Hochsensibilität ist eine Persönlichkeitsveranlagung, die ihre Stärken, aber auch ihre Grenzen hat. Insbesondere der Pfarrberuf weist Strukturen auf und verlangt Dinge ab, die mit der Prägung hochsensibler Personen in Konflikt geraten können. Christiane Seresse stellt dar, was unter Hochsensibilität genau zu verstehen ist. Sie beschreibt typische Konfliktsituationen hochsensibler Menschen im Pfarrberuf und unterbreitet Vorschläge, wie darauf reagiert werden kann.


Dass wir Menschen verschieden sind, ist eine Binsenweisheit. Eines von vielen Unterscheidungsmerkmalen ist die Hochsensibilität. Der Begriff »highly sensitive person« (hochsensible oder hochsensitive Person, im Weiteren: HSP) wurde 1996 von Elaine Aron geprägt, einer klinischen Psychologin aus den USA, die die Forschungsergebnisse ihrer Zeit zu einem Gesamtbild zusammenfasste und mit eigenen Ergebnissen ergänzte (Parlow, 52). Diese Erkenntnisse möchte ich zunächst holzschnittartig zusammenfassen (A.), um anschließend die Auswirkungen für den Pfarrberuf zu beschreiben (B.). In einem dritten Teil wird dargestellt, wie man als HSP den Pfarrberuf dauerhaft und gerne ausüben kann (C.).


A. Was ist Hochsensibilität?

Hochsensibilität ist eine genetisch verankerte Veranlagung. Etwa jeder fünfte bis sechste Mensch in unserer Umgebung ist hochsensibel. Das ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen1. Aber was bedeutet es? Hochsensible nehmen deutlich mehr wahr als durchschnittlich Sensible. Versuche im MRT zeigen, dass ihre Gehirnaktivitäten bei der Verarbeitung von Informationen komplexer sind. Außerdem wurde festgestellt, dass sie mehr biochemische Botenstoffe haben, die die Erregung der Nervenzellen weiterleiten. Noradrenalin und Cortisol sind in ihrem Blut in ungleich größeren Mengen vorhanden; sie sind also ständig »einsatzbereit«.

Die Wirkung dieser physiologischen Gegebenheiten besteht darin, dass HSP ständig größere Datenmengen aufnehmen und verarbeiten als normal Sensible. Daher entwickeln sich Intuition, Problemlösungsorientierung, Gründlichkeit und Übersicht besser. Es kommt aber auch schneller zu einer Reizüberflutung mit den entsprechenden Folgen: Nervosität, Rückzugsbedürfnis, plötzliche Erschöpfung bis hin zum Burnout (vgl. Skript Lüling, 5-6). Durch den dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel wird das Immunsystem heruntergeregelt, und man ist anfälliger für Krankheiten.

Bei der Hochsensibilität handelt es sich also nicht um eine »subjektive Befindlichkeit…, sondern um eine nachweisbare Veranlagung« (Parlow, 52), ein Persönlichkeitsmerkmal, wie es viele andere auch gibt. Da jedoch der Begriff »sensibel« in unserer Gesellschaft oft negativ konnotiert wird und außerdem die Gefahr besteht, Hochsensibilität mit einer besonderen Emotionalität zu verwechseln, möchte ich im Folgenden den Begriff »Wahrnehmungsbegabung« (Parlow, 104) gleichbedeutend benutzen.


Überempfindlichkeit, Hochwachsamkeit und AD(H)S

Außerdem möchte ich wenigstens kurz andeuten, dass man sorgfältig von anderen Phänomenen unterscheiden muss, beispielsweise a) von Überempfindlichkeit, b) von der Hochwachsamkeit traumatisierter Menschen oder c) von AD(H)S.

a) Ein Wahrnehmungsbegabter beschäftigt sich damit, was er selbst tun kann, um gute Problemlösungen für sich und andere zu finden; überempfindliche Menschen beschäftigen sich damit, was andere für sie tun sollten, um sie nicht zu verletzen oder um ihnen das Leben zu erleichtern (Skript Lüling, 7).

b) Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind hochwachsam; das Gefühl, immer auf der Hut sein zu müssen, führt zu ständiger Anspannung, Nervosität, Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. Aber bei ihnen kommt die Reizüberflutung von innen, bei Wahrnehmungsbegabten von außen2.

c) Wahrnehmungsbegabte können sich oft außergewöhnlich gut konzentrieren und intensiv in eine Sache vertiefen. Konzentrationsstörungen treten nur bei Überreizung auf. Menschen mit AD(H)S können sich generell nicht gut konzentrieren. Allerdings führt die gesellschaftlich bedingt zunehmende Reizüberflutung bei hochsensiblen Kindern zu ähnlichen Symptomen wie bei AD(H)S-Kindern. Es wäre zu prüfen, ob der sprunghafte Anstieg der Zahlen von AD(H)S-diagnostizierten Kindern in den letzten Jahrzehnten sich korrigieren ließe, indem man sorgfältig zwischen Wahrnehmungsbegabung und AD(H)S unterscheidet.


Introversion und Extraversion

Nach Elaine Aron sind etwa 70% der HSP eher introvertiert und 30% extravertiert. Intro- oder Extraversion sind Persönlichkeitsmerkmale, die sich unabhängig von der Wahrnehmungsbegabung bei jedem Menschen zeigen, in Kombination mit dieser aber sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Deshalb soll kurz davon die Rede sein.

Die heutige Forschung geht davon aus, dass zwei Systeme im Gehirn, die wie Gegenspieler wirken, den Grad der Extra- oder Introversion eines Menschen bestimmen. Das eine System wird Verhaltensaktivierung genannt, sein Gegenspieler ist die Verhaltenshemmung. Das eine sorgt dafür, dass wir auf Menschen und Dinge zugehen, das andere ist ein Reflexionssystem und dient dazu, Gefahren zu erkennen (Parlow, 65-66). In drei Bereichen unterscheiden sich Intro- (I.) und Extravertierte (E.) (nach Skarics, 170f): 1. Art der Energiegewinnung (I. wenden sich ihrer Innenwelt zu, E. der Außenwelt). 2. Reaktion auf Stimuli (I. suchen Ruhe, E. suchen Gesellschaft). 3. Tiefe bzw. Breite der Interessen (I.: Tendenz zur Spezialisierung, E.: zur Generalisierung).

Nun bewirkt die Andersartigkeit eines wahrnehmungsbegabten Menschen regelmäßig ablehnende Reaktionen in der Gesellschaft; dabei müssen sich introvertierte HSP als »schüchtern«, »Spaßbremse«, »Weichei« oder »Träumer« titulieren lassen, extravertierte gelten hingegen als »exaltiert« oder »divenhaft«. In der Literatur ist jedoch überwiegend von introvertierten HSP die Rede. Das macht es für extravertierte HSP manchmal schwierig, sich darin wiederzufinden. Auch der gängige Selbsttest beinhaltet einige Fragen, die eine extravertierte HSP niemals mit Ja beantworten würde. Hier besteht noch Forschungsbedarf.

Nach Parlow sind extravertierte Hochsensible solche Menschen, bei denen beide Systeme, das der Verhaltenshemmung und -aktivierung, stark ausgeprägt sind. »Beide Systeme geraten oft miteinander in Konflikt, so dass sie nur eine sehr schmale Bandbreite der optimalen Stimulation [haben] … . Sie neigen dazu, oft und gerne Neues auszuprobieren, sich dabei aber auch selbst zu überfordern« (Parlow, 67). Extravertierte Hochsensible haben es also besonders schwer mit der Abgrenzung. Ein Burnout ist für sie beinahe vorprogrammiert.

Meiner Vermutung nach befinden sich unter den Pfarrer*innen, die wahrnehmungsbegabt sind, viele extravertierte oder mindestens ambivertierte (zu etwa gleichen Teilen extra- und introvertiert – Cain, 29). Anders lässt sich dieser Beruf kaum ausüben: Hinwendung zu anderen Menschen sowie eine gewisse Bandbreite der Interessen (Generalisierung) sind nötig.


Kopf, Herz und Bauch

Jede HSP hat eine individuelle Ausprägung ihrer Begabung, und diese beschränkt sich nicht, wie manchmal aufgrund des Begriffes »sensibel« falsch verstanden, auf eine besondere emotionale Wahrnehmungsbegabung. Es lassen sich mindestens drei Grundrichtungen unterscheiden (die sich allerdings – wie die Intro- und Extraversion – auch bei Nicht-Hochsensiblen finden): a) kognitive oder Kopftypen; sie haben einen Hang zur Mathematik und oft auch zur Musik; b) sensorische oder Bauchtypen; sie sind körperlich besonders sensibel und kreativ in den verschiedensten Bereichen; c) empathische/emotionale oder Herztypen, sog. Lastenträger; sie erspüren die Stimmungen und Bedürfnisse anderer Menschen. Natürlich gibt es auch Mischtypen in allen Varianten, und viele Hochsensible haben außerdem eine besondere spirituelle Ader; manche Einteilungen sehen hierin einen vierten Grundtyp.


HSP und ihr Platz in der Gesellschaft

Auf ihrem jeweiligen »Spezialgebiet« haben HSP oft herausragende Fähigkeiten. Daher profitiert die ganze Gesellschaft, wenn HSP diese optimal entwickeln können. Dazu brauchen sie jedoch Wertschätzung, Rückzugsmöglichkeiten und die passenden Arbeitsbedingungen.

Faktisch nehmen HSP schon als Kinder ihr Anders-Sein deutlich wahr. Wenn sie immer wieder die Rückmeldung bekommen, dass ihr in ihrer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit begründetes Verhalten unerwünscht ist, ist ein geringes Selbstwertgefühl fast unvermeidlich. Manche Wahrnehmungsbegabten legen sich als Selbstschutz eine besondere Härte zu; Gefühle werden abgelehnt und verdrängt. Nicht jeder Hochsensible ist in der Lage, seine Begabung als Geschenk anzusehen. Für Männer ist dies aufgrund der Rollenzuschreibungen oft besonders schwer.

Wertschätzung und eine passende Umgebung dagegen führen zur Stärkung des Selbstwertes einer HSP und zur Entfaltung ihrer Begabung. Für viele erwachsene HSP reicht es nach Georg Parlow aus, Informationen über Hochsensibilität zu bekommen. Sie bauen diese Kenntnisse nach und nach in ihren Alltag ein, und es ist für sie heilsam, ihre Eigenarten und Erfahrungen nun anders bewerten zu können. In der kognitiven Psychotherapie spricht man von Reframing, was »bedeutet, etwas in einen neuen Bezugsrahmen [zu] setzen« (Parlow, 108). Deutemuster verändern sich, Verletzungen können bearbeitet werden, Selbstabwertung und Unsicherheit nehmen ab, Strategien zum Umgang mit der eigenen Besonderheit können erlernt werden.


B. Hochsensibilität im Pfarrberuf

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich Wahrnehmungsbegabte zum Dienst als Pfarrer*in hingezogen fühlen. Denn »für viele HSP ist die persönliche Vervollkommnung auf einem spirituellen oder religiösen Weg der wichtigste und sinngebende Aspekt ihres Lebens« (Parlow, 47). Und sicher sind sie auch besonders geeignet für diesen Dienst. Aber welche Wechselwirkungen hat die Hochsensibilität mit dem Dienst als Pfarrer*in?


Vorteile – für sich selbst und andere

HSP vertreten hohe ethische Standards, leisten gerne gute Arbeit und sind in der Regel sehr gewissenhaft (Parlow, 40). Das ist von Vorteil im Blick auf eine Arbeit, die ein hohes Maß an Selbstmotivation und Eigenverantwortung erfordert. Hochsensible haben ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und auch ein ehrliches Interesse an Menschen und Zusammenhängen. Sie stehen nicht in der Versuchung, Dienst nach Vorschrift zu machen.

In der Seelsorge können besonders die emotional Hochsensiblen ihre Gaben entfalten. Sie sind einfühlsam und können gut zuhören (Parlow, 42), nehmen die Lasten anderer Menschen wahr und tragen sie mit, z.B. bei Trauerfällen, aber auch in anderen Grenzsituationen. Sie sind es gewohnt, sich selbst zu reflektieren und achtsam mit sich und anderen umzugehen.

In der Verwaltung kommt Hochsensiblen die Gründlichkeit zugute, die besonders den introvertierten zueigen ist. »Sie haben tendenziell mehr Verantwortungsgefühl bis hin zum Perfektionismus« (Parlow, 16).

Mit ihrem vernetzten Denken (Parlow, 38) haben besonders die kognitiv Hochsensiblen die Gemeinde als komplexes System mit vielen organisatorischen Aufgaben im Blick.

Besonders extravertierte HSP sind tendenziell Generalisten. Und solche werden im Pfarrberuf gebraucht. Durch ihre ausgeprägte Eigenmotivation, ihre Lernfähigkeit und -bereitschaft sowie die breit gefächerten Interessen können sich Wahrnehmungsbegabte immer wieder in neue Zusammenhänge einarbeiten. So kann die Tätigkeit als Pfarrer*­in für Wahrnehmungsbegabte sehr erfüllend sein. Es gibt Gestaltungsspielraum, den jeder nach seinen speziellen Gaben nutzen kann.


Herausforderungen

Durch die Fülle der Aufgaben und Begegnungen und das Mittragen von Lasten und Sorgen anderer Menschen ergibt sich fast zwangsläufig eine chronische Überstimulation und Überlastung. Bei lange andauerndem Stress muss vieles »unbewältigt ins Unterbewusstsein verschoben werden« (Parlow, 16) und wird suboptimal verarbeitet. Dadurch neigen HSP langfristig zu Erkrankungen, »vor allem zu sogenannten psychosomatischen Beschwerden und Zivilisationskrankheiten« (Parlow, 38, vgl. 34f). Es besteht die Gefahr auszubrennen.

Perfektionismus: HSP liefern oft hundertprozentige Ergebnisse ab, nehmen aber dafür eine hohe zeitliche Belastung in Kauf, oft auf Kosten der Regeneration. Dazu kommt das regelmäßige Arbeiten abends und am Wochenende. Es erschwert die Pflege von familiären und freundschaftlichen Kontakten. Das geht zwar auch normal sensiblen Pfarrer*innen so; jedoch ist es für HSP oft anstrengend, in der wenigen Freizeit auch noch Aktivitäten – und seien es angenehme – zu planen.

Ein weiteres Problem ist das sog. Nachhallen (Parlow, 30-33), die Verarbeitung von Eindrücken nach einem Ereignis. Da im Pfarrberuf Abendveranstaltungen die Regel darstellen, kann das Nachhallen Schlafstörungen verursachen, was wiederum die Leistungsfähigkeit am folgenden Tag beeinträchtigt.

Arbeitsort und -umfang: Die Empfehlung für HSP lautet, nicht unter einem Dach zu leben und zu arbeiten, um den nötigen Abstand zur Arbeit zu bekommen. Durch die Residenzpflicht ist dies jedoch nicht möglich. Das Pfarrdienstgesetz fordert zudem die ständige Erreichbarkeit. Ein Tag pro Woche »soll« dienstfrei gehalten werden und ein Wochenende (Sa./So.) im Monat. Zu diesem ständigen Bereitschaftsdienst kommt, dass der Umfang der Arbeitszeiten nicht in allen Landeskirchen klar geregelt wird. Diese Rahmenbedingungen haben zur Folge, dass ein pflichtbewusster Mitarbeiter nicht nur von seiner eigenen Motivation her (von innen), sondern zusätzlich noch formal (von außen) unter Druck gerät und das Gefühl bekommt, »immer im Dienst« zu sein. Die Erwartungen in der Gemeinde kommen noch hinzu.

Die Führungsrolle: »Da hochsensible Menschen so intensiv wahrnehmen, sind sie auch leichter zu verunsichern und zu stören.« (Parlow, 16) Manche HSP kompensieren dies mit Härte und Kompromisslosigkeit.

Wahrnehmungsbegabte neigen dazu, »sämtliche Implikationen einer Entscheidung sorgfältig abzuwägen«, sie sind oft »entscheidungslangsam« (Parlow, 39). Das führt zwar zu gut durchdachten, tragfähigen Entscheidungen, wird aber von außen u.U. als zögerlich oder führungsschwach wahrgenommen.

HSP eignen sich oft besser für die »zweite Reihe« denn als Führungspersönlichkeiten. Je nach Pfarrbild der jeweiligen Gemeinde und in Relation zum Kirchenvorstand kann sich das positiv oder negativ auswirken, je nachdem, wie die Vorstellungen zusammenpassen.

Zumindest introvertierte HSP sind in der Regel sehr harmoniebedürftig. Daher kostet es sie viel Kraft, Konflikte auszutragen. Diese Eigenschaft kann sie allerdings auch zum Friedensstifter machen (Parlow, 43).

Geselligkeit und Beziehungen: Das Beziehungsgeschehen spielt eine zentrale Rolle in der Gemeindearbeit. Die Komplexität des Beziehungsgeflechts erfordert allerdings nicht nur viel Fingerspitzengefühl, das Wahrnehmungsbegabten durchaus eigen ist, sondern auch ein dickes Fell, das HSP nicht haben und sich auch nicht wirklich antrainieren können.

Die Rollenvermischung hat außerdem ihre Tücken: man ist einerseits Seelsorger, andererseits Vorgesetzter von Mitarbeitenden; man ist Geistlicher und muss als solcher ein Gegenüber zur Gemeinde bilden, zugleich wird aber erwartet, dass man am gesellschaftlichen Leben teilnimmt und gerne mitfeiert – für (introvertierte) HSP, die eher keine Partylöwen sind, eine Herausforderung. Man ist Nachbar genauso wie Lehrer. Alle diese Rollen ergeben ein kompliziertes Gefüge, das viel Stoff zum Nachdenken liefert. Und, wie Georg Parlow es im persönlichen Gespräch ausdrückte, es stellt sich die Frage: »Können wir das leben, was wir predigen? Wenn es menschelt, wird das Unerlöste in uns angesprochen; das ist in der Gemeinde unangenehm.«


C. Was ist nötig, damit man als HSP den Dienst als Pfarrer*in dauerhaft gerne ausübt und gesund bleibt?

Für die Gemeinde kann es sehr gut sein, wenn der Pfarrer, die Pfarrerin wahrnehmungsbegabt ist und dieses Amt mit viel Herzblut versieht. Doch es erfordert Selbstbewusstsein, stabile seelische Gesundheit, Vergebungsbereitschaft und Demut, und der Kraftaufwand ist groß.

Damit die Arbeitszufriedenheit erhalten bleibt oder wächst und eine wahrnehmungsbegabte Pfarrerin die eigenen Ressourcen optimal ausschöpfen kann, ohne erschöpft zu werden, bedarf es zweierlei: auf Seiten der Pfarrperson ein gutes Selbstmanagement (1.), und auf Seiten der Personalverantwortlichen Wertschätzung für die besondere Begabung sowie passende Rahmenbedingungen bereits vom Beginn der Ausbildung an (2.).


1. Selbstmanagement-Strategien für wahrnehmungsbegabte Pfarrer*innen

Jeder ist anders. Daher ist ein erster Schritt, die eigene Persönlichkeit anzuschauen und aus den möglichen Strategien diejenigen auszuwählen, die passen. Dabei ist ein gutes Coaching auf jeden Fall hilfreich. Ein zweiter Schritt ist es zu lernen, die passenden Strategien konsequent anzuwenden.

Inseln schaffen: Um der Überreizung entgegenzuwirken, ist es wichtig, sich regelmäßig zurückzuziehen. Das kann beginnen mit dem täglichen Gebet und Bibellesen am Morgen. Das Arbeiten von zuhause aus ermöglicht, wenn auch nicht täglich, aber regelmäßig, eine Mittagspause. In Ruhe essen, vielleicht ein Mittagsschlaf oder eine halbe Stunde Lesen, etwas im Garten tun, je nachdem, wie man am besten regeneriert – das können solche täglichen Inseln sein.

Im Wochenverlauf ist es wichtig, den einen freien Tag wirklich frei zu halten, und im Monatsverlauf das freie Wochenende. Oft ist es nötig, nicht zuhause zu sein, um wirklich Ruhe zu haben. Ein Refugium zu finden, etwa ein Ferienhaus oder einen Wohnwagen, bietet die Möglichkeit wegzufahren, ohne jedes Mal neu überlegen zu müssen, wohin, und an einem Ort zu sein, der ein zweites Zuhause bietet. Einmal monatlich ein Gespräch mit dem geistlichen Begleiter sollte auch möglich sein.

Computer und Smartphone tendieren dazu, ein Eigenleben zu entwickeln, das zusätzlich Stress produziert. Auch hier ist es nötig, immer wieder kritisch den eigenen Gebrauch zu überprüfen.

Arbeitsstruktur und -zeit: Eine gute Jahresplanung ist unerlässlich, um freie Wochenenden und Urlaub im vollen Umfang überhaupt wahrnehmen zu können. Vorbereitungszeiten als Termine im Wochenplan zu notieren hilft ebenso wie das tägliche Aufschreiben der Arbeitszeiten – einerseits, um die Übersicht zu behalten, wie viele Stunden man arbeitet, und um nicht dem Irrglauben zu verfallen, man hätte noch nicht genug getan. Zusätzlich hilft es zur Abgrenzung: arbeite ich gerade oder bin ich »zu Hause«?

Delegieren, Klären von Zuständigkeiten, Zeiten, in denen man aufräumen und Ordnung schaffen kann, sind wichtig; sie tragen enorm zu einem entspannten, freudevollen Arbeiten bei.

Achtsamkeit und Selbstverantwortung: Die Verantwortung für mein eigenes Wohlergehen liegt nicht bei anderen Menschen. Ich selbst muss meine Grenzen kennenlernen, achten und auch nach außen vertreten. Georg Parlow empfiehlt, sich am Arbeitsplatz nicht als HSP zu outen, sondern stattdessen konkrete Stärken und Schwächen zu benennen. So kann man mit Mitarbeitenden und Kollegen klären, wie alle ihren Gaben gemäß arbeiten können und man sich sinnvoll ergänzt.

Für HSP setzt das voraus, sich selbst gut zu reflektieren. Dabei ist es hilfreich, Signale des Körpers ernst zu nehmen. Achtsamkeit findet Halt im geistlichen Leben, wenn die Selbstverantwortung im Gebet zurückgebunden wird an das Vertrauen auf Gott, der für mich sorgt, mich durch schwierige Zeiten trägt, stärkt, erfrischt und mir Ruhe gönnt und ermöglicht (Sabbatgebot!).

Perfektionsstreben kritisch reflektieren: An welchen Stellen ist Perfektion angebracht, und wo ist sie hinderlich, zeitraubend oder gar verkehrt? Auch hier kommt ein geistlicher Aspekt ins Spiel: Ich gehe nicht davon aus, dass ich alles perfekt kann. Ich gestehe Gott und Menschen zu, mich zu korrigieren und zu ergänzen. Damit sind meinem Perfektionsstreben Grenzen gesetzt an Stellen, wo es mir und anderen zum Schaden werden kann.

Eigene Grenzen achten: Das ist für viele Wahrnehmungsbegabte ein schwieriger Lernprozess, weil man unter Umständen schon sein Leben lang darunter leidet, viel früher an die Grenzen der Belastbarkeit zu stoßen als andere. Man möchte sich und anderen beweisen, dass man genauso leistungsfähig ist – ohne zu bedenken, dass man in derselben Zeit deutlich mehr bewältigen muss als die meisten anderen.

Arbeit am Selbstwertgefühl: Hier geht es nicht um ein selbstbewusstes, starkes Auftreten. Dies ist sicherlich eine Rollenzuschreibung für Pfarrer*innen, mit der man sich auch auseinandersetzen muss. Es geht vielmehr darum, zu einer stabilen seelischen Gesundheit zu finden. Dazu ist Arbeit an den Verletzungen der Vergangenheit nötig. Es ist zu prüfen, wo etwa einem aktuellen Konfliktfeld alte Prägungen, sog. Übertragungen, zugrunde liegen. Vergebungsbereitschaft bereitet den Weg zur inneren Heilung.

Bei einer ausgeprägten Opferbereitschaft, die auf Kosten der eigenen Gesundheit geht, wäre zu prüfen, ob ein Mangel an Selbstwert dahinter steht. Hier ist ein Reframing hilfreich.

Stressabbau: Stress lässt uns flach atmen. Dagegen bewirkten Entspannungsübungen oder Sport eine tiefe Atmung, die den Körper bei der Entsäuerung über die Lungen unterstützt (www.bkk24.de) und den Abbau von Stresshormonen bewirkt.

Dem Abbau von Stress förderlich ist auch das bewusste Ablegen der Lasten anderer, die man ein Stück Weg begleitet hat, etwa bei einem Trauerfall. Christus hat alle unsere Lasten am Kreuz getragen, und bei ihm ist der Ort, wo auch wir fremde Lasten wieder abgeben können.

Für außerdienstliche Kontakte sowie Freizeitaktivitäten ist oft kaum Energie übrig. Trotzdem ist es wichtig, auch diesen Lebensbereich als Ausgleich bewusst zu pflegen.

Gesunde Ernährung: Für viele Hochsensible ist das Thema Essen kompliziert. Einige leiden unter Allergien, andere können immer nur kleine Portionen essen, damit sie nicht müde werden, geraten aber umgekehrt schnell in einen Zustand der Unterzuckerung und können sich dann nicht mehr konzentrieren. Kaffee wird von vielen HSP nicht vertragen; dagegen ist es hilfreich, in Stresssituationen viel Wasser zu trinken, um die Arbeit der Nieren zu unterstützen. Im Blick auf einen erhöhten Cortisolspiegel (Stress) kann eine passende Ernährung ausgleichend wirken. Ein lohnendes Thema ist in dieser Hinsicht die Säure-Basen-Balance (vgl. Knophius). Zuviel säurebildende Nahrungsmittel (Fleisch, Käse, Fisch) bewirken durch eine Überforderung der Nieren eine weitere Erhöhung des Cortisols (www.bkk24.de). Pflanzenbasierte Ernährung ist hilfreich, weil sie zum einen die Mineralien enthält, die der Körper zum Ausgleich braucht. Zum anderen haben die vielen anderen Inhaltsstoffe eine Schutzwirkung und helfen Schlaganfall, Herzinfarkt, Diabetes, evtl. auch Krebs vorzubeugen. Sie hilft bei Arthrose und Verspannungen; Nierensteine können verhindert oder abgebaut werden, sowie auch Ablagerungen im Bindegewebe. Ernährungsempfehlungen orientieren sich an der sog. PRAL-Tabelle, Institut für Ernährung, Dortmund. Alle diese Zusammenhänge können hier nur verkürzt dargestellt werden; es sei auf die angegebene Literatur verwiesen.


2. Wertschätzung der Wahrnehmungsbegabung auf institutioneller Ebene

Die Empfehlung von Georg Parlow, sich nicht zu outen, sondern Stärken und Schwächen am Arbeitsplatz zu benennen, kann für die Arbeit des Pfarrers/der Pfarrerin in der Gemeinde gelten. Den Personalverantwortlichen in den Kirchenleitungen jedoch wird die Auseinandersetzung mit dem Thema Hochsensibilität helfen, den langfristig verantwortbaren Umgang mit Ressourcen und die Arbeitszufriedenheit zu sichern.

Klären der Arbeitszeit-Frage: Eine klare Vorgabe, wie viele Stunden die Wochenarbeitszeit beträgt3, ist für HSP eine wichtige Strukturierungshilfe. Wenn das »Tagwerk« getan ist, kann man auch guten Gewissens »Feierabend« machen – und das ist im Pfarrberuf ohnehin schon schwer genug. Was spricht gegen eine 40-Stunden-Woche oder ein Jahresarbeitszeitkonto? Für Wahrnehmungsbegabte ist es außerdem gut, wenn es die Möglichkeit gibt, in Teilzeit zu arbeiten, ohne dafür eine konkrete Begründung liefern zu müssen.

Residenzpflicht überdenken: Auch wenn vieles für ein Mitleben und -wohnen des Pfarrers/der Pfarrerin in seiner Gemeinde spricht ist, lässt sich heutzutage auch mithilfe der Technik eine gute Erreichbarkeit einrichten. Es wäre also zu überdenken, ob Residenzpflicht, die 24-Stunden-Regel und die 6-Tage-Woche weiterhin nötig sind.

Mentoring während der Ausbildung: Hochsensibilität sollte bereits im Studium thematisiert werden, etwa in einem Mentoring für Studenten oder in Form eines Seminars während der Begleitung eines Gemeindepraktikums. Spätestens im Vikariat sollten Fragen der Persönlichkeitsbildung, der Einschätzung des eigenen Temperaments und Umgang mit Verletzungen in der Vergangenheit eine mehr als beiläufige Rolle spielen. Mentoren brauchen Kenntnisse über Wahrnehmungsbegabung, um verständig begleiten zu können.

Wahrnehmungsbegabung als Plus bei der Einstellung: Weiterhin wäre es wichtig darauf zu achten, dass (nicht nur) hochsensible Vikare mit überbordenden Ansprüchen eines Lehrpfarrers nicht alleine gelassen werden, so dass sie völlig erschöpft aus dem Vikariat aussteigen, weil sie meinen, nicht für den Pfarrberuf geeignet zu sein (wie in einem mir bekannten Fall geschehen). Gerade diese Vikare brauchen in der Zeit der Ausbildung ein geeignetes Coaching, um ihnen die volle Entfaltung ihres Potentials zu ermöglichen. Auch bei Einstellungstests müssten sie anders bewertet werden; im Anforderungsprofil sollten die besonderen Fähigkeiten Hochsensibler positiv zu Buche schlagen.

Supervision, Intervision, Coaching, Seelsorge: Der regelmäßige Austausch unter Kollegen ist in Pfarrkonventen im Prinzip vorgesehen; allerdings bleibt je nach Größe und Zusammensetzung der Gruppe vieles im Allgemeinen stecken. Deshalb wären kleinere Gruppen und gezielte Schulung in kollegialer Beratung und Selbstmanagement sinnvoll. In besonderen Phasen (Einarbeitung, Konfliktsituationen) sollte ein Coaching selbstverständlich sein. Als Seelsorger selbst auch einen Seelsorger zu haben, hat sich bewährt; allerdings ist es nötig, dass dieser nicht im selben System tätig, also weder Dienstvorgesetzter noch unmittelbarer Kollege ist. Für HSP sollten wahrnehmungsbegabte, diesbezüglich geschulte Coaches zur Verfügung stehen.

Klare Rollenbeschreibungen und Arbeitsaufträge: In der Gemeindearbeit ist oft gängige Praxis, dass der/die Pfarrer*in alles das tun muss, was kein anderer tun kann oder will. Das reicht von Hausmeistertätigkeiten bis zum Spendensammeln, von der Bauleitung bis zur Pflege der Gemeinde-Homepage. Für keine dieser Aufgaben sind Pfarrer*innen ausgebildet. Und sie sind neben der eigentlichen Arbeit von Gottesdiensten, Unterricht, Seelsorge und Kasualien zu leisten. Zwar sind extravertierte Wahrnehmungsbegabte zumeist Generalisten. Sie können vieles und fügen sich flexibel in die Arbeit ein. Aber es gibt Grenzen von Zeit, Kraft und Fähigkeiten, und nicht jede/r Pfarrer*in kann überall als Joker eingesetzt werden. Klare Absprachen und Arbeitsaufträge helfen auf jeden Fall, Enttäuschungen und Konflikte zu vermeiden; sie ermöglichen Synergieeffekte und fördern die Freude an der gemeinsamen Arbeit.

Die aktuelle »Handreichung für die Gestaltung des gemeindlichen Pfarrdienstes« (Juni 2016) der EKHN bietet in dieser Hinsicht schon einen sinnvollen Ansatz. Sie hat die »Zielsetzung, vor allem über die Pfarrdienstordnung eine Aufgaben- und Zuständigkeitsklärung zu erreichen.« (S. 8) Denn »es ist nachgewiesen und zu beobachten, dass ungelöste Spannungen im Beruf, wenn sie über längere Zeit anhalten, den Pfarrerinnen und Pfarrern nicht dienlich sind. Es kommt zu Ermüdungs- und Erschöpfungserscheinungen, die nicht selten in eine ernste Krankheit münden. Dies als unvermeidliche Begleiterscheinung des Pfarrberufes hinzunehmen, ließe sich mit dem christlichen Menschenbild nicht verantworten und es wäre der Kommunikation des Evangeliums und der Wahrnehmung des Auftrags der Kirche nicht dienlich« (S. 11).

Allerdings stellen vor allem die immer komplizierter werdenden Verwaltungsvorgänge ein Problem dar. Eine gut aus- und fortgebildete Pfarramtssekretärin fängt viele Aufgaben ab, ist aber auch meistens mit zu wenigen Stunden ausgestattet und in der Regel unterbezahlt. Eine monetäre und zeitliche Aufwertung dieser Stellen im Sinne von Gemeindemanagement wäre notwendig und trüge zur Entlastung des Pfarramtes bei.


Ausblick

Eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema könnte den oben bereits angedeuteten Fragestellungen nachgehen: Wie hoch ist der Anteil der Hochsensiblen in der Pfarrerschaft? Welche Selbstmanagement-Methoden sind für sie besonders geeignet? Und für das Personalmanagement der Kirchen: Wie können hochsensible Pfarrer*innen ressourcenorientiert arbeiten? Wie können geeignete Menschen für den Pfarrernachwuchs gefunden, gut vorbereitet und begleitet werden? Wie lassen sich die Arbeitsbedingungen so verbessern, dass Burnout vorgebeugt und ein hoher Krankenstand verringert wird? Wie kann die Arbeitszufriedenheit und -effizienz im Pfarramt verbessert werden?


Literatur

Aron, Elaine N.: Sind Sie hochsensibel? München 10. Aufl. 2015
Cain, Susan: Still. Die Kraft der Introvertierten. München 6. Aufl. 2013
Knophius, Heike: Säure-Basen-Balance. München 8. Aufl. 2007
Lüling, Christa und Dirk: Lastentragen, die verkannte Gabe. Lüdenscheid 8. Auflage 2012
Dies.: Skript des Seminars für Hochsensible Lastenträger in Heidelberg, 25.6.2016
Parlow, Georg: zart besaitet. Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen. Wien 4. Aufl. 2015
Skarics, Marianne: Sensibel kompetent. Zart besaitet und erfolgreich im Beruf. Wien 3. Aufl. 2015
EKHN: Handreichung für die Gestaltung des gemeindlichen Pfarrdienstes. Darmstadt, Juni 2016


Empfehlenswerte Internet-Seiten

Selbsttest: www.feine-sensoren.de
Wissenschaftliches Netzwerk Deutschland: www.hochsensibel.org
Geschichte der Erforschung: www.britta-karres.de
www.zartbesaitet.net
Neben einigen weiteren guten Internetseiten gibt es auch viele, in denen Esoterik eine große Rolle spielt; eine kritische Beurteilung ist ratsam.


Anmerkungen:

1 Über die Forschungsergebnisse berichten insbesondere Cain, aber auch Parlow und Aron.

2 Theresia Drews, Trauma-Workshop beim HSP-Seminar Lüling; vgl. auch Parlow, 104-106.

3 Wie im Juni 2016 in der EKHN-Handreichung geschehen.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrerin Christiane Seresse, Jahrgang 1967, Pfarrerin der EKHN, Thema ihrer ­Studienzeit 2016: »Hochsensibilität im Pfarrberuf«.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 5/2018

1 Kommentar zu diesem Artikel
19.09.2023 Ein Kommentar von Liesi Danke für den interessanten Artikel, ist sicher auch für viele Menschen in sozialen Berufen relevant und hilfreich.
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