Schaut man auf die Seite der Aufgaben und Aktivitäten innerhalb der Kirche, so scheint Kirche höchst vital. Umso erstaunlicher, dass dennoch regelmäßig und jüngst verstärkt von Krisen der Kirche geredet wird. Es gibt durchaus so etwas wie eine Diskrepanz zwischen kirchlicher Vitalität einerseits und der regelmäßigen Thematisierung von Krisen der Kirche andererseits. Gerald Kretzschmar greift diese Diskrepanz auf und fragt nach den Kontexten, in denen die Rede von der Krise der Kirche verortet ist, und welchen Funktionen die Krisenwahrnehmung dient.*


In der Kirche gibt viel zu tun, oft zu viel. Die Terminkalender der Pfarrerinnen und Pfarrer sind dicht beschrieben – kurz: Pfarrerinnen und Pfarrer sind gefragte Leute und damit scheint auch die Kirche gefragt zu sein. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind Kirche und kirchliches Leben Bereiche, die regelmäßig unter dem Gesichtspunkt der Krise wahrgenommen werden. Es gibt so etwas wie eine Diskrepanz zwischen kirchlicher Vitalität einerseits und der regelmäßigen Thematisierung von Krisen. In meinem Beitrag greife ich diese Diskrepanz auf und frage: In welchen Kontexten ist die Rede von der Krise der Kirche verortet? Wie ist sie beschaffen? Gibt es neben der Krisenwahrnehmung andere Sichtweisen auf das kirchliche Leben?


1. Krisendiskurse – die soziale Konstruktion der kirchlichen Krisen-Wirklichkeit

Zur Wahrnehmung der kirchlichen Krisen-Wirklichkeit betrachte ich das gegenwärtige kirchliche Leben in den Dimensionen der Öffent­lich­keit, des Individuums und der ­Insti­tu­tion.


Öffentlichkeit

Zunächst zur Dimension der Öffentlichkeit. Ich habe den Eindruck, seit dem 11. September 2001 gewinnt das Thema Religion im Allgemeinen und die Frage nach der gesellschaftlichen Präsenz der Kirche im Speziellen an Bedeutung. Die beiden großen Kirchen werden in der Summe als Repräsentantinnen der religiösen Identität unseres Landes wahrgenommen, insbesondere vor dem Hintergrund der Multikulturalität unserer Gesellschaft. Für ihr diakonisches und integrierendes Engagement in diesem Zusammenhang wird der Kirche von vielen ein hohes Ansehen entgegengebracht. Natürlich gibt es im öffentlichen Raum auch immer wieder Kritik an der evangelischen Kirche. Doch in der Summe würde ich im öffentlichen Raum nicht von einer Krisenwahrnehmung als dominierender Sichtweise auf die evangelische Kirche ausgehen.


Individuum

Nun zur individuellen Dimension: Auch auf der individuellen Ebene wird die Kirche meines Erachtens nicht primär unter dem Aspekt der Krise wahrgenommen. Aus der Sicht der Individuen erfolgt die Wahrnehmung der Kirche vor allem unter dem Aspekt des Nutzens. Natürlich gibt es Kirchenaustritte, und das auf einem zahlenmäßig leider hohen Niveau. Doch diejenigen, die austreten, tun dies nicht im Kontext einer Krisenwahrnehmung, sondern weil die Kirchenmitgliedschaft für sie gewissermaßen als Komplettpaket nicht mehr nützlich ist.

Neben denjenigen, die aus der Kirche austreten, steht die große Zahl derer, die die Kirchenmitgliedschaft aufrechterhalten. Rund 21 Mio. Menschen gehören in Deutschland der evangelischen Kirche an. Sie sehen einen Nutzen in der Aufrechterhaltung der Kirchenmitgliedschaft. 70% der Mitglieder werten die Mitgliedschaft in der Kirche positiv, indem sie sich als mit der Kirche verbunden bezeichnen.


Institution

Schließlich zur institutionellen Dimension. Hier ist der eigentliche Ort der Rede von der Krise der Kirche. Exemplarisch greife ich aus der institutionellen Ebene der Kirche vier Felder heraus, in denen Krisendiskurse verortet sind:


Besonders engagierte Personen in der Gemeinde

Ein erstes Feld bezieht sich auf den Kreis besonders engagierter Personen in der Gemeinde. Krisendiskurse in diesem Bereich zeichnen sich durch Vergleiche der vorfindbaren Praxis mit bestimmten Vergleichspunkten aus. In temporaler Hinsicht wird ein aktuelles Praxisfeld mit der Praxis vergangener Zeiten verglichen: Früher kamen mehr Leute zum Sonntagsgottesdienst, die Zahl der Mitglieder des Kirchenchores war viel höher, Gruppen und Kreise gab es auch viel mehr – so einige geläufige Krisendiagnosen. In lokaler Hinsicht wird auf Veranstaltungen und Projekte an anderen Orten verwiesen. Es wird moniert, dass es bestimmte Angebote in der eigenen Gemeinde gar nicht oder nicht in zufriedenstellender Weise gebe.

Dieser Krisendiskurs geht zwar von engagierten Einzelpersonen aus, auf Grund seiner flächendeckenden Präsenz ist er aber für die kirchliche Krisen-Wirklichkeit insgesamt bedeutsam. Er ist ein struktureller Bestandteil der Institution Kirche. Der Effekt dieses Krisendiskurses besteht in einer Abwertung des gegebenen kirchlichen Lebens vor Ort. Die individuellen Motivlagen derjenigen, die in den Kirchengemeinden solche »Früher-Heute- bzw. Dort-bei-denen-hier-bei-uns-Krisendiskurse« initiieren, dürften vielgestaltig sein. In funktionaler Hinsicht geht es wohl um mehr, oder um ganz anderes als um die Frage, wie das kirchliche Leben vor Ort sinnvoll verändert werden könnte.


Kirchengemeinderäte

Als weiteres Feld eines Krisendiskurses auf der institutionellen Ebene ist die Arbeit der Kirchengemeinderätinnen und -räte zu nennen. Dieser Krisendiskurs ist charakterisiert durch die kontinuierliche Konfrontation mit Messzahlen zu den finanziellen und personellen Ressourcen, den Gemeindegliederzahlen oder den Teilnehmerzahlen an den Veranstaltungen. Maßgeblich ausgelöst wird das Krisenempfinden durch rückläufige Zahlen bei gleichzeitiger Selbstverpflichtung, alles weiter so aufrechtzuerhalten wie bisher. Die Funktion dieses Krisendiskurses besteht darin, die Verantwortung für notwendige Veränderungen und deren Folgen nicht alleine zu tragen, sondern an anderer Stelle zu verorten. Wenn man so will, eine Entlastungsfunktion, die die Kirchengemeinderäte arbeitsfähig hält.


Empirische Forschung

Ein dritter Krisendiskurs auf institutioneller Ebene geht mit der empirisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtung des kirchlichen Lebens einher. Seit über 150 Jahren gibt es nun so etwas wie eine empirische Kirchlichkeitsforschung. Die vorherrschende Art, Religiosität und Kirchlichkeit wahrzunehmen, folgt seitdem diesem Muster: Religiosität und Kirchlichkeit werden auf eine eng begrenzte Zahl von Dimensionen wie z.B. den Besuch des Sonntagsgottesdienstes, Gebetshäufigkeit und Zustimmung zu bestimmten dogmatischen Aussagen reduziert. Je nachdem, inwieweit die Befragten angeben, die genannten Praktiken auszuüben und bestimmten Aussagen zuzustimmen, werden sie als mehr oder minder religiös und kirchlich klassifiziert. Hier tritt ein streng positivistisches Religions- und Kirchenverständnis zutage. An die Weite und Komplexität ­etwa der protestantischen Kirchentheorie und Ethik reicht dieses nicht einmal annähernd heran. Die Deutungen der erzielten Befunde sind dann immer die gleichen: den Menschen werden ausgeprägte Defizite in ­Sachen Religiosität und Kirchlichkeit unterstellt.

Stellt sich auch hier wieder die Frage nach der Funktion dieses Krisendiskurses. Auf wissenschaftlicher Ebene dienen diese Krisendiagnosen als empirische Bestätigung der persönlich bevorzugten Theorie der deutenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die zugrunde gelegte Bezugstheorie ist hier eine unterkomplex angelegte Variante der Säkularisierungsthese. Ihre Grundannahme ist das sukzessive Schwinden von Religiosität und Kirchlichkeit in modernen Gesellschaften. Es handelt sich also um die nachträgliche empirische Illustration eines Sachverhalts, der von vornherein als unumstößliche Tatsache im Raum steht.


Kirchenleitungen

Das vierte und letzte Feld eines kirchlich-institutionellen Krisendiskurses bezieht sich schließlich auf den Bereich von Kirchenleitungen. Das Muster kirchenleitender Krisendiskurse basiert auf der Präsentation von rückläufigen Messzahlen z.B. in Bezug auf Finanzen, Personal und Mitglieder und/oder eben auf der Präsentation empirischer Befunde, die einen angeblich gravierenden Schwund von Religiosität und Kirchlichkeit belegen sollen. Auf die Zeichnung eines Krisenszenarios folgen in der Regel Vorschläge zur künftigen Gestaltung des kirchlichen Lebens. Meist stehen gar nicht so sehr die empirischen Analysen im Vordergrund, sondern spezifische Programmatiken, deren Realisierung weitreichende Folgen für das kirchliche Leben hat. Die Präsentation von Zahlen und anderen empirischen Befunden erfüllen weniger eine analytische, handlungsorientierende Funktion als vielmehr eine rhetorische Funktion, nämlich die der Erzeugung von Handlungsdruck. Ziel ist es, die jeweils empfohlene Programmatik als gleichsam zwangsläufig notwendig und alternativ­los zu inszenieren.

Ein prominentes Beispiel für einen Krisendiskurs, der diesem Muster folgt, ist der im Jahr 1999 von dem EKD-Papier »Das Evangelium unter die Leute bringen« angestoßene evangelikal-missionarische Reformprozess, der im weiteren Verlauf in das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« aus dem Jahr 2006 mündete. Dieser Krisendiskurs auf kirchenleitender Ebene wirkt sich bis in die Gegen­wart auf weite Teile des kirchlichen ­Lebens aus – und das mit weitreichenden Problematiken in Bezug auf die Gefährdung gewachsener und vitaler kirchlicher Strukturen, in Bezug auf die Wahrnehmung der ­Kirchen­mit­glieder und ihrer pluralen Formen der Kirchenbindung, aber auch in Bezug auf das Verständnis des Pfarrberufs, auf die Bedeutung der parochial verfassten Kirchengemeinden und damit einhergehend auf die Bedeutung örtlicher und personaler Bindungen.


Zwischenresümee

Als Zwischenresümee kann festgehalten werden: Die kirchliche Krisen-Wirklichkeit ist hauptsächlich auf der institutionellen Ebene des kirchlichen Kommunikationsgefüges verortet. Auf die Ebene der Individuen und die Ebene der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erstreckt sich die kirchliche Krisen-Wirklichkeit dagegen kaum oder gar nicht.

Die Konzentration der kirchlichen Krisen-Wirklichkeit auf der institutionellen Ebene legt die Schlussfolgerung nahe, dass Krisendiskurse ein konstitutives Element auf der institutionellen Ebene des kirchlichen Lebens darstellen. Zugespitzt gesagt: In der Kirche sind Krisendiskurse auf Dauer institutionalisiert. Aus diesem Grund scheint es gar nicht so ertragreich zu sein zu überlegen, wie die Rede von der Krise aus dem Gefüge der kirchlichen Kommunikation beseitigt oder zumindest zurückgedrängt werden könnte. Meines Erachtens ist es sinnvoller, die jeweiligen Krisendiskurse als festen Bestandteil kirchlich-institutioneller Kommunikation zu begreifen und nach deren Funktion innerhalb dieser Kommunikation zu fragen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Rede von einer Krise immer schon das Ergebnis einer Deutung ist, die in der Regel auch eine andere Überschrift als die der ­Krise tragen könnte.


2. Kirchliches Leben unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation

Um spezifische Faktenkonstellationen vertieft wahrnehmen zu können, die von kirchlichen Akteuren als Krisen gedeutet werden, nenne ich kurz die Charakteristika modernetypischer Kommunikation. Das konkrete Theoriemodell, auf das ich mich beziehe, ist das der mediatisierten Kommunikation. Diese ist charakterisiert durch die Faktoren

• Mittelbarkeit
• geringe wechselseitige Rückkopplung
• Anonymität und Distanz
• hochgradige Selektion
• individuelle Deutungsleistungen auf der Rezipientenseite.

Grundmodus der mediatisierten Kommunikation ist die Distanz. Sie eröffnet den Individuen den Freiheitsraum, über das Maß an Nähe und Verbindlichkeit in den unterschiedlichen Kommunikationssituationen frei zu entscheiden. Bestünde diese Möglichkeit nicht, wäre das das Ende des Zusammenhalts einer modernen pluralisierten Gesellschaft. Schließlich garantiert die Distanz als Grundmodus gesellschaftlicher Kommunikation sowohl die Koexistenz unterschiedlicher und zum Teil auch unvereinbarer Interessen der Gesellschaftsmitglieder als auch die Möglichkeit, von Distanz auf Nähe umzuschalten und – zumindest für begrenzte Zeiträume – in größere Nähe zueinander zu ­treten.

Scheinbar paradox formuliert: Soziale Distanz ist der Kitt moderner pluralisierter Gesellschaften. Und: Soziale Distanz ist auch der Kitt der gesellschaftlichen Großorganisation Kirche.


3. Die kirchlich-institutionelle Krisen-Wirklichkeit im Kontext mediatisierter Kirchenbindung

Die Faktenkonstellationen, die im Rahmen der kirchlich-institutionellen Krisendiskurse als Krise bezeichnet werden, lassen sich aus der Perspektive der Theorie der mediatisierten Kommunikation auch anders denn als Krise verstehen.


Besonders engagierte Personen in der Gemeinde

Zunächst zum Krisendiskurs, den Personen aus dem Kreis besonders engagierter Personen regelmäßig initiieren. Die Vergleiche mit vermeintlich besseren vergangenen Zeiten und besseren Zuständen sind kein Indikator für eine Krise in der Gegenwart. Sie sind lediglich Ausdruck der Wahrnehmung, dass die Zeit vorangeschritten ist. Die gesellschaftlichen Strukturbedingungen und mit ihnen auch die Rahmenbedingungen des kirchlichen Lebens haben sich geändert. Hier geht es um Phänomene des Wandels.

Auch die Hinweise auf andere Orte, an denen mehr und Besseres geschehe als in der eigenen Gemeinde, muss nicht im Sinne einer Krisenwahrnehmung gesehen werden. Vielmehr steht die Beobachtung von Anderem an anderen Orten für den weiten Spielraum, den das kirchliche Leben der Gegenwart für die Gestaltung der konkreten Aktivitäten vor Ort bietet. Angesichts der Vielfalt möglicher bindungsrelevanter Themen und dazugehöriger Veranstaltungen müssen die verantwortlichen Akteure in den Kirchengemeinden je nach personellen und strukturellen Bedingungen Schwerpunkte setzten. ­Alles wird niemals möglich sein.

Kirchengemeinderäte

Zum Krisendiskurs wie er im Kontext der Arbeit der Kirchengemeinderätinnen und -räte anzutreffen ist: In erster Linie sind die Messzahlen, mit denen Kirchengemeinderäte konfrontiert sind, nichts anderes als die Konsequenz des demografischen Wandels unserer Gesellschaft. Für die Kirche fallen die Ergebnisse dieses demografischen Wandels negativ aus. Doch auch hier gilt: Die stattfindenden Veränderungen müssen nicht per se als Krise gedeutet werden. Für sich genommen sind sie erst einmal Phänomene des Wandels unserer Gesellschaft, die zu einem Wandel des kirchlichen Lebens führen werden.


Empirische Forschung

Die Krisendiskurse, die es im Umfeld von empirisch-sozialwissenschaftlichen Aktivitäten gibt, und die das kirchliche Leben aus einer unterkomplexen säkularisierungstheoretischen Sicht betrachten, sprechen ebenfalls nichts an, was zwingend als Krise zu bezeichnen wäre. Zur Bestätigung eines von vornherein hermetisch geschlossenen Theoriesettings werden hier einseitig Phänomene eines vermeintlichen Schwundes und Abbruchs in den Blick genommen. Betrachtet man das kirchliche Leben dagegen unter dem Gesichtspunkt mediatisierter Kommunikation, kommen in erster Linie Phänomene des Wandels und der Ausdifferenzierung in den Blick.


Kirchenleitungen

Die von Kirchenleitungen initiierten Krisendiskurse geben vor, dass es aus einer vermeintlichen Krise nur den Ausweg über eine ganz bestimmte Programmatik gibt. Sie gelte es jetzt dringend und konsequent in die Tat umzusetzen. Ähnlich wie bei den schlichten säkularisierungstheoretischen Krisendiskursen fällt auch hier wieder auf: Nur bestimmte Phänomene werden herausgegriffen und einseitig unter dem Aspekt des Rückgangs betrachtet, nicht aber unter dem des Wandels.

Ferner wird ein Kirchenbild aus der Vielzahl faktisch vorhandener und bindungsrelevanter Kirchenbilder programmatisch exponiert und als handlungsleitende Größe für anstehende Strukturveränderungen präsentiert. Aus der Sicht mediatisierter Kommunikation geht es vornehmlich um die Durchsetzung partikularer Interessen. Eine Teilgruppe innerhalb der plural verfassten und sozial wie funktional ausdifferenzierten Großorganisation Kirche versucht, das von ihr präferierte Kirchenbild mit den dazugehörigen Formen kirchlicher Praxis in der Kirche als ganzer durchzusetzen. Aus der Sicht mediatisierter Kommunikation ist es nicht problematisch, dass hier spezifische Kirchenbilder und die dazugehörigen Praxisimplikationen angesprochen werden. Wohl aber ist es problematisch, dass andere Kirchenbilder und Praxisformen, die gerade in ihrer Pluralität konstitutiv für den Erhalt des kirchlichen ­Lebens in der Gesellschaft sind, abgewertet oder ganz verdrängt werden sollen. In solchen Fällen verfehlen Kirchenleitungen ihre Aufgabe.


4. Schlussfolgerungen in Bezug auf aktuelle Fragestellungen

Zum Schluss schlaglichtartig einige Thesen und Perspektiven:


Gottesdienst

Insbesondere die Besucherzahlen der ganz normalen Sonntagsgottesdienste werden regelmäßig zum Anlass genommen, von einer Krise des Gottesdienstes und dann schnell auch der Kirche insgesamt zu sprechen. Doch der Sonntagsgottesdienst ist nicht die gottesdienstliche Hauptveranstaltung einer Kirchengemeinde. Er ist auch nicht die Mitte des gemeindlichen Lebens. De facto ist er, zumindest an der Überzahl der ganz normalen Sonntage, eine Zielgruppenveranstaltung für ältere Herrschaften. Neben dem Sonntagsgottesdienst gibt es Kasualgottesdienste und weitere zielgruppenspezifische Gottesdienste. Der Gottesdienst befindet sich nicht in einer Krise, sondern in einer Phase der Ausdifferenzierung.


Gruppen/Kreise/Gelegenheiten

Gruppen und Kreise, die regelmäßig im Wochenrhythmus stattfinden, haben keinen ekklesiologischen Mehrwert. Unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation ist es in hohem Maße unwahrscheinlich, dass die Teilnahme an wöchentlich stattfindenden Gruppen und Kreisen möglich ist. Wohl aber ist vielen Menschen die Teilnahme an punktuellen Veranstaltungen zu bestimmten Gelegen­heiten und zur Erfüllung eines spezifischen Zwecks möglich. Das betrifft alle Altersgruppen. Eine wichtige Zukunftsperspektive für die pfarramtliche Tätigkeit besteht in der Umstellung von kontinuierlichen Veranstaltungen im Wochenrhythmus auf Veranstaltungen im Rahmen von Gelegenheitsstrukturen.


Kirchenaustritt

Unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation gehört der Kirchenaustritt konstitutiv zum kirchlichen Alltag. Das ist schmerzlich und bedrohlich, ändern kann man daran nichts. Es steht jedem Kirchenmitglied frei, sich aus individuellen Gründen gegen die Kirchenmitgliedschaft zu entscheiden. Ein wichtiger Perspektivwechsel bestünde meines Erachtens darin, Menschen, die mit der Kirche im Kontakt stehen, nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Kirchenmitgliedschaft wahrzunehmen, sondern unter dem Gesichtspunkt ihres Interesses, ihrer individuellen Bindung an die Kirche, die sie vielleicht trotz ihrer Nichtmitgliedschaft aufweisen. Aus meiner Sicht wäre es an der Zeit, flankierend zum Kirchensteuersystem ein System der Kultursteuer zu etablieren. Die Kirche wird für spezifische gesellschaftliche Aktivitäten auch von Menschen geschätzt und in Anspruch genommen, die nicht Mitglied in der Kirche sind. Über eine Kultursteuer könnte dieser Personenkreis der Kirche eine Form der finanziellen Unterstützung zukommen lassen.


Parochialprinzip

Die Parochie ist die perspektivenreichste Organisationsform des kirchlichen Lebens. Sie trägt den für moderne Kirchenbindungsformen maßgeblichen Faktoren der persönlichen Bindung und der Örtlichkeit am stärksten Rechnung. Die Einbindung in ein persönliches Netzwerk und der Bezug zu einem konkreten Ort sind für die Menschen in der Moderne notwendige Korrespondenzgrößen zur alltäglich notwendigen und geforderten Mobilität.


Pastorales Selbstverständnis

Der Pfarrberuf zählt zu den klassischen Professionen. Ihm liegt eine umfassende praxistheoretische Ausbildung in Studium und Vikariat zugrunde. Auf dieser Grundlage sollten Pfarrerinnen und Pfarrer an je ihrem Ort die strukturellen Rahmenbedingungen wahrnehmen. Sie sollten sich dabei nicht von Krisendiskursen leiten lassen. Notwendig ist stattdessen die kritische Reflexion: Wer problematisiert hier was mit welcher persönlichen Absicht? Kirche realisiert sich an konkreten Orten in konkreten Begegnungen mit Menschen. Diese Begegnungen sind umso gelungener, je mehr sie auf Augenhöhe erfolgen. Die Menschen sind Akteure ihres eigenen Lebens, d.h. auch ihrer eigenen Religiosität und Kirchlichkeit. Sorgfältige Wahrnehmungsarbeit, orientiert an den Bedürfnissen und spezifischen Lebensbedingungen der Menschen vor Ort, wird das kirchliche Leben in der Fläche allen Krisendiagnosen zum Trotz gestaltbar halten.



Anmerkung:

* Vortrag auf dem »Tag der Württembergischen Pfarrerinnen und Pfarrer«, gehalten am 8. Oktober 2018.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Gerald Kretzschmar, Jahrgang 1971, 1990-1996 Studium der Evang. Theologie, 1999 Promotion mit einer prakt.-theol. Studie über die empirisch-sozialwissenschaftliche und theologische Wahrnehmung distanzierter Kirchlichkeit, 1998-2001 Vikariat in Frankenthal/Pfalz, Pfarrer der Evang. Kirche der Pfalz, PD für Prakt. Theologie an der Universität Bonn, seit 2015 Prof. für Prakt. Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Universität Tübingen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2019

2 Kommentare zu diesem Artikel
18.02.2019 Ein Kommentar von Ralf Krüger Krisendiskurse sind wir in den Kirchengemeinden gewöhnt, insbesondere wenn engagierte Mitarbeiter, die auch andere Kirchengemeinden kennen, vermeintliche Defizite in der eigenen Gemeinde benennen. Mit ein wenig Selbstbewusstsein und dem Verweis auf die eigenen Aktivitäten und Stärken kann man damit leben. Bedrohlich wird es jetzt, weil die Kirchenleitung - ich spreche von der Hannoverschen Landeskirche - auf eben diesen Zug des Krisendiskurses aufgesprungen ist und seit Jahren Schreckensszenarien beschwört: die Mitglieder schwinden, die Steuereinnahmen halbieren sich, das Personal wird knapp. Die Antwort auf diese Problemanzeigen: sparen, zusammenlegen, professionalisieren. Man orientiert sich dabei an vermeintlich wirtschaftlichen Vorbildern. Dieser Vergleich allerdings hinkt - und er ist unangemessen. Die Kirche ist kein Wirtschaftsunternehmen! Wenn in der Wirtschaft von “Professionalisierung” die Rede ist, dann versteht man darunter “Steigerung der Effizienz”, “Qualitätsverbesserungen”, “Standardisierungen” (Begriffe aus dem entsprechenden Artikel bei Wikipedia). Sprach man dagegen früher im Blick auf den Pfarrberuf von “Profession”, so wie es Gerald Kretzschmar am Ende seines Artikels tut, so grenzte man sich damit gegen die Betrachtung des Pfarrberufs als “Job”, als reinen Gelderwerb ab. Analog zur “Profession” des Arztes und des Juristen war die Profession des Pfarrers gekennzeichnet von einem hohen Prestige, das ihm von außen zugesprochen wurde. Hinzu kam ein hoher “Grad an beruflicher Organisation (Standesorganisation), persönliche und sachliche Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit in der Tätigkeit sowie eine eigene Berufsethik”. (vgl. zur Profession noch einmal Wikipedia u.a. Quellen) Pfarrerinnen und Pfarrer entschieden sich für diesen Beruf wegen der Herausforderung, die die Ausübung mit sich brachte. Es beschleicht einen das Gefühl, dass solch selbstbewusste Pfarrpersonen der Kirchenleitung mittlerweile suspekt geworden sind. Wenn dann noch die in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtende Abwertung der Parochialgemeinde hinzu kommt - Dr. Kurt Schröder beschreibt in seinem Kommentar zu diesem Artikel durchaus treffend die bindende Kraft dieser über Jahrhunderte gewachsenen Gemeindeform -, wenn die Parochialgemeinde weiter abgewertet wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn das immer wieder beschworene Schreckensszenario sich letztendlich doch erfüllt: die Mitglieder schwinden, die Steuereinnahmen halbieren sich, das Personal wird knapp. Das ist dann aber kein unabwendbares Schicksal, das “die Kirche” ereilt, das ist vielmehr die Folge einer fatalen Fehlentwicklung - das nach nach den wirtschaftlichen Kriterien “Steigerung der Effizienz”, “Qualitätsverbesserungen”, “Standardisierung” ausgerichtete Programm “Wachsen gegen den Trend” ist schon krachend gescheitert! Mit einer Kirche, die diesen oder vergleichbare Ansätze weiter verfolgt, wird sich am Ende kaum noch jemand identifizieren, weder die, die hier arbeiten, noch die, für die diese Arbeit geschieht.
16.02.2019 Ein Kommentar von Dr. Kurt Schröder 21037 Hamburg, Spadenländer Weg 2 Parochialprinzip: Wo binden sich die Leute. Auf Dauer? Nicht nach punktuellen Veransatltungen, den Events.Strohfeuer erleben wir immer wieder.Was bleibt?Letztlich die kontinuierliche Veranstaltung, sogar der Sonntagsgottesdienst als"Zielgruppenveranstaltung für ältere Herrschaften".Denn immer wieder mit denselben Leuten am selben Ort zu unterschiedlichen Anlässen zu tun zu haben,bewirkt Öffnung,läßt Vertrauen entstehen, stabilisiert das Leben.Man erfährt sich als Teil des Ganzen.Die Parochie ist ein Zuhause für die ganze Familie.Novalis:"Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause". Mit dem Gegenüber, dem Nichtmehrfremden wagt man das Gespräch über den Glauben, sogar mit dem Pastor-wenn er denn Augenhöhe zuläßt. Letztere als eine der Voraussetzungen für die Gemeindearbeit. Hier ein anderes Wort für"Kirchenbindung":Heimat.Wird sie nicht geboten, dann kommen wenige- und es bleiben noch weniger- in der Kirche.
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