»Ich sehe was, was du nicht siehst«


Fremde Bildwelten

Ach, Johannes, der Prophet und Visionär! Ist das nicht der Durchgeknallte mit diesen Visionen, bei denen jeder vernünftige Christenmensch dann doch mal den Arztbesuch empfiehlt? Zumindest in der Kerngemeinde wird es viele geben, die mit den Texten aus der Offenbarung nie ganz warm geworden und denen die Bilder immer fremd geblieben sind. Kein Wunder, denn Johannes schreibt in einer ganz anderen Zeit. Er war nicht auf dem Evang. Kirchentag in Berlin, wo sein Ratsvorsitzender auf großer Bühne mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten plauderte, noch saß er im Reformationsgottesdienst in Wittenberg in Reihe drei hinter der Bundeskanzlerin. Johannes war Teil einer unterdrückten und verfolgten Minderheit. »Bruder und Mitgenosse« (1,9) von Christinnen und Christen, die dem Kaiserkult nicht folgen wollten, die bedrängt wurden vom römischen Herrscher Domitian, der sich als »Herr und Gott« anrufen ließ. Ihnen sagt Johannes: Entgegen allem Augenschein herrscht Gott – und Gott wird siegen.


Christus herrscht und keiner sonst

Johannes hat keine rätselhaften Visionen, vielmehr schreibt hier ein Schriftkundiger, der mit bestimmten Bildern ein bestimmtes Verstehen auslösen will. Die Posaune kündigt auch sonst die Epiphanie Gottes an, das Bild der Menschengestalt erinnert an eine Engelserscheinung (vgl. Dan. 10), das Schwert weist auf das Gericht, und wer gegürtet ist, tritt an, um Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen. »Wie tot« fällt der Seher nieder – so wie andere, die Gott zu schauen versuchten (vgl. Ex. 33,20; Jes. 6,5; Ez. 1,18; Dan. 8,18).

Diese Bilder sind nicht originell, sondern komponiert und voller atl. Motive. Sie zielen auf die Kernaussage der Christophanie: »Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.« Damit ist die Machtfrage beantwortet. Ganz gleich, wie stark die Bedrängnis auch sein mag: Christus herrscht und keiner sonst.

So weist der Text am letzten Sonntag nach Epiphanias den Weg von Weihnachten nach Ostern. Das Lichtmotiv unterstreicht dies auch in den übrigen Texten des Sonntags von der Offenbarung Gottes am Dornbusch (Ex. 3,1-14) über das Evangelium von der Verklärung Jesu (Mt. 17,1-9) bis hin zur Epistel von Licht und Finsternis (2. Kor. 4,6-10). Die Weihnachtskerzen, die Osterkerze – vielleicht lässt sich damit spielen im Gottesdienst.


Hoffnung gegen den Augenschein

»Ich sehe was, was du nicht siehst«, so geht ein altes Kinderspiel. Was sieht der Seher Johannes, was wir heute nicht sehen? Mag sein, Christen hierzulande sind nicht persönlich bedrängt und verfolgt, sondern sitzen bequem in beheizten Kirchen oder teilen Lebensmittel aus an bedürftige Tafelkunden. Dennoch gibt es die Erfahrung von Macht und Machtlosigkeit. Dass die Welt untergehen kann, ist heute plausibler als zur Zeit des Johannes. Krieg und Terror, Hungerkatastrophen im Jemen und anderswo, Tschernobyl und Fukushima, die dramatischen Veränderungen des Klimas, die Flüchtlingsströme, dazu Fifa-Finanzskandale und die Panama-Papers. Wer will, kann resigniert das Haupt senken oder nur noch sagen: Augen zu und durch!

Doch Johannes sieht. Er glaubt nicht, dass alles aussichtslos ist. Er regt an, die herrschenden Verhältnisse von innen zu entmachten. Gott herrscht und wird sein Reich aufrichten. Es gibt Grund zur Hoffnung. Dieser Grund ist nicht augenscheinlich, sondern wird geglaubt. Wir brauchen also Menschen, die etwas anderes sehen als das Offensichtliche, die etwas anderes glauben als das scheinbar Alternativlose. Nur die Vorstellung einer anderen Zukunft lässt die Gegenwart aushalten und setzt Kräfte frei, anders zu reden und zu handeln. Bei jeder Beerdigung bringen wir das zum Ausdruck, manchmal mit Zitaten aus Offb. 1 oder Offb. 21: Es gibt eine Perspektive, die über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgeht. Auch über die Angst und über den Tod.

Christen sind Protestleute gegen den Tod, hat Christoph Blumhardt gesagt (1842-1919). Ja, sie lassen sich nicht bedrängen, sondern träumen vom Leben. In der jüngeren deutschen Geschichte hat sich zuletzt 1989 gezeigt, auf welch wackeligen Füßen menschliche Macht steht. Sie funktioniert, solange Menschen ihr erliegen. Solange Menschen Angst haben. Aber wehe, sie beten oder zünden Kerzen an. Wehe, sie halten eine andere Zukunft für möglich.


Titus Reinmuth

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2017

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