedeuten: etwas oder jemanden lieben und/oder jemandem etwas zuliebe tun. Gott liebe den Fremden (Dtn. 10,18). Daher habe der »Fremde das Anrecht, Objekt der Liebe durch die Menschen« (Dtn. 10,19) zu sein. In der Bibel werde nicht zwischen Wirtschafts- und politischen Flüchtlingen unterschieden. Einziges Kriterium sei, ob die Fremden Spione wären und evtl. böse Absichten hätten.

Die Unterscheidung von nechar und ger überträgt Weisz dann in die Gegenwart: Am Umgang mit dem nechar orientiert fordert er, dass die Verwaltung »nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht [habe] Zuzug zu verhindern oder … rückgängig zu machen«, sobald ein Migrant die Gesetze des Gastlandes missachte. Weisz kritisiert jedoch, dass derzeit viel mit Vorurteilen argumentiert wird, sodass jeder Migrant vorab erst einmal zum nechar gemacht werde. Das erschwere den Nachweis einer ger-artigen Einstellung. Den Geboten widerspreche eine Ungleichbehandlung von ger-artigen Migrant*innen. Weisz lehnt ungleiche Sozialzuwendungen ab, wie sie infolge der Indexierung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder anhand der dortigen Lebenshaltungskosten entstehen.


Anwendbarkeit des biblischen Ethos in heutiger Zeit?

In ihrer Erwiderung stellte die Wiener Theologin Regina Pollak, auch Mitarbeiterin im Netzwerk »Religion im Kontext von Migration«, die Kontinuität im jüdisch-christlichen Ethos besonders heraus; fragte aber auch nach der Anwendbarkeit des biblischen Ethos in heutigen säkularen Gesellschaften. In biblischen Zeiten habe es keine Nationalstaaten und keine nationalen Grenzen gegeben. Eine wichtige Aufgabe werde es zukünftig sein, in einer Weltgesellschaft zusammenzuleben.

Von muslimischer Seite reagierte Abdelmalek Hibaoui. Er hat in Marokko studiert, promovierte in Rabat in Islamischen Studien, war dort und später in Stuttgart Imam. Dort koordinierte auch das Projekt »Interkulturelle Öffnung und Qualifizierung der islamischen Gemeinden« bevor er Akademischer Mitarbeiter an der Universität Tübingen wurde. Er rekonstruierte, wie der Islam im 8. Jh. mit Nicht-Muslimen umgegangen ist anhand des Konzepts der Schutzbefohlenen, dem der Grundsatz zugrunde gelegen habe: Was für uns gilt, gilt auch für sie (die Nicht-Muslime). Oberstes Ziel sei Gerechtigkeit gegenüber den Fremden: Großzügigkeit und selbstlose Aufopferung (Sure 2,177).

Neben diesen und weiteren Hauptvorträgen vertieften Andachten, Workshops und Exkursionen die Diskussion. Besonders eindrücklich war das jüdische Morgengebet, zu der Rabbi Danny Smith von der »Edgware & Hendon Reform Synagogue« die Teilnehmenden aus den verschiedenen Religionen einlud.



Religionen als Ressourcen für den Frieden

An den vier vollen Seminartagen hatten die Teilnehmenden nachmittags die Auswahl zwischen 13 verschiedenen Workshops. Hier spiegelten sich in besonderer Weise die ganz unterschiedlichen Kontexte, die die Teilnehmenden in die Konferenz einbrachten und so den Horizont weiteten. Einzelne Workshops seien beispielhaft erwähnt: Maung Maung Yin, Professor für christliche Sozialethik und Friedensforschung und Direktor des »Peace Studies Centre« in Myanmar, beschrieb und erläuterte die Situation vor Ort und hob hervor, dass die Konflikte in den Medien fast ausschließlich als religiöse Konflikte wahrgenommen würden. Sicherlich seien einige interreligiöse Angelegenheiten, bei anderen ginge es aber um ethnische Konflikte, soziale und gesellschaftliche Ungleichheiten, Menschenrechtsverletzungen u.a., die dann erst zu religiösen Konflikten gemacht würden. Er plädierte dafür, Lösungen für die konkreten Probleme zu finden, und zwar »durch interreligiösen Dialog, Verständnis und gemeinschaftliche Taten für den Frieden«. Yin konnte von den Anstrengungen der Religionen, der Zivilgesellschaft und der NGOs anschaulich berichten: »Religionen können zur Quelle des Bösen …, aber auch zu Ressourcen für den Frieden werden«.

Bewegend war auch der Bericht von John Joseph Masih, Pfarrer in Pakistan. Er leitet sechs Gemeinden und ein Bibelinstitut, war selbst mehrere Jahre im Gefängnis aufgrund angeblicher Verstöße gegen das sog. »Blasphemiegesetz«, von dem Christen und Muslime betroffen sind. Obwohl dieses Gesetz eine Mauer zwischen Muslimen und Christen baut und besonders Christen diskriminiert, konnte Masih auch von Erfahrungen gegenseitiger Hilfe und Unterstützung von Muslimen und Christen berichten. So konnte ihm ein muslimischer Geistlicher einen Anwalt vermitteln, der bereit war, einen Christen vor Gericht zu verteidigen. Sein Team will die Opfer dieses Gesetzes unterstützen wie z.B. Asia Bibi, und hat Beschuldigte beherbergt. Worin sieht er einen Lösungsweg? Für die Vertiefung interreligiöser Beziehungen, den verstärkten Schutz der Menschenrechte und die Einrichtung von Beratungszentren.

Es war sehr auffällig, dass gerade Christen aus repressiven mehrheitlich muslimischen Staaten im Dialog einen zentralen Weg zur Verständigung und zur »Lösung« der Konflikte in ihren Ländern sahen.


Nicht-therapeutische Faktoren in der Behandlung von Patienten

Der Workshop von Zehra Ersahin (Psychologin, spirituelle Betreuung in der Türkei), Nevfel Boz (Psychologe) und Suheyb Okur (Imam und Seelsorger in einem onkologischen Krankenhaus in der Türkei) bot interessante Einblicke in die seelsorgliche Arbeit in der Türkei. Sie stellten ihr Forschungsprojekt vor, mit dem sie gemeinsame Aspekte in spirituell orientierten therapeutischen Beziehungen untersuchen. Ihr Ziel sei dabei, verschiedene Religionen und Kulturen zu überbrücken. Ausgangspunkt sind die Arbeiten über allgemeine Therapiefaktoren in der Psychotherapie von Michael Lambert, die kurz so zusammengefasst wurden: 15% Placebo und Hoffnung, 30% das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut, 40% liegen beim Klienten selbst und nur 15% sind Folge der Therapie. Nicht-therapeutische Faktoren haben also einen hohen Anteil an einer Heilung. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Faktoren auf Seiten des Patienten und der Seelsorge. Das Forschungsteam will in Interviews mit einem orthodoxen Priester, einem Rabbiner, einer Nonne und einem Mufti herausfinden, welchen Einfluss die verschiedenen Religionen haben.

Das Projekt steht am Anfang, sodass überwiegend noch anstehende Klärungen beschrieben wurden. Deutlich wurde, dass dieselben Rituale und Methoden in den verschiedenen Religionen begegnen (aber jeweils unterschiedlich ausgeprägt sind) oder Entsprechungen haben. Dazu zählen unbedingte Wertschätzung, Gebete (in der Sprache der heiligen Bücher), aktives Zuhören, Empathie, Humor, Ermutigung, motivierende Interviews, Gottvertrauen (in Gottes »Plan«?) und Teilhabe an einer religiösen Gemeinschaft. Kritisiert wurde, dass Interviews mit jeweils nur einem Angehörigen einer Religion eine zu kleine Basis bilden.


Ein echtes Lernfeld des interreligiösen Gesprächs

Über alle Fachinformationen und Projekte hinaus waren für mich die persönlichen Begegnungen besonders wertvoll: In den Andachten, Vorträgen, Workshops, beim Mittag- und Abendessen, bei Empfängen und geselligen Veranstaltungen konnte ich vieles über die aktuelle politische und (inter)religiöse Situation in vielen Ländern der Welt erfahren, z.B. über die Situation in Polen, Italien, Tschechien, Tansania usw. Das ist ein unschätzbarer Wert, weil persönliche Gespräche sehr viel eindrücklicher sind als Zeitungsartikel o.ä. Horizonterweiternd war auch, dass die meisten Teilnehmenden aus Beratungskontexten stammten wie z.B. Supervisoren, Psychologen und Berater. Das hat einerseits die Diskussionsweise stark verändert; andererseits war aber auch bedauerlich, dass nur so wenige (Gemeinde)-Pfarrer*innen die Chance genutzt haben, durch direkte Begegnungen zu erleben wie interreligiöser Dialog in vielen Regionen der Welt geschieht. Diese Tagung ist ein echtes Lernfeld des interreligiösen Gesprächs – abseits der medial vermittelten Abgrenzungen und Diskriminierungen.


Dirk Chr. Siedler

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Dirk Chr. Siedler, Pfarrer in Düren, Islambeauftragter des Kirchenkreises Jülich; verschiedene Veröffentlichungen zum christlich-islamischen Gespräch und zu Paul Tillich.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2019

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.