Wer heute rechtspopulistische Strömungen analysiert, darf den Wurzelboden nicht vergessen, aus dem sich diese politischen Entwicklungen nähren. Hierzu zählt nach Hans-Jürgen Volk auch die verfehlte Sozial- und Wirtschaftspolitik der Schröder- und Agenda 2010-Jahre. Volk zeigt aber auch auf, inwiefern die evangelische Kirche im Strom dieser neoliberalen Neuausrichtung mitgeschwommen ist und dies nun mit einem Vertrauensverlust bezahlt, der wenig verwunderlich ist


Gespräch auf der Terrasse

Es ist ein sonniger Vorfrühlingstag. Ich sitze bei Freunden auf einer Terrasse, es gibt Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Ich unterhalte mich mit einem Geschwisterpaar. Er ist Anfang 30 und studiert Maschinenbau, sie ist 27, und Führungskraft in einem großen Lebensmittelunternehmen. Als alleinerziehende Mutter hat ihre Stelle einen Umfang von 20 Stunden. Viel mehr ist auch nicht drin in ihrem Unternehmen, das aus betriebswirtschaftlichen Gründen auf Teilzeit setzt. Daher ist sie eine sog. »Aufstockerin« und bestens vertraut mit dem strengen Hartz IV-Regiment.

Wir kommen auf das Thema »Rente« zu sprechen. »Lieber nicht dran denken!« – sagen beide. Die Schwester »riestert« zwar, weiß aber genau, dass sie im Alter unter den jetzigen Rahmenbedingungen in der Grundsicherung landen wird; es sei denn, sie heiratet einen vermögenden Mann oder ihr gelingt ein bemerkenswerter beruflicher Aufstieg, wozu sie durchaus das Zeug hat.

»Komm bloß nicht auf das Thema ›Flüchtlinge‹ zu sprechen!« – sagt der Bruder. Beides sind warmherzige, empathiefähige Menschen. Sie nehmen allerdings ihre Umgebung wahr. Und dort kehrt sich der Frust über eine verfehlte Sozialpolitik und die Kleinlichkeit deutscher Behörden gegen Flüchtlinge. Und das ist wiederum eine Steilvorlage für rechte Populisten, die den Frust auf ihre Mühlen lenken. »Aber es ist schon schwierig, uns erzählt man, dass kein Geld für Sozialleistungen da ist. Und dann werden seit 2015 auf Grund der Flüchtlinge Milliardenbeträge locker gemacht.« – sagt die Schwester. Er erwidert: »Denk mal an die Finanzkrise 2008. Da waren auf einmal irre Summen für die Rettung maroder Banken da. Im Vergleich dazu sind die Beträge, die wir heute für Flüchtlinge ausgeben, ja Peanuts.«

Das sind moderate Stimmen von zwei taffen jungen Leuten, die ihre Umgebung wahrnehmen und analysieren können. Die jetzigen Lockerungsübungen in der deutschen Politik und die halbherzigen Korrekturen an früheren sozialpolitischen Grausamkeiten reichen bei weitem nicht aus, um Vertrauen wieder herzustellen.


Zeiten der Unsicherheit

1946 lag Europa in Trümmern. Der 2. Weltkrieg war vorüber. Es war noch nicht absehbar, welche politische Ordnung sich im verwüsteten Nachkriegseuropa durchsetzen würde. Damals veröffentlichte Karl Barth die Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde«. Der Hintergrund waren die Erfahrungen des Kirchenkampfes und der NS-Zeit.

Es geht in dieser Schrift um eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat in Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung. Insbesondere die 5. These erfährt eine Konkretion, durch die zwar keine eindeutige Präferenz für eine bestimmte Staatsform, aber doch eine Affinität der christlichen Kirche zur Demokratie nahegelegt wird. Unter Punkt 33 der Schrift formuliert Barth: »Vielleicht der entscheidende Beitrag der Christengemeinde im Aufbau der Bürgergemeinde besteht darin, daß sie ihre eigene Existenz, ihre Verfassung und Ordnung theoretisch und praktisch dem gemäß gestaltet, daß sie, die direkt und bewußt um jenes gemeinsame Zentrum versammelt ist, den inneren Kreis innerhalb des äußeren darzustellen hat. Der rechte Staat muß in der rechten Kirche sein Urbild und Vorbild haben. Die Kirche existiere also exemplarisch, d.h. so, daß sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist.« Unter dem Zentrum versteht Barth die »Botschaft vom König und seinem Reich«. Nahezu prophetisch stellt er die Frage: »Wie soll die Welt die Botschaft vom König und seinem Reich glauben, wenn die Kirche vielleicht durch ihr Tun und Verhalten zu erkennen gibt, daß sie selbst gar nicht daran denkt, sich in ihrer eigenen inneren Politik an dieser Botschaft zu orientieren.« Der Abschnitt schließt mit dem Satz: »Die Christengemeinde darf nicht vergessen: sie redet / gerade in der Bürgergemeinde am unmißverständlichsten durch das, was sie ist

Die Situation im heutigen Europa ist trotz Eurokrise, hoher Jugendarbeitslosigkeit und Armut in vielen süd- und osteuropäischen Ländern ungleich komfortabler als in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Allerdings ist es ähnlich schwierig, zu prognostizieren, wohin die Reise geht. Die Demokratie westlicher Spielart befindet sich in einer Krise. Sie steht unter Druck durch einen wachsenden Zulauf zu rechtspopulistischen und nationalistischen Strömungen. Soziale Ungleichheit, Migrationsbewegungen, ausgelöst durch klimatische Veränderungen in Verbindung mit kriegerischen Auseinandersetzungen, oder Abstiegsängste sind der Nährboden für Autokraten wie Trump, Le Pen, Orban oder Hofer. Die wachsende Komplexität von Problemlagen fördert die Sehnsucht nach einfachen Antworten, nach Überschaubarkeit, nach Sicherheit und Stabilität. Der »starke Mann«, der paternalistisch-fürsorglich an die Stelle des mühsamen demokratischen Diskurses tritt, gewinnt an Anziehungskraft. Fiktiv wird Komplexität reduziert durch den Rückzug auf den übersichtlicheren Raum des Nationalstaates – »America first!« Dass man hierbei nicht nur in der Rhetorik anknüpft an die Vorstellung vom völkischen Daseinskampf, der an die Stelle des globalen Wettbewerbs tritt, öffnet enormen Risiken Tür und Tor. In einer alleine durch technologische Entwicklungen zunehmend vernetzten Welt ist dies ein törichtes Spiel mit dem Feuer in einem Heizöllager.


Vertrauensverlust in die etablierte Politik

Nun ist die Neigung zum Rechtspopulismus die Kehrseite des Vertrauensverlustes in die etablierte Politik. Reden und Handeln klafften hier allzu oft auseinander – vor allem auch da, wo es um die Identität und die ursprüngliche Kernprogrammatik politischer Parteien ging. Am problematischsten war wohl das Agieren linker, vor allem sozialdemokratischer Parteien. Francois Hollande war einst Hoffnungsträger, bis er Präsident wurde. Seine halbherzige Reformpolitik trug in keiner Weise dazu bei, die soziale Situation der unteren Schichten in Frankreich zu verbessern – mit der Folge der Marginalisierung der französischen Sozialisten. Noch im Wahlkampf 2002 punktete die SPD mit sozialen Themen. 2003 wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder die Agenda 2010 verkündet. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, also Abbau von Arbeitnehmerrechten, Hartz-Gesetze sowie die Teilprivatisierung insbesondere des Rentensystems wurden zeitgleich durchgeführt. Dies fiel zusammen mit einer Steuerreform, die u.a. eine massive Senkung des Spitzensteuersatzes zur Folge hatte. Hinzu kam eine Senkung der Steuer auf Kapitalerträge und verschiedener anderer Maßnahmen, die zum Ziel hatten, den Finanzplatz Deutschland zu stärken und seine »Wettbewerbsfähigkeit« zu steigern. Diese »Reformpolitik« war ein autoritäres Projekt. Sie wurde durchgesetzt gegen erhebliche Widerstände in den die damalige Regierung tragenden Parteien und gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit.

Auf dem Word Economic Forum von Davos gab der Schröder damals folgende Sätze von sich: »Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten. Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.«

Das Gefühl von sozialer Sicherheit ging bis weit in den Mittelstand hinein verloren. Wer prekäre Beschäftigungsverhältnisse bewusst fördert und zur gleichen Zeit abhängig Beschäftigten zumutet, mehr Eigenleistung im Blick auf die eigene Rente zu erbringen, darf sich nicht über die Frustration weiter Teile der ursprünglichen Wählerschaft wundern. Hinzu kommt: Wenn ein Politiker wie Schröder von »Anreizen« spricht, »Arbeit aufzunehmen«, so bedeutet dies nichts anderes, als das Empfänger von Transferleistungen unter Druck gesetzt werden, jede erdenkliche Arbeit zu akzeptieren. Es ist eine zutiefst autoritäre Attitüde, menschliches Verhalten durch den Aufbau von Existenzdruck in gewünschte Bahnen lenken zu wollen.


»Wir leben über unsere Verhältnisse!«

Vielleicht noch verheerender als der Abbau sozialer Sicherheit hat sich die gerade von Deutschland vertretene Austeritätspolitik ausgewirkt. Wobei jener elitäre Populismus, der sich in Sätzen wie »Wir leben über unsere Verhältnisse« Ausdruck verschafft, in der Regel auf nichts anderes als auf Sozialabbau und eine Umverteilung von unten nach oben abzielt. In der Endphase der sozial-liberalen Regierung unter Helmut Schmidt wurde das sog. »Lambsdorff-Papier« veröffentlicht. In der Tat war das sozial-marktwirtschaftliche Modell des »rheinischen Kapitalismus«, das auf sozialen Ausgleich, soziale Sicherheit sowie die Stärkung demokratischer Institutionen im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Grundordnung gesetzt hatte, durch verschiedene globale Entwicklungen unter Druck geraten. Zu nennen wäre hier z.B. die neoklassische Neuorientierung in den angelsächsischen Ländern, die von Ronald Reagan und Margret Thatcher initiiert worden war. Das Papier beklagte einen Vertrauensverlust der deutschen Wirtschaft und forderte eine deutliche Verbesserung der Investitionsbedingungen mit dem Ziel, wieder höhere Gewinne zu ermöglichen. Die Förderung privater Investitionen bei gleichzeitiger Konsolidierung öffentlicher Haushalte u.a. durch die Reduzierung von Sozialleistungen stand ganz oben auf der Prioritätenliste. Durch die Absenkung sozialer Standards sollten Anreize verstärkt werden, bisher Arbeitslose wieder in Arbeit zu bringen – ein Grundgedanke, der später bei der Agenda 2010 wieder auftaucht.

Das »Lambsdorff-Papier« war ein Auslöser für den Bruch der sozial-liberalen Koalition. Zugleich markiert es den Abschied von einem Grundkonsens, der bis dahin in der deutschen Gesellschaft fest verankert war. Von den verschiedenen Regierungen unter Kohl wurde es nur teilweise umgesetzt. Verwirklicht und im neoliberalen Geiste überboten wurde es durch die Agenda 2010.


Agenda 2010 – die neoliberale Neuausrichtung der Politik

Schaut man sich die verschiedenen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierungen unter Gerhard Schröder an, begegnet einem eine neoliberale Neuausrichtung der Politik mit voller Wucht:

• Bereits im Jahr 2000 wurde eine mehrstufige »Steuerreform« beschlossen, die im Jahr 2005 ihren Abschluss fand. Kernelemente waren die Senkung des Eingangs- sowie des Spitzensteuersatzes, die Erhöhung des Grundfreibetrages sowie die Entlastung der Unternehmen. Der Eingangssteuersatz wurde von 25,9% auf 15%, der Spitzensteuersatz von zuvor 53% auf 42% gesenkt. Ziel war die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sowie die Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Zunächst waren jedoch erhebliche Einnahmeausfälle bei den öffentlichen Kassen zu registrieren, was dem Satz »Wir leben über ­unsere Verhältnisse« neue Plausibilität verlieh.

• Im Visier der Agenda-Reformer waren die sozialen Sicherungssysteme. Hier wurde geradezu kampagnenartig der demographische Wandel ins Feld geführt. Die gesetzliche umlagenfinanzierte Rente wurde erheblich geschwächt. Abhängig Beschäftigte wurden dazu gedrängt, in Eigenverantwortung kapitalgedeckte Vorsorge zu leisten. Hartz-Reformen förderten Instrumente wie Zeit- und Leiharbeit. Arbeitslosenhilfe, die vordem für eine gewisse Sicherung der Lebensstandards auch bei einer längeren Arbeitslosigkeit gesorgt hatte, wurde mit der Sozialhilfe zusammengeführt zum sog. Arbeitslosengeld II. Damit war eine Grundsicherung faktisch auf dem Niveau der früheren Sozialhilfe gegeben. Zugleich wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von zwei auf ein Jahr reduziert.

• War man auf Arbeitslosengeld II angewiesen – im Volksmund Hartz IV genannt – so unterlag man einem strengen Reglement. Angespartes Vermögen war zunächst zu verbrauchen (bis auf ein geringes Schonvermögen und bis auf Rücklagen, die der Altersvorsorge dienten). Außerordentliche Einkünfte waren zu melden, Arbeitsplatzangeboten auch weit unterhalb des Niveaus der ursprünglichen Qualifikation waren wahrzunehmen. Bei Regelverstößen konnte die Grundsicherung gekürzt oder komplett gestrichen werden.

• Der Finanzplatz Deutschland, der durch den Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge neue Impulse erhielt, sollte durch Deregulierung gestärkt werden. Außerdem hoffte man, durch die Steuerbefreiung bei Unternehmensverkäufen, Investoren anzuziehen.


Die Agenda 2010 stand im Widerspruch zu den Inhalten eines Wahlkampfs, den die SPD unter Gerhard Schröder 2002 vor allem mit sozialen Themen geführt hatte. Schockiert war ein Großteil der eigenen Parteimitglieder, Vertrauensverluste erlebte man bei den Wählern. Dementsprechend autoritär wurde das zweifelhafte Programm durchgesetzt. Insbesondere die Hartz-Reformen kann man nur als schwarze Pädagogik bezeichnen, ging es doch darum, das Verhalten von Menschen durch massiven Existenzdruck in gewünschte Bahnen zu lenken. Getragen war das Agenda-Programm u.a. durch ein geradezu naives Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte. Bereits im Herbst 2008 wurde deutlich, wie fahrlässig die Schwächung eines krisenfesten umlagefinanzierten Rentensystems zugunsten kapitalgedeckter Elemente ist, die naturgemäß der rauen See des Finanzmarktgeschehens ausgesetzt sind.

Vielleicht am problematischsten ist die Tatsache, dass man sehr erfolgreich darin war, einen Niedriglohnsektor aufzubauen. Fast ein Drittel aller abhängig Beschäftigten befindet sich in sog. prekären Beschäftigungsverhältnissen. Sie sind nicht in der Lage, genügend Kapital anzusparen, um einer Grundsicherung im Alter zu entgehen. Aufgrund einer geringen Entlohnung dürfte das Gleiche auf eine große Anzahl von Beschäftigten in unbefristeten Vollzeitstellen zutreffen.


Mit dem Strom – evangelische Kirche auf Anpassungskurs

»Die Kirche existiere also exemplarisch, d.h. so, daß sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist.« So hatte es Karl Barth in der unmittelbaren Nachkriegszeit formuliert. Dies war damals eine mutige, ja sogar eine kühne Aussage. Denn der deutsche Protestantismus war moralisch diskreditiert und geschwächt durch eine frevelhafte Nähe vieler seiner führenden Akteure zum Nationalsozialismus.

Spätestens seit zwei Jahrzehnten haben wir es mit einer evangelischen Kirche zu tun, die sich weitaus mehr von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen ließ, als dass sie selbst, kritisch, konstruktiv oder korrigierend, in den öffentlichen Diskurs eingegriffen hätte. Exemplarisch waren für die evangelische Kirche Entwicklungen im säkularen Umfeld, die man auf der Leitungsebene der Kirche bereitwillig übernahm. Damit wurde die von Barth im Gefolge von Barmen geforderte Bewegung in ihr Gegenteil verkehrt und der Gesellschaft der Dienst einer öffentlichen Theologie versagt, die sich selbst durch das überzeugende, mitunter auch nur zeichenhafte Beispiel kirchlichen Seins und Handelns bezeugt.

• Bereits in den 90er Jahren wurden Einrichtungen der Diakonie im Zuge der Eröffnung des Pflegemarktes, angestoßen u.a. durch die Einführung der Pflegeversicherung, in Unternehmen transformiert. Betriebswirtschaftliche Überlegungen gewannen die Oberhand gegenüber dem eigentlichen Auftrag, hilfreich für Menschen da zu sein. Die Distanz zu den Gemeinden wuchs, damit wurde es immer schwieriger, durch die Verknüpfung von Hauptamtlichkeit mit ehrenamtlichem Engagement dem diakonischen Auftrag gerecht zu werden.

• Recht früh schlossen sich führende Vertreter der EKD der Kampagne um den demographischen Wandel an, die u.a. dazu diente, zur Freude der Maschmeyers der Nation die Finanz- und Versicherungsindustrie zu beflügeln. In den Jahren 2003 und 2004 trat man auf mit der Behauptung, der demographische Wandel und der damit einhergehende Mitgliederverlust würde die Finanzkraft der Kirche um 1-2% im Jahr schwächen. Im Jahr 2030 hätte sich die Finanzkraft der evangelischen Kirche alleine auf Grund dieses Effekts im Vergleich zum Jahr 2002 halbiert. – Diese Grundannahme hat so nie gestimmt! Seit 1970, als es auch die evangelische Kirche zum ersten Mal mit mehr Todesfällen als Geburten zu tun hatte, haben sich die Einnahmen aus Kirchensteuermitteln trotz erheblichem Mitgliederverlust vervielfacht. 2005 lag das Nettokirchensteueraufkommen in der Evang. Kirche im Rheinland unter 500 Mio. €, 2018 rechnet man mit einem Betrag von 725 Mio. €.

• Dieser Finanzalarmismus war Ausgangspunkt des Impulspapiers »Kirche der Freiheit«, das 2006 veröffentlicht wurde. Ähnlich wie die Schröder-Regierung, die Vorlagen durch Kommissionen erstellen ließ an den regulären Gremien und Institutionen vorbei, setzte der Rat der EKD eine sog. »Perspektivkommission« ein, die von Vertretern der Finanz- und Beraterindustrie dominiert wurde. Geleitet wurde die Kommission durch den McKinsey-Mann Günter Barrenstein. Hierbei ging es vor allem darum, Rückbauprozesse so zu gestalten, dass die Attraktivität kirchlicher Arbeit möglichst noch gesteigert werden sollte. Es handelt sich um ein kirchliches Agenda-Programm, das kaum originäre geistliche Impulse vermittelt, sondern Rezepte aus dem säkularen Umfeld und hier vor allem aus dem Bereich der Beraterindustrie kritiklos implementiert.

• Zentrale Projekte wie das neue kirchliche Finanzwesen (NKF) oder diverse Verwaltungsstrukturreformen der evangelischen Landeskirchen waren hiervon inspiriert. Man folgte Entwicklungen, die es zuvor auf der Ebene verschiedener Bundesländer gab.

• Gemeinsam mit den Vertretern der Agenda 2010 war und ist bis heute ein naives Vertrauen in die Integrität der Finanzmärkte von Seiten der EKD-Finanzverantwortlichen. Unsummen wurden bisher in Kapitalanlagen zur Absicherung kommender Versorgungs- und Beihilfeansprüche von Pfarrern und Kirchenbeamten gesteckt. Gleichzeitig wurden Gemeinden und Einrichtungen im Blick auf den zukünftigen finanziellen Mangel Mittel entzogen.

• Die problematischste Gemeinsamkeit mit der Schröder-Ära ist, dass auch die kirchlichen Umbauprozesse einer autoritären Top-Down-Strategie folgten. Dies verursachte Vertrauensverluste und Frustration gerade bei denen, die die kirchliche Arbeit vor Ort tragen.

• Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Rückbau- und Sparprozesse, die z.B. in der Evang. Kirche im Rheinland mit einer massiven Verstärkung der Verwaltung einhergehen, für viele Beschäftigte der Kirche das berufliche Aus bedeuteten.


Frust und Entfremdung

Die evangelische Kirche ist mit dem Strom geschwommen. Wahrnehmbar für einzelne Gemeindeglieder sind vor allem die Schließung von Kirchen und Gemeindezentren, Fusionen von Gemeinden und Kirchenkreisen und die immer größer werdende Schwierigkeit, bei eigenen Anliegen einen verlässlichen Ansprechpartner zu finden. Kurz: Für den in den letzten Jahren stetig gestiegen Kirchensteuerbeitrag gibt es immer weniger Gegenleistung. Das erzeugt Frust und Entfremdung. Frust erzeugt die Bevormundung der Praktiker vor Ort durch Menschen, die ihr berufliches Leben vor allem in Büros und Sitzungsräumen verbringen. Frust ohne ­Ende entstand durch die vielfachen sozialen Härten bei kirchlichen Mitarbeitern, die von Rückbauprozessen und Sparprogrammen trotz stetig steigender Kirchensteuereinnahmen betroffen sind. Wenn Vertreter der Kirche sich öffentlich wohlmeinend zur Flüchtlingsfrage oder zu sozialen Themen äußern, wird dies als moralisierend empfunden. Die evangelische Kirche in ihrer jetzigen Verfassung ist Teil einer Problemlage, die Rechtspopulisten in Deutschland Auftrieb gegeben hat.

Nötig wäre eine konsequente Umkehr von einem falschen und letztlich unkirchlichen Kurs, wie sie das »Wormser Wort« einfordert. Nötig wären mutige Schritte, innerhalb des kirchlichen Lebens eine wirksame Teilhabe der Kirchenmitglieder zu ermöglichen. Die Mitglieder könnten durch kirchliche Plebiszite bei Fusionsprozessen und anderen strukturellen Veränderungen mit eingebunden werden. Mutig wäre es, z.B. Spitzenämter auf Kirchenkreisebene durch eine Wahl der Kirchemitglieder zu vergeben. Mutig wäre es, Gewaltenteilung und Machtkontrolle zu praktizieren.

Wer Menschen als Objekt betrachtet und behandelt, die sich denen mit angeblich größerem Überblick unterzuordnen und zu fügen haben, erzeugt Frust und Entfremdung. Das Hartz IV-Regiment macht den Menschen, der eigentlich als Bürger der Souverän sein sollte, zum Fürsorge- und Strafobjekt, das man gelegentlich demütigen muss. Eine evangelische Kirche sollte hier bewusst Gegenakzente setzen und partnerschaftlich mit Gemeindegliedern und Beschäftigten umgehen. Unsere Gesellschaft, die in der Tat durch rechtspopulistische Kräfte bedroht ist, braucht eine Kirche, die mit ihren Strukturen und ihrem Umgang mit Kirchenmitgliedern und Beschäftigten ihre Botschaft bezeugt. Das könnte heißen: mehr direkte Demokratie und Teilhabe in den verschiedenen kirchlichen Körperschaften und Einrichtungen, die Pflege eines bewusst sozialen Umgangs mit den eigenen Beschäftigten, größere Spielräume für die, die vor Ort in der kirchlichen Arbeit engagiert sind sowie die Rückkehr zum Prinzip der kollegialen Leitung und der Einmütigkeit. Hierbei hilft es nicht, Einmütigkeit formaljuristisch zu interpretieren. Das Ringen um Einmütigkeit ist eine geistliche Aufgabe, die auf Augenhöhe in partnerschaftlich-geschwisterlicher Weise zu leisten ist.


Umkehr ist nötig

Rechtspopulisten arbeiten mit Stimmungen und Ressentiments. Statt rationalem Diskurs und Handeln aus Einsicht verlangen sie Gefolgschaft. Rechtspopulistische Formationen sind geprägt von autoritären Persönlichkeiten. Sie haben auch deswegen Erfolg, weil etablierte Politik Menschen phasenweise als manipulierbare Objekte behandelt hat und durch Rechtsetzung wie die Hartz-Gesetze bis heute so behandelt. Hier ist eine Neuausrichtung dringend nötig. Umkehr braucht es auch in der evangelischen Kirche, will sie in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten in Zukunft eine konstruktive Rolle spielen. Ihr seit 2006 durch das Impulspapier »Kirche der Freiheit« angestoßener Umbauprozess ist aufs engste verbunden mit der Mentalität der Agenda-Reformer. Kirchenleitendes Handeln, das sich derart von säkularen Strömungen bestimmen lässt und dann auch noch auf Top-Down-Strategien statt auf Dialog setzt, ist unkirchlich. Es wird Zeit, dass die evangelische Kirche auch in ihrer Spitze wieder zu ihrem Eigentlichen zurückfindet, nämlich zu ihrer Botschaft von der freien Gnade Gottes. Eine solche Kirche wird immer widerständig und unbequem sein.

»Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.« (Röm. 12,2)

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Hans-Jürgen Volk, rund 15 Jahre lang Vorsitzender des Finanzausschusses im Kirchenkreis Altenkirchen, außerdem Mitinitiator und stellvertretender Vorsitzender von »KirchenBunt«.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2018

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.