Im Jahr 2013 und 2014 wurden von der Evang. Kirche in Hessen-Nassau (EKHN) zwei Gesetze verabschiedet, die es Pfarrer*innen bzw. Prädikant*innen untersagen, als »freie Redner« bei Bestattungen oder anderen kasualähnlichen Handlungen aufzutreten. Konstantin Sacher hält diese Regelungen für theologisch unhaltbar und hinterfragt das Selbstverständnis einer Kirche, die solche Gesetze erlässt.



1. Einleitung

Ein Holzgerüst, weinende Menschen, eine schreiende Mutter, ein verzweifelter Vater und ein kleiner Junge, der an einem Strick baumelnd, tot in der Luft hängt. Martin Luther rennt zum Jungen, nimmt seinen toten Körper in den Arm und drückt ihn an sich. Es ist eine bewegende Szene aus dem Lutherfilm von 2003 und das sicher nicht nur für mich, weil ich Söhne in ähnlichem Alter habe. Als wäre der Suizid ihres Kindes nicht schrecklich genug für die Hinterbliebenen, war es damals üblich, dass der kleine Junge nicht auf dem Friedhof begraben werden durfte. Suizid war Mord und damit Sünde. Luther schert sich im Film nicht darum, er setzt sich über die Regelung der Kirche hinweg und handelt als Seelsorger.1 Die Seele der Eltern und anderer Hinterbliebener muss im Zentrum stehen, sie brauchen Beistand, möge dieser auch noch so wenig ausrichten können gegen den Schmerz, die Verzweiflung angesichts des Todes des eigenen Kindes. Es ist die Aufgabe eines Menschen, der sich im Auftrag des Evangeliums arbeitend versteht, jener Botschaft, dass Gott Gnade ist, dass Gott Liebe ist, dass diese Gnade, diese Liebe ohne Konditionen, ohne Kleingedrucktes feststeht; es ist die Aufgabe eines solchen Menschen die kirchlichen Regelungen außen vor zu lassen und zu handeln. So versucht der Film, Luthers Denken zu illustrieren.

Nun ist diese Erkenntnis im Falle eines Suizids heutzutage Gott sei Dank nicht mehr strittig. Es geht mir im Folgenden daher auch nicht um den Suizid, sondern darum, wie Luther im Film die Situation einschätzt und sein Gewissen die Entscheidung treffen lässt: nicht die kirchlichen Ordnungen, sondern die Seele der Menschen hat an erster Stelle zu stehen. Die Erkenntnis, dass Menschen, die Suizid begangen haben, kirchlich bestattet werden dürfen, ist ja auch nur deswegen gereift, weil der Suizid heute theologisch anders beurteilt wird und eine kirchliche Bestattung deswegen auch nicht mehr verwehrt werden kann. Sie ist nicht die Konsequenz eines Austretens aus der kirchenrechtlichen Verbotslogik, die schon dem Bestattungsverbot für Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende gemacht haben, zugrunde lag. Diese Möglichkeit, nach einem Suizid kirchlich zu bestatten, ist also nicht etwa deswegen entstanden, weil erkannt worden wäre, dass kirchliche Ordnungen generell dann außer Kraft zu treten haben, wenn das Gewissen es erfordert, wenn es um eine Aufgabe geht, die vom Evangelium her gefordert ist.

Dass eine solche, auf den ersten Blick selbstverständlich anmutende Denkweise auch heute noch nicht gilt, zeigt folgende Gegebenheit, um die es in diesem Artikel gehen soll: die von mir so genannte »freie Kasualie«. Damit ist gemeint, dass eine Pfarrerin, ein Pfarrer eine Handlung ausführt, die der einer Kasualie nahesteht, aber nicht im kirchlichen Rahmen stattfindet und daher nicht eigentlich Kasualie ist. Konkret: Eine Pfarrerin führt in der Funktion der »freien Rednerin« eine Bestattung durch oder – um zu zeigen, dass es hier gar nicht mal immer um den schlimmen Fall des Todes gehen muss – ein Pfarrer führt in der Funktion des »freien Redners« eine Trauung durch.2 Es geht also darum, dass Menschen, die keine Kirchenmitglieder sind, sich an eine Pfarrperson mit der Bitte wenden, dass sie sie in einer besonderen Lebenssituation begleiten möge und zwar nicht als Pfarrer oder Pfarrerin, sondern einfach als Mensch, dem eine besondere Fähigkeit zur Lebensbegleitung zugesprochen wird.3 Der Nucleus der Situation: Menschen suchen Deutungskompetenz in Fragen ihres Lebens und greifen auf eine Pfarrperson zurück, auch wenn sie keine Kirchenmitglieder sind.4


2. Zwei neuere Gesetze der EKHN

Eigentlich könnte sich die Kirche ja freuen, dass ihren Pfarrpersonen eine solche Kompetenz zugeschrieben wird; eigentlich könnte sie sich freuen, dass damit auch ihr indirekt noch eine Kompetenz zur Lebensdeutung zugeschrieben wird. Doch, dass dies nicht so ist, zeigen zwei neuere Kirchengesetze, die in der EKHN im Jahr 2013 und 2014 beschlossen worden sind. Es handelt sich dabei um die Lebensordnung (LO) und das Prädikanten- und Lektorengesetz (PLG). In beiden werden ganz explizit Verbote für solche »freien Kasualien« geregelt. Was an sich schon ein kirchenrechtlich merkwürdiger Ansatz ist (s.o.), die Regelung eines Verbots, wird hier durch seine Konkretisierung besonders merkwürdig.

In der Lebensordnung taucht im Abschnitt zur Bestattung (Abschnitt VI) und dort genauer im dritten Teil, der die »Richtlinien und Regelungen« bietet, unter der Überschrift »Die Voraussetzung für die kirchliche Bestattung« ganz zum Schluss, systematisch völlig unpassend, folgende Regelung auf: »Pfarrerinnen und Pfarrern, Prädikantinnen und Prädikanten ist es nicht gestattet, bei einer Beisetzung als freie Rednerin oder freier Redner aufzutreten.«5 Eigentlich geht es systematisch an dieser Stelle des Gesetzes darum zu regeln, in welchem Fall eine kirchliche Bestattung stattfinden darf. Nun wäre eine Bestattung, in der eine Pfarrperson als »freie Rednerin« oder »freier Redner« auftritt ja aber gerade keine kirchliche Bestattung. Die Regelung steht also mindestens am falschen Ort.6 Die Intention der Regelung ist aber offensichtlich auch eine andere. Es soll klargemacht werden, dass es mit dem Amtsverständnis einer Pfarrperson in der EKHN nicht vereinbar ist, dass diese eine »freie Kasualie« durchführt. Die Regelung hätte ihren systematischen Ort daher eigentlich im Pfarrdienstgesetz und nicht in der Lebensordnung.

Systematisch, aber auch nur so, schlüssiger ist dagegen die Regelung im Prädikanten- und Lektorengesetz. Dort heißt es im §5, der den Dienst der Prädikanten und Lektoren regelt, im Abs. 11: »Die Beauftragung als Lektorin oder Lektor, Prädikantin oder Prädikant schließt eine Tätigkeit als freie Kasualrednerin oder als freier Kasualredner, freie Predigerin oder freier Prediger aus.« Auch hier also die Vorstellung: Die kirchliche Amtsperson kann nicht in außerkirchlichen Kontexten wirken, ohne in Widersprüche zu geraten.

Diese beiden Regelungen bringen ein Amtsverständnis der EKHN zum Ausdruck, das es als unvereinbar mit dem Pfarramt erachtet, auch in nicht-kirchlichen Kontexten als Experte für Lebensdeutung aufzutreten. Bevor ich auf die theologische Problematik dieser Regelung eingehe, sei noch erwähnt, dass die Regelungen der EKHN aus den Jahren 2013 und 2014 zeigen, dass die Frage dieses Artikels keine rein theoretische ist. Denn – so nicht nur die Vermutung, sondern auch die Bestätigung der EKHN auf meine Nachfrage – die Regelungen reagierten ganz explizit auf die von der Kirchenverwaltung als Missstand empfundene Situation, dass immer wieder Pfarrerinnen und Pfarrer genau das nun Verbotene taten, nämlich auch »freie Kasualien« auszuführen. Das kam besonders im Fall der Bestattung vor, weswegen sich die beiden Verbote auch speziell auf diesen beziehen, aber, so die Auskunft, sie gelten äquivalent auch für Trauungen. Die EKHN möchte also verbieten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Angehörigen, die nach dem Tod eines ihnen nahestehenden Menschen Halt, Deutung suchen, zur Seite stehen.


3. Die Situation in den anderen Landeskirchen

Um zu überprüfen, wie es sich in den anderen Landeskirchen in Deutschland verhält, habe ich alle 20 Gliedkirchen der EKD angeschrieben und um eine Stellungnahme gebeten. Es hat sich gezeigt, dass die EKHN hier zwar eine in der EKD einmalige Verbotsregelung unterhält, mit der Intention dahinter aber keineswegs alleine ist. Alle Kirchen, die geantwortet haben,7 verbieten ihren Pfarrpersonen die »freie Kasualie«. Sie berufen sich dabei grundsätzlich auf das Pfarrdienstgesetz der EKD (PfDG.EKD) und besonders auf die §3 und §24.

Der §3 des PfDG.EKD beschäftigt sich mit der Ordination. Dort heißt es in Abs. 2: »Die Ordinierten sind durch die Ordination verpflichtet, das anvertraute Amt im Gehorsam gegen den dreieinigen Gott in Treue zu führen, das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis ihrer Kirche bezeugt ist, rein zu lehren, die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß zu verwalten, ihren Dienst nach den Ordnungen ihrer Kirche auszuüben, das Beichtgeheimnis und die seelsorgliche Schweigepflicht zu wahren und sich in ihrer Amts- und Lebensführung so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung des Amtes nicht beeinträchtigt wird.« Besonders der letzte Teil dieses Absatzes, also die Verpflichtung dazu, das Amt glaubwürdig auszuüben, wird nun in Anschlag gebracht, um eine »freie Kasualie« zu verbieten. Das Durchführen solcher Handlungen widerspreche einer glaubwürdigen Amtsführung.

In §24 Abs. 3 heißt es: »Pfarrerinnen und Pfarrer haben in ihrem dienstlichen und außerdienstlichen Verhalten erkennen zu lassen, dass sie dem anvertrauten Amt verpflichtet sind und dieses sie an die ganze Gemeinde weist. Sie berücksichtigen in ihrem Dienst die Vielfalt der Handlungsfelder und Erscheinungsformen, in denen sich der Auftrag der Kirche konkretisiert.« Auch hier geht die Argumentation so, dass die Durchführung einer Bestattung oder Trauung im Sinne einer »freien Kasualie« ein Verhalten darstellt, das, auch wenn es als außerdienstliches gekennzeichnet ist, dem anvertrauten Amt nicht entspricht.

Als Grundargument kann also auch in den anderen Landeskirchen herausgelesen werden, dass die Ansicht vorherrscht, das Auftreten als »freier Redner« oder »freie Rednerin« widerspreche dem Pfarramt. Der Zusammenhang von Amts- und Lebensführung ist hier betont. Eine Lebensführung, so ist das kirchliche Argumentieren nur zu verstehen, in der ein Pfarrer, eine Pfarrerin seine Lebensdeutungskompetenz auch nicht kirchlichen Menschen zur Verfügung stellt und, so könnte man weiter interpretieren, dabei womöglich Deutungen vornimmt, die nicht explizit vom christlichen Symbolbestand (Jesus Christus, Bibel, Gott, was auch immer man sich aussuchen möchte) ausgehen, steht im Widerspruch zur glaubwürdigen Ausübung des Amtes.


4. Die »freie Kasualie« als theologische Fragestellung

Wie die EKHN, die das Verbot explizit regelt, so begeben sich auch die übrigen Landeskirchen mit dieser Argumentation auf ein argumentatives Terrain, das an vielen Stellen nicht nur uneben ist, sondern zu einer Kraterlandschaft wird. Von den vielen Anfragen, die sich hier ergaben, möchte ich zwei explizit aufgreifen und theologisch bearbeiten:8

1. Inwiefern kann es dem »glaubwürdigen« Handeln einer Pfarrperson widersprechen, wenn sie Menschen, deren Seele Begleitung, Deutung braucht, diese gewähren, auch wenn es sich hier um keine dezidiert christliche Begleitung, Deutung handelt?

2. Wie kann ein Kirchenverständnis ekklesiologisch bewertet werden, das solche Verbote ausspricht?

Um die Antworten zu den einzelnen Fragen nicht allzu ausufernd werden zu lassen, beschränke ich mich auf wenige Aspekte der viel tiefer gehenden Fragen.


4.1 Die fundmentaltheologische Dimension

Ich möchte, da es sich ja um ein Problem handelt, dass durch kirchenrechtliche Regelungen entsteht, zunächst auch anhand dieser Regelungen zeigen, inwiefern die »amtskirchliche« Argumentation, dass das Durchführen solcher »freien Kasualien« der von Pfarrpersonen geforderten Glaubwürdigkeit widerspricht, sich selbst widerspricht. Das PfDG.EKD beginnt in §1 Abs. 1 folgendermaßen: »Die Kirche lebt vom Evangelium Jesu Christi, das in Wort und Sakrament zu bezeugen sie beauftragt ist.« Nun eigentlich ist damit bereits alles gesagt. Aber – weil das ja offensichtlich nicht jeder so sieht – möchte ich diesen Satz kurz auslegen: Die Kirche, in diesem Fall konkretisiert als Kirchenorganisation in Form einer der dieses Gesetz anwendenden Gliedkirchen der EKD, ist kein Selbstzweck. Sie lebt vom Evangelium. Das heißt es gibt sie nur, weil es dieses Evangelium gibt und es gibt sie auch nur, solange und insofern diesem Evangelium eine Bedeutung zugemessen wird. Der Auftrag der Kirche besteht ausschließlich in der Bezeugung dieses Evangeliums (in der Form von Wort und Sakrament). Sie hat keinen theologisch legitimierbaren weitergehenden Auftrag. Alles, was die Kirche tut, muss sich anhand dieses Auftrages messen lassen. Die Pfarrpersonen als ordinierte Amtspersonen dieser Kirche haben ihre Handlungen also anhand dieses Anspruches zu rechtfertigen.

Der Satz aus §3 Abs. 2 PfDG.EKD (»Die Ordinierten sind durch die Ordination verpflichtet [...] sich in ihrer Amts- und Lebensführung so zu verhalten, dass die glaubwürdige Ausübung des Amtes nicht beeinträchtigt wird.«) kann also nur so verstanden werden, dass diese Glaubwürdigkeit sich am Evangelium von Jesus Christus zu messen hat. Alles, was eine Pfarrperson als Amtsperson und Privatperson tut, das nicht dem Evangelium von Jesus Christus entspricht, das widerspricht auch der Glaubwürdigkeit der Amtsausübung. Dass es an gleicher Stelle auch heißt, dass die Pfarrperson »ihren Dienst nach den Ordnungen ihrer Kirche auszuüben« hat, kann hier insofern nicht gegen diese Auslegung in Anschlag gebracht werden, weil ja auch diese »Ordnungen der Kirche«, §1 Abs. 1 PfDG.EKD folgend, ausschließlich vom Evangelium her leben. Und in diesem schönen vom Gesetzestext selbst evozierten Bild des Lebens bleibend heißt das, dass Ordnungen, wenn sie nicht dem Evangelium verpflichtet sind, sterben. Sie verlieren schlicht ihre Bedeutung.

Nun stellt sich natürlich noch die theologisch anspruchsvolle Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus zu definieren. Es ist klar, dass dies in diesem kurzen Text nicht einmal annähernd befriedigend geleistet werden kann. Deshalb nur so viel: Egal wie diese Frage beantwortet werden würde, eine Antwort kann niemals darauf hinauslaufen, dass Menschen, die Beistand oder Deutung erbitten, mit Berufung auf das Evangelium abgewehrt werden können. Egal was das Evangelium ist, es ist ganz sicher nicht die frohe Botschaft, den menschlichen Bedürfnissen nach Beistand und Deutung Ignoranz gegenüberzustellen. Auch ohne eine genaue Definition des Evangeliums wird also klar: Niemand kann unter Berufung auf das Evangelium anderen Menschen Beistand verwehren.

Nun könnte natürlich der Einwand kommen, dass eine Handlung einer Pfarrperson, in der Leben ohne direkten Rückgriff auf die christliche Tradition mit anderen offeneren Bildern gedeutet wird, doch der eigentliche Grund für das kirchliche Verbot sei. Dass es eben unglaubwürdig macht, wenn eine Pfarrperson bei einer Bestattung im Sinne einer »freien Kasualie« nicht davon spricht , dass der Verstorbene in die Hände des dreieinigen Gottes zurückgeht, sondern davon, dass er zum ewigen Ursprung des Lebens zurückkehrt, der unendlichen Kraft des Universums anbefohlen wird oder ganz schlicht festgestellt würde, dass der Tod jenes Menschen uns wieder einmal fassungslos vor das ewige Rätsel des Lebens stellt.9 Unabhängig davon, dass solche offenen Formulierungen völlig problemlos in einem kirchlichen Kontext verwendet werden könnten (und ganz sicher auch verwendet werden), stellte sich also die Frage, ob es den christlichen Traditionsbestand als Bezugsrahmen braucht, damit eine Handlung durch eine Pfarrperson glaubwürdig wird. Wird ein Pfarrer, der auch »freie Kasualien« ausführt, damit nicht zum Diener zweier Herren? Wird die Pfarrerin damit nicht zumindest auch zur Götzendienerin?

Das scheint auf den ersten Blick schlüssig. Doch schon auf den zweiten Blick bröckelt diese Argumentation und kommt schließlich völlig ins Rutschen. Sie verweist nämlich auf die Frage, was wir eigentlich tun, wenn wir von Gott sprechen oder auch, was wir tun, wenn wir in unserem Zusammenhang von Universum sprechen. Religiöse Sprache, man könnte in unserem Zusammenhang auch sagen, Verkündigungssprache ist symbolische Sprache. Wir werden also auf die Frage nach der Bedeutung von Symbolen verwiesen. Auch dieses Thema kann hier natürlich nicht in seiner vollen Tiefendimension verhandelt werden, aber vielleicht reichen einige Hinweise zu dem, was mit Symbol gemeint sein kann, um den imaginierten Einwand zu entkräften.

Religiöse Symbole sind (nach Tillich) der Verweis auf das Unbedingte unter den Bedingungen des Bedingten. Was soll das heißen? Wenn wir davon sprechen, dass »Gott unseren Verstorbenen heim ins sein ewiges Reich genommen« hat, dann ist das unser menschlicher Versuch, etwas letztlich nicht Beschreibbares zu erfassen. Die religiös symbolische Ausdrucksweise, dass Gott jemanden mit sich nimmt, in sein Reich nimmt, meint natürlich nicht wörtlich das Ausgedrückte. Es ist vielmehr der Versuch, die Unbedingtheitsdimension unseres Daseins, hier zugespitzt auf die Endlichkeit des Lebens, zu erfassen. Was in Bezug auf das Bild des »Heim-ins-Reich-Holens« noch allen unmittelbar einleuchten mag, ist in Bezug auf Gott selbst vielleicht noch schwerer zu erfassen. Auch »Gott« ist ein Symbol, wenn auch ein grundlegendes10. »Gott« ist (wieder nach Tillich) die symbolische Bezeichnung für das Sein-Selbst, die wir brauchen, um uns überhaupt mit diesem Sein-Selbst in Beziehung setzen zu können. Leichter gesagt: Wenn ich »Gott« sage, meine ich nicht ein etwas, was »Gott« heißt und irgendwo als Entität vorhanden ist.

Dabei hat alles symbolische Reden bereits eine tiefe Dialektik inne. Ich wende mich an das Symbol und weiß gleichzeitig, dass das Symbol nicht eigentlich das ist, was ich meine. Ich wende mich an Gott und weiß, dass Gott letztlich nicht das ist, was ich mir unter Gott vorstelle. Mein Reden von Gott ist lediglich der menschliche Versuch, etwas (das Unbedingte) durch etwas (das Symbol) zu erreichen. Diese innere Dialektik religiöser Symbole weist in unserem Zusammenhang auf etwas eklatant Wichtiges hin: Nicht das Symbol ist heilig, sondern das, was es repräsentiert. Ist der geschnitzte Jesus am Holzkreuz mein Gott, mache ich Jesus zum Götzen. Steht der geschnitzte Jesus am Holzkreuz aber dafür, dass wir das Unbedingte, das Göttliche, nur in Form von Bedingtem, Weltlichem, haben können, dann ist seine symbolische Bedeutung angemessen erfasst.

So wird hoffentlich schon in diesen wenigen Worten klar, dass nicht das verwendete religiöse Symbol (Gott, Universum) relevant ist, sondern dessen Lebendigkeit für die Gruppe, die anzusprechen ist. Kehre ich zu unserem Fall zurück, würde ein Beharren auf der Verwendung der christlichen Symbole diese selbst vergötzen und damit ihrer eigentlichen Funktion, also dem Verweis auf die Unbedingtheitsdimension des Lebens, widersprechen. Das ist natürlich absolut nichts Neues, und jeder kirchliche Amtsträger, zumindest wenn er eine theologische Ausbildung durchlaufen hat, ist damit in seinem Studium konfrontiert worden. In Bezug auf unsere Fragestellung heißt das also, dass es keine schlüssigen theologischen Gründe dafür gibt, das Deuten des Lebens durch eine Pfarrperson mithilfe von anderen, offeneren Symbolen für eine Handlung zu erklären, die deren Glaubwürdigkeit untergräbt.


4.2 Die ekklesiologische Dimension

Um die theologische Problematik zu veranschaulichen, in die sich die Kirchen mit diesen Verbotsregelungen begeben, möchte ich zunächst das nicht-theologische Hauptmotiv benennen, das meiner Meinung nach, außer den schon genannten theologischen Motiven, hinter diesen Regelungen steht. Diese Regelungen verweisen auf ein vereinshaftes Kirchenverständnis. Das wird auch anhand einer landeskirchlichen Antwort auf meine Anfrage nach den »freien Kasualien« deutlich. So heißt es dort, nachdem geschildert wird, dass ein Durchführen solcher Handlungen durch eine Pfarrperson nicht erlaubt werden würde: »Im Übrigen folgt aus der Treuepflicht des Pfarrers, dass er nicht in Konkurrenz zur Kirche auftreten darf.« Kirche wird hier verstanden als ein Verein zur Bearbeitung weltanschaulicher Fragen, der sich eben auch immer in Konkurrenz zu anderen Vereinen befindet. Insofern, so könnte man diese Argumentation weiterdenken, ist es schlecht fürs Geschäft, wenn ein Pfarrer für die – wie auch immer geartete – Konkurrenz arbeitet, oder sogar selbst eine solche Konkurrenz ist.

Man kann dieses Denken natürlich noch weiterspinnen: Die kirchensteuerzahlenden Kirchen(vereins-)mitglieder würden sich in einem solchen Fall ärgern, dass sie jeden Monat ihren Mitgliedsbeitrag zahlen, um nach ihrem Tod bestattet zu werden, während andere sich diesen Beitrag sparen und mit dem Geld stattdessen lieber in den Urlaub fahren (oder Champagner kaufen, wer weiß?), und am Ende trotzdem von einem Pfarrer bestattet werden. Auch diese Denkweise lässt sich anhand einer landeskirchlichen Antwort belegen. So heißt es dort: »Der Grund (für die Verwehrung der Genehmigung, K.S.) ist einfach der, dass man nicht unterscheiden könnte, ob er als Pfarrer der evangelischen Kirche oder als freier Trauerredner tätig ist. Die Leute würden beobachten, dass es sich um eine Beerdigung, durchgeführt durch einen evangelischen Pfarrer, handelt.«11 Die Leute würden sich eben wundern und eventuell ärgern.

Ich möchte mich gar nicht über Gebühr über dieses Denken lustig machen. Es hat natürlich seine lebensweltliche Berechtigung. Dennoch ist es Aufgabe der Theologie, hier kritische Anfragen zu stellen. Das möchte ich im Folgenden tun, indem ich – in der gebotenen Kürze – das von Luther und Kierkegaard gespeiste Sündenverständnis Wilfried Härles in Anschlag bringe, um zu zeigen, dass sich die Kirche hier als ecclesia incurvata in se verhält.12

Sünde, so formuliert es Härle, entsteht aus der grundsätzlichen Situation des Menschen, in jedem Moment aus unzähligen Handlungsmöglichkeiten wählen zu müssen. Der freie Mensch, der über unzählige Möglichkeiten verfügt, verfügt so also auch immer über die Möglichkeit zum Bösen oder – weniger drastisch – über die Möglichkeit zu versagen. Aus dieser unendlichen Anzahl von Möglichkeiten entsteht eine Angst, nicht das Richtige zu tun. Die menschliche Angst zu versagen, die eigene Aufgabe nicht richtig zu erfüllen – das ist die sog. »kreatürliche Angst«. Diese Angst ist schlicht unausweichlich und es ist die Aufgabe des Menschen, ob er es will oder nicht, mit dieser Angst zu leben. Die, so Härle, dem christlichen Glauben adäquate Weise, mit dieser Angst umzugehen, ist, ihr das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit entgegenzustellen und sich so nicht von dieser Angst bestimmen zu lassen. Eine andere Möglichkeit wäre allerdings, der Angst mit Misstrauen gegenüber Gott zu begegnen. In diesem Fall würde die Angst mein Leben, meine Handlungen bestimmen. Der Mensch würde versuchen, seine Angst loszuwerden – und sich dennoch, da es schlicht unmöglich ist, dieser Angst zu entgehen, immer weiter in das Misstrauen verstricken. Die Angst macht einen »qualitativen Sprung« und wird zur Sünde, zur »dämonischen Angst«. Ein Mensch, der in jeder Situation seines Lebens, immer mit den unzähligen Möglichkeiten des Handelns konfrontiert ist, versucht seiner eigenen kreatürlichen Angst zu entgehen, dreht sich letztlich nur um sich selbst, ist in sich selbst verkrümmt, also ein homo incurvatus in se.

Überträgt man dieses Modell auf die Kirche und spitzt es auf die Fragestellung des Artikels zu, ergibt sich folgendes Bild: Die Kirche, in Form der in der institutionalisierten Kirche arbeitenden Menschen, ist immer in der Gefahr, ihre Bestimmung zu verfehlen, zu versagen. Aus dieser Situation ergibt sich Angst. Beispielsweise die Angst, an Bedeutung zu verlieren oder die Angst, die eigenen Mitglieder zu verärgern. Die dem christlichen Glauben adäquate Weise, mit dieser Angst umzugehen, wäre, sich im Vertrauen auf Gott nicht von ihr bestimmen zu lassen. Wenn die Kirche allerdings versucht, durch Verbotsregelungen dieser Angst zu entgehen oder sie zumindest zu mindern, dann verfällt sie genau dem, was oben als incurvatio geschildert wurde. Sie verkrümmt sich in sich selbst. Sie wird zu einer ecclesia incurvata in se.


5. Schluss

Was ergibt sich aus dem Gesagten? Die Gliedkirchen der EKD, die es ihrem Pfarrpersonal untersagen, sog. »freie Kasualien« durchzuführen, legen ihre Gesetze inkonsequent aus, handeln dem Zweck der Kirche widersprechend und führen die Kirche letztlich dahin, zu einer ecclesia incurvata in se zu werden. Besonders im Fall der EKHN stellt sich die Frage, wie es zu einer solchen Regelung kommen konnte, versteht sie sich doch ansonsten als liberal und zukunftsorientiert. Würde man andere Fälle ihres Agierens betrachten, beispielsweise in der Frage nach der theologischen Bewertung der Homosexualität oder in der Flüchtlingsfrage, könnte man zeigen, dass sie sich hier gerade nicht von ihrer »kreatürlichen Angst« bestimmen lässt. Doch kann man das eine nicht gegen das andere aufwiegen.

Es bleibt also der dringende Aufruf an die kirchlichen Stellen, ihre Regelungen zu überdenken und so zu verfahren, wie es anhand einer weiteren Antwort einer Landeskirche auf meine Anfrage hin angeklungen ist. Da heißt es: »Bei Ruheständlern (solche Fälle haben wir schon gehabt) wurde die Tätigkeit im Einzelfall geduldet, ja teilweise auch als Chance angesehen, z.B. dem Verstorbenen und auch den Angehörigen eine würdige Bestattung zu ermöglichen.« Ha! – möchte ich ausrufen. Genau! Nur warum ausschließlich bei Ruheständlern? Wenn die Kirchen weiter so verfahren wie bisher, werden sie ihre Pfarrpersonen immer wieder in eine ähnliche Situation bringen wie sie die eingangs erwähnte drastische Szene aus dem Lutherfilm schildert. Sie müssen sich fragen: Verwehre ich Menschen, die von mir eine Lebensdeutung in den Übergängen ihres Lebens erbitten, diese Bitte, weil es die Kirche mir vorschreibt, oder folge ich meinem Gewissen und riskiere damit disziplinarrechtliche Folgen?


Anmerkungen:

1 Es wurde vielfach darauf hingewiesen, dass diese Szene nicht historisch belegt ist, aber da es hier nur darum geht, etwas exemplarisch zu illustrieren, ist das irrelevant.

2 Mit »freier Redner, freie Rednerin« ist gemeint, dass die Pfarrperson explizit nicht als Pfarrperson auftritt, d.h. keine Amtskleidung trägt und auch klarmacht, dass sie nicht als Pfarrperson agiert.

3 Dabei wird im Folgenden immer davon ausgegangen, dass die Pfarrperson für ihre Dienste kein Geld nimmt und sich lediglich die entstehenden Unkosten (Fahrtkosten, Druckkosten etc.) erstatten lässt. Damit ist also auch eine Regelung dieser Frage über die Nebentätigkeitsregelungen im PfDG.EKD ausgespart.

4 Wichtig ist es noch zu betonen, dass es ganz explizit nur darum gehen kann, dass diese Begleitung von Pfarrpersonen erbeten wird und nicht darum, dass sie mit missionarischen Hintergedanken von Seiten der Pfarrpersonen angeboten wird.

5 EKHN LO 308.

6 Dass die Regelung nicht nur systematisch am falschen Ort steht, sondern generell der Intention der Lebensordnung als einem modernen und zukunftsorientiert denkenden Kirchengesetz widersprich, zeigt folgender Satz aus LO 4, in dem der Charakter der LO geklärt werden soll: »Eine evangelische Lebensordnung kann und soll nicht alle Einzelheiten regeln. Sie ist eine befreiende Ordnung, die zum christlichen Leben ermutigen soll, denn: ›Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!‹ (Gal 5,1)«.

7 Das sind (bisher) folgende gewesen: Sachsen, Bayern, Pfalz, Westfalen, Bremen, Nordkirche, Oldenburg, Anhalt, EKM, EKBO, EKHN, Schaumburg-Lippe, Württemberg.

8 Es drängt sich natürlich noch die Frage auf, inwiefern es einem modernen Pfarrdienstverständnis (Prädikanten-und Lektorendienstverständnis im Falle der EKHN) entspricht, dass alles, was eine Pfarrperson tut, mit ihrem Dienst zusammenhängt. Es handelt sich dabei um eine Frage, die im Zusammenhang mit der Gewinnung von theologischem Nachwuchs sicher von nicht zu unterschätzender Relevanz ist, die hier aber aufgrund des anders gelagerten argumentativen Schwerpunktes dieses Textes unbehandelt bleiben muss.

9 Hier sei noch darauf hingewiesen, dass es sich bei der behandelten Fragestellung natürlich nicht darum dreht, dass eine Pfarrperson auf einmal Bestattungs- oder Trauungsformen anderer Religionen ausführt. Es geht einzig um den realistischen Fall, dass Menschen ohne kirchliche Bindung sich an eine Pfarrperson wenden. Mit diesem Zuwenden wird klar, dass es hier um Menschen handelt, die dem christlichen Symbolbestand und Wahrheitsanspruch zwar vielleicht distanziert gegenüberstehen, diesen aber nicht völlig ablehnen. Ansonsten würden sie sich sicher nicht an eine Pfarrperson wenden.

10 Dass Gott bei Tillich ein Symbol ist, wird manchmal bestritten. Vgl. dazu: Werner Schüßler: Paul Tillich. München 1997, 55ff.

11 Das Zitat wurde von mir in Bezug auf Rechtschreibung und Kommasetzung bearbeitet.

12 Vgl. hierzu Wilfried Härle: Dogmatik. Berlin 20073, 456-492 (bes. 465-482).

 

Über die Autorin / den Autor:

WM Konstantin Sacher, nach Vikariat und 2. Theol. Examen Wiss. Mitarbeiter am Institut für Syst. Theologie der Theol. Fakultät der Universität Leipzig, Schriftsteller; im Oktober 2017 erschien sein Roman »Und erlöse mich« (Hoffmann & Campe).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2018

2 Kommentare zu diesem Artikel
12.03.2018 Ein Kommentar von Gerhard Kuppler Auch wenn die Argumentation dieses Artkikels sehr eindringlich ist: nocheinal sehr deutlich, was Matthias Binder schon angesprochen hat: Wir leben auch in dieser Welt und wollen durch unseren Beruf versorgt werden. Wenn man also der Überzeugung ist, dass die o.g. Argumentation richtig ist, dann muss man entweder mindestens dasselbe Geld nehmen, das ein freier Beerdigungsredner erhält und dieses dann an die Kirche weiterleiten oder man selbst verzichtet um des Evangeliums willen auf diese Vergütung, spendet aber dafür den entsprechenden Betrag aus eigener Tasche an die Kirche. Alles andere wäre m.E. nur eine Schattierung von Bonhoeffers "billiger Gnade" und würde das Evangelium pervertieren.
21.02.2018 Ein Kommentar von Matthias Binder Sehr geehrter Herr Sacher, „Niemand kann unter der Berufung auf das Evangelium anderen Menschen Beistand verwehren“. Das ist für mich der stärkste Satz Ihres Beitrags (Dt. Pfarrerblatt 2/2018, S. 69-73). Ich neige auch zu Ihrer kirchenrechtlichen Haltung, und möchte ein Verbot der Durchführung von „freien Kasualien“ zumindest als problematisch bezeichnen. Allerdings möchte ich Sie in einigen Punkten darauf hinweisen, dass Ihre Argumentation anfechtbar ist. Sodann darf ich gleich noch einen Vorschlag hinzufügen. Denn diskutierenswert ist das unbedingt. Theologie: Wenn Sie etwa Tillich zitieren, um die Symbolhaftigkeit christlichen Redens deutlich zu machen, dann könnte es sein, dass Sie Gefahr laufen, damit auch die Ersetzbarkeit der christlichen Symbole zu rechtfertigen. (Ich denke, das ist es, was Sie tatsächlich meinen, wo Sie von „anderen, offeneren“ Symbolen sprechen.) Rein theoretisch sind sie natürlich ersetzbar, vor allem wo die Symbolsprache, wie Sie selbst sagen, als Hinweis zu verstehen ist, dass nicht eine Sache hinter den Symbolen steht, sondern dass die Symbole erst einmal ein Beziehungsgeschehen abbilden. Wenn wir aber die Symbole durch andere ersetzen würden, dann wüssten wir eben nicht, ob wir noch dasselbe Beziehungsgeschehen meinen, welches uns im Evangelium vermittelt wird. Oder, anders: wenn wir ein Symbol durch ein anderes ersetzen, dann können wir es nur, wenn das neue Symbol dasselbe meint wie das alte – und damit tun wir so, als wüssten wir, wofür es steht. Nach Ihrer Aussage wissen wir es aber nicht. Symbol-Theologie ist geeignet, einen Gottesbegriff zu formulieren, nicht aber, eine Ersetzbarkeit der Symbole zu begründen. (Damit rede ich keinem religiösen Exklusivismus das Wort, aber einem Nicht-Wissen, was die Ersetzbarkeit unserer Symbole betrifft). Es mag sein, dass eine Verdinglichung des Symbols, zum Beispiel eines geschnitzten Holzkreuzes, zum Götzendienst führen kann, da möchte ich aber sehen, wer das so tut. Im Wesentlichen ist ein Kruzifix visuelles Symbol für das Evangelium, wo ansonsten in evangelischen Kirchen vor allem verbale Äußerungen zum Zuge kommen. Wer in einer bestimmten Situation ein Kruzifix ablegt, begeht unter Umständen auch damit eine Symbolhandlung (wobei nicht eindeutig ist, für was). Kirche: Nun sind auch Kirche und, einschließlich, ihre ordinierten Personen, wenn ich Ihre theologische Sprache aufgreife, gewissermaßen Person-Symbole für dasselbe Evangelium Christi. Sie sind nicht „nur“ Symbole dafür, sondern sie sind Symbole dafür! Und sie können aus dieser Rolle auch nicht heraus. Da bin ich mir nun aus der Praxis heraus ganz sicher, dass es stimmt, was Ihnen in manchen Kirchenämtern gesagt wurde: dass die Leute wissen, wofür eine Pfarrperson steht – nämlich für Evangelium einerseits und für Kirche andererseits. „Die Leute“ werden sich wundern, wenn eine Pfarrperson anders handelt, als sie es von Kirche erwarten. Auch wenn Sie von dieser Denkweise leicht belustigt sind – das ist eine Realität, mit der wir rechnen müssen, und sie sagt etwas über die Wirksamkeit von Symbolen. Und: das ist gleichzeitig ein Argument für Ihr Anliegen und nicht dagegen, obwohl mir Ihre Ausführungen nach Letzterem zu klingen scheinen. Sprich, Menschen erwarten von Kirche, dass sie wo nötig Grenzen überschreitet. Praxistest: Zur Kirche ist noch ein Zweites zu sagen: Sie ist nicht nur Bewegung des Evangeliums in die Welt hinein, sondern sie ist auch Solidargemeinschaft derer, die gemeinsam in der Welt unterwegs sind im Sinne des Evangeliums (was als „vereinshaftes“ Kirchenverständnis doch nicht ganz zutreffend bezeichnet wäre). Das sorgt für eine ganz praktische Spannung, die uns im Alltag nicht selten begegnet, und die wohl auch unauflöslich ist. Wir wissen bis heute nicht ganz sicher, wen Jesus mit „diesen meinen geringsten Geschwistern“ gemeint hat – die, die ihm nachfolgen, oder auch die, die es nicht tun. In der Praxis ist eine Gemeinschaft ist nur lebendig, wenn sie auch nach außen geht, aber wenn sie nur nach außen geht, wenn sie grenzenlos ist, ist sie irgendwann keine Gemeinschaft mehr. Das scheint mir der ganz praktische Grund – ohne jeden theologischen Überbau – für eine restriktive Haltung einer Landeskirche zu sein. Vielleicht spiegelt ein Verbot den Versuch wieder, aus einer ausgelaugten und verzettelten Situation wieder herauszukommen. Da kommen wir natürlich in die Nähe Ihrer Anmahnung, dass Kirche womöglich nur aus Angst heraus handelt. Wo dies Realität ist, ist die Rede vom homo incurvatus in se ipsum nicht abwegig. Unvergesslich der Satz einer frustrierten Kollegin, die einmal in einer Pfarrkonferenz zum Thema „Kasualien für Nichtkirchenmitglieder“ sagte: „Ich weiß nicht mehr, welchen Grund ich den Menschen sagen soll, warum sie in der Kirche sein sollen. Man kriegt ja bei uns alles auch so“. Sagt sie das aus Angst oder oder aus Realitätssinn? Vielleicht beides. Und dann hat das auch noch mit Geld zu tun, zumindest wenn Pfarrpersonen in ihrem Beruf Geld verdienen sollen. Sollen sie es nicht (auch eine interessante Lösung!), und müssen Sie ihren Unterhalt anders verdienen, dann werden sie sich erst recht überlegen müssen, wem sie ihre Zeit für welche Kasualie schenken wollen. Gerechtigkeit: Denn auch um die Thematik der Gerechtigkeit werden wir daher nicht ganz herumkommen – warum sollen die einen zahlen, die anderen nicht, obwohl sie es könnten? Das Evangelium rechnet mit Gerechtigkeit. Aber es hat prompt auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg parat; und es scheint mir oft genug so, dass es eine der Hauptfragen an Jesus war, die er in seinen Gleichnissen verarbeitete: Warum gleichberechtigst du bei uns Menschen, die ihren Platz in unserer Gemeinschaft gar nicht ausgefüllt haben? Und ich glaube, das ist der Punkt, an dem einer Kirchenverfassung besser beizukommen ist. Von hier aus mein Vorschlag: Zwar geht es im Leben nie ohne Grenzen, weil das Leben sonst ausblutet. Zwar gibt es keine Gemeinschaft ohne Verbindlichkeit. Zwar sind wir nicht Gott, dem die Kräfte nicht ausgehen (das ist ein Teil der frohen Botschaft). Aber im Namen des Evangeliums, also um der Menschen willen, sind Grenzen bei Bedarf überschreitbar. Zur Glaubwürdigkeit von Kirche gehört in der Tat, dass sie dazu in der Lage ist. Daher sollte zwar klar sein, dass Pfarrpersonen nur Kirchenmitgliedern normalerweise eine Kasualie halten, aber das sollte nicht auf dem Wege eines Verbots geregelt sein, welches eine solche Grenzüberschreitung zur Gewissensfrage macht. Ansonsten bitte (1) schenken wir Menschen in Not, was wir schenken können, in all unserer Begrenztheit. Nur einmal bis jetzt war ich in der Situation, eine Kasualie für ein Nichtkirchenmitglied abzulehnen, und dabei sinngemäß als Grund anzugeben, dass es über eine Grenze des Leistbaren ginge. Andere mögen öfter in diese Lage kommen. Und wenn wir schenken, bitte (2) verleugnen wir dabei nicht, dass wir das im Namen des Evangeliums Christi tun. Bei einer dezidiert nichtchristlichen Veranstaltung würde ich jedenfalls nicht als Zeremonienmeister auftreten. Und wenn ich bloß einen Redebeitrag habe, dann gerne in einer unchristlichen Veranstaltung, aber so, dass irgendwie deutlich werden kann, dass ich es als Pfarrer einer Kirche tue. Sonst weiß wirklich keiner mehr, für was ich eigentlich stehe. Matthias Binder, Pfarrer in Teilzeit, Kochel am See/Bayern
Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.