Im Zentrum der reformatorischen Entdeckung steht das Evangelium. Das hat Konsequenzen für ein evangelisches Kirchenverständnis und führt zur Neugestaltung einer auf das Evangelium gegründeten Kirche. Dabei spielen die »Wortämter« der Kirche – wie Gisela Kittel zeigt – eine zentrale und kirchenerhaltende Rolle.1


In den Jahren 1534 und 1538 machten sich Luthers Freunde daran, die Thesen und Resolutionen Luthers aus der Zeit des Ablassstreites noch einmal zu veröffentlichen. Luther sah das nicht gern, ließ sich aber doch bewegen, ein Vorwort zu der Neuausgabe zu schreiben. Der Anfang dieses Vorwortes2 möge auch am Anfang dieses Artikels stehen:



»Doktor Martin Luther an den gottesfürchtigen Leser.

Daß meine seit Beginn meines Streites gegen das Papsttum und die Herrschaft der Sophisten abgehandelten Disputationen oder Thesen veröffentlicht werden, dulde ich vor allem deshalb, damit das Ausmaß des Streites und der Erfolg, den mir Gott darin gegeben hat, mich nicht stolz machen. Denn in ihnen wird meine Schande offenbar, das heißt meine Schwachheit und Unwissenheit, die mich im Anfang nötigten, die Sache mit dem größten Zittern und Zagen anzugreifen.

Ich war allein und unabsichtlich in diesen Streit geraten, da ich mich nicht zurückziehen durfte. In vielen und großen Lehrstücken gab ich dem Papst nicht allein nach, sondern betete ihn darüber hinaus auch noch an. Wer war ich denn, damals ein ganz armseliges Mönchlein, einem Leichnam ähnlicher als einem Menschen, daß ich der Majestät des Papstes zuwiderhandeln sollte! Vor seinem Angesicht fürchteten sich nicht allein die Könige der Erde und die ganze Welt, sondern auch (wie man sagt) Himmel und Hölle. Von seinem Wink hing alles ab.

Was und wie mein Herz in diesem ersten und zweiten Jahr gelitten hat, und wie groß meine damals echte Demut, ja beinahe Verzweiflung gewesen ist, ach! wie wenig wissen das die, welche später die verletzte Majestät des Papstes ganz übermütig anzugreifen begannen. Und obgleich sie diese Verse nicht gemacht hatten (um Vergils Worte zu gebrauchen), trugen sie doch die Ehre davon, die ich ihnen jedoch gerne gönnte.

Ich aber bin, während jene nur Zuschauer waren und mich allein Gefahr laufen ließen, nicht so froh, zuversichtlich und sicher gewesen. Ich wußte nämlich vieles nicht, was ich jetzt weiß. Ja, was der Ablaß wäre, wußte ich ganz und gar nicht, wie auch das ganze Papsttum nichts davon wußte. Er wurde allein aus dem Brauch und der Gewohnheit hochgehalten. Nicht deshalb disputierte ich, um ihn abzuschaffen, sondern da ich sehr wohl wußte, was er nicht wäre, begehrte ich zu wissen, was er eigentlich wäre. Und da die toten oder stummen Lehrer, d.h. die Bücher der Theologen und Juristen, mich nicht befriedigten, beschloß ich, die lebenden zu befragen und die Kirche Gottes selbst zu hören, damit, wenn irgendwelche Werkzeuge des heiligen Geistes übrig wären, sie sich meiner erbarmten und – zugleich zum allgemeinen Nutzen – auch mir über den Ablaß Gewißheit verschafften.«


Nein, der berühmte Thesenanschlag war nicht das Ereignis, als das es noch heute gefeiert wird. Hier hat nicht ein religiöser Heros mit dröhnendem Hammerschlag einer nach Ablassgeldern gierenden Kirche den Fehdehandschuh hingeworfen. Luthers Ablassthesen – in lateinischer Sprache verfasst und also nicht für den gemeinen Mann auf der Straße geschrieben – waren nichts als eine Einladung seiner Professorenkollegen zu einer gelehrten Disputation, wie sie im damaligen Universitätsbetrieb, auch in Wittenberg, üblich waren.


Am Anfang: ein Anschlag am Schwarzen Brett der Universität Wittenberg

Mir unvergesslich ist, wie mein einstiger kirchengeschichtlicher Lehrer, Hanns Rückert, uns jungen Studenten Anfang der 60er Jahre in Tübingen den Thesenanschlag demonstriert hat. Es sei so gewesen, wie wenn ein Professor heute am schwarzen Brett der Universität einen Zettel anbringt, in dem er zu einem besonderen Seminar oder Vortrag die Kollegen und Studentenschaft einlädt. Denn die Tür der Schlosskirche sei das »schwarze Brett« der Universität Wittenberg gewesen.

Gewiss, die äußeren turbulenten Ereignisse sind damals ins Rollen gekommen: die Anzeige in Rom, der Beginn des Ketzerprozesses, die immer schärfer werdende Auseinandersetzung mit den theologischen Gegnern, schließlich der Bannstrahl der Kirche und die Verhängung der Reichsacht. Doch die Initialzündung, die zum großen reformatorischen Aufbruch führte, geschah an einer ganz anderen Stelle. Sie war ein Ereignis in der Stille, in einer klösterlichen Studierstube, und geschah bei angestrengtem, konzentriertem Nachdenken über bestimmte Bibelverse (Ps. 31,2; Röm. 1,17). Luther hat nicht nur in der Vorrede zu Band 1 der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften im Jahr 1545 ausführlich davon berichtet, sondern immer wieder auch schon früher in seinen Tischreden.


»Die Worte ›gerecht‹ und ›Gerechtigkeit Gottes‹ wirkten auf mein Gewissen wie ein Blitz; hörte ich sie, so entsetzte ich mich: Ist Gott gerecht, so muss er strafen. Aber als ich einmal in diesem Turme und Gemache über die Worte (Röm 1,17): ›Der Gerechte wird seines Glaubens leben‹ und ›Gerechtigkeit Gottes‹ nachsann, dachte ich alsbald: Wenn wir als Gerechte aus dem Glauben leben sollen und wenn die Gerechtigkeit Gottes jedem, der glaubt, zum Heil gereichen soll, so wird sie nicht unser Verdienst, sondern die Barmherzigkeit Gottes sein. So wurde mein Geist aufgerichtet. Denn die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass wir durch Christus gerechtfertigt und erlöst werden. Nun wandelten sich mir jene Worte in liebliche Worte. Die schrieft hat mir der Heilige Geist in diesem thurn offenbaret.«3


»Ich ging lang in die Irre und wusste nicht, woran ich war. Ich wusste wohl etwas und wusste doch nicht, was es war, so lange, bis ich an die Stelle Röm 1,17 kam: ›Der Gerechte wird aus dem Glauben leben‹. Die half mir; da sah ich, von welcher Gerechtigkeit Paulus redet. Da stand vorher im Text ›Gerechtigkeit‹; da reimte ich das Abstraktum (›Gerechtigkeit‹) und das Konkretum (›der Gerechte‹) zusammen und wurde meiner Sache gewiss: ich lernte die Gerechtigkeit des Gesetzes von der Gerechtigkeit des Evangeliums unterscheiden. Es fehlte mir vorher nichts, als dass ich keinen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium machte; ich hielt alles für dasselbe und behauptete, zwischen Christus und Mose sei außer der Zeit und dem Grad der Vollkommenheit kein Unterschied. Als ich aber den rechten Unterschied fand, dass nämlich Gesetz und Evangelium zweierlei sei, da riss ich durch.«4


Eine Entdeckung im Turmstübchen des Wittenberger Klosters

Die Entdeckung im Turmstübchen des Wittenberger Klosters schloss im Grunde alles, was folgen sollte, schon ein. Sie war der Schlüssel zu einem neuen Verständnis der heiligen Schrift, öffnete ein neues Verständnis für Gottes Handeln am Menschen und das Heilswerk Jesu Christi, ließ den Menschen in seiner Gefangenschaft unter der Sünde und seiner Erlösungsbedürftigkeit erkennen, führte zu einer neuen Sicht auf die Kirche und ihre Sakramente, ließ schließlich den Wert und die Bedeutung der alltäglichen Arbeit und des weltlichen Berufes in den Blick treten – von der Absage an den Herrschafts- und Machtanspruch des Papsttums ganz zu schweigen.

Aber so, wie wir es von uns selbst ja auch kennen, dass eine neue Entdeckung oder Einsicht ihre Zeit braucht, ehe wir ganz allmählich erfassen, welche Konsequenzen sie in sich birgt, so ist es offensichtlich auch Luther ergangen.5 Erst die heftigen Kontroversen um das Ablasswesen, erst die wütenden Angriffe seiner Gegner, erst der Fortgang des Prozesses in Rom haben Luther Schritt für Schritt zu dem »Rebellen« werden lassen, als den ihn Heinz Schilling6 beschreibt. Ein Rebell, der der mittelalterlichen Kirche buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog.

Hier sei im Folgenden eine Linie besonders ausgezogen. Es geht um die Konsequenzen, die sich aus Luthers reformatorischer Entdeckung für ein evangelisches Kirchenverständnis ergeben haben und zur Neugestaltung einer auf das Evangelium gegründeten Kirche führten.

Luthers doppelter Kirchenbegriff

Es ist einsehbar, dass sich Luther, als er den Bannstrahl der Kirche kommen sah, mit der Macht und Wirksamkeit des Bannes auseinandersetzen musste. Er tat es in einer Predigt am 15. Mai 1518, die aber nicht erhalten ist. Da jedoch »etliche gräuliche Späher«7 seine Predigt abgehört hatten und den Inhalt verleumderisch verdreht nach Rom weitergaben (wo auch gleich die Anklage wegen Ketzerei wesentlich verschärft wurde), fühlte er sich genötigt, in einer kleinen Schrift, zunächst in lateinischer, dann in deutscher Sprache, seine Meinung über die Bedeutung und Macht des Bannes zu veröffentlichen.8

Gleich zu Beginn dieser Schrift führt Luther eine bedeutsame Unterscheidung ein. Es gibt neben der äußeren, sichtbaren, römischen Kirche auch noch eine andere »Gemeinschaft der Heiligen«. Diese ist


»innerlich, geistlich, unsichtbar im Herzen, das ist, so jemand durch rechten Glauben, Hoffnung und Liebe eingeleibt ist in die Gemeinschaft Christi und aller Heiligen, welches bedeutet und gegeben wird in dem Sakrament (des Altars), und die ist das Werk und die Kraft des Sakramentes. Diese Gemeinschaft mag weder geben noch nehmen irgend ein Mensch, er sei Bischof, Papst, ja auch Engel oder alle Kreaturen, sondern allein Gott selbst durch seinen heiligen Geist muss die eingießen ins Herz des Menschen, der da glaubt an das Sakrament … Also mag auch hierher kein Bann reichen noch sein, denn allein der Unglaube oder Sünde des Menschen selbst, der mag sich selbst damit verbannen und also von der Gemeinschaft, Gnaden, Leben und Seligkeit absondern.«9


»Die Versammlung der Herzen in einem Glauben«

Auch in dem 1520 geschriebenen Sermon »Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig« geht Luther von der gleichen Unterscheidung aus. Es gibt verschiedene Weisen, von der Kirche zu reden. Doch so, wie die Schrift von der Christenheit redet, ist sie eine Versammlung aller Christgläubigen auf Erden.

»Diese Gemeinde oder Versammlung umfasst alle, die in rechtem Glauben, rechter Hoffnung und rechter Liebe leben, was zur Folge hat, dass der Christenheit Wesen, Leben und Natur nicht eine leibliche Versammlung ist, sondern die Versammlung der Herzen in einem Glauben … Obschon sie also leiblich tausend Meilen voneinander getrennt sind, heißen sie doch eine Versammlung im Geist, weil jeder predigt, glaubt, hofft, liebt und lebt wie der andere, wie wir vom heiligen Geist singen: ›Der du hast allerlei Sprach in die Einigkeit des Glaubens versammelt‹.«10


Doch in dieser Schrift geht Luther noch einen Schritt weiter. Die Kirche steht im Glaubensbekenntnis! »Ich glaube an den heiligen Geist, die (nicht: »an die«) heilige allumfassende christliche Kirche.« Wenn aber die Kirche im Credo steht, so muss sie, wie alle Artikel des Glaubensbekenntnisses, eine verborgene Wirklichkeit sein. Denn alles, was man glaubt, das sieht man nicht. Und was man sieht, das glaubt man nicht (weil man es ja sehen kann). Also kann die sichtbare römische Papstkirche nicht die wahre Kirche sein, von der das Credo spricht.


»Niemand spricht so: ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige römische Kirche, eine Gemeinschaft der Römer; damit es klar sei, dass die heilige Kirche nicht an Rom gebunden, sondern so weit wie die Welt ist, in einem Glauben versammelt, geistlich und nicht leiblich. Denn was man glaubt, ist weder leiblich noch sichtbar. Die äußerliche römische Kirche sehen wir alle; darum kann sie nicht die rechte Kirche sein, die geglaubt wird. Diese ist eine Gemeinde oder Versammlung der Heiligen im Glauben; aber niemand sieht, wer heilig oder gläubig sei.«11


Die Erkennungszeichen der wahren Kirche

Und doch verflüchtigt sich diese Kirche nicht in der Innerlichkeit vereinzelter Personen. Sie schwebt nicht durch den freien Raum des Geistes erleuchteter Seelen. Sie ist in Raum und Zeit vorhanden. Ja, sie erstreckt sich quer durch den Körper der sichtbaren Kirche hindurch, zwar verborgen und doch erkennbar, nämlich an ganz bestimmten Merkmalen, – den »notae ecclesiae« (Merkzeichen der Kirche). Dazu Luther weiter:


»Die Zeichen, an denen man äußerlich merken kann, wo diese Kirche in der Welt ist, sind die Taufe, das Sakrament (des Altars) und das Evangelium, nicht aber Rom, dieser oder jener Ort. Denn wo Taufe und Evangelium sind, da soll niemand zweifeln, dass da auch Heilige sind, und sollten es gleich lauter Kinder in der Wiege sein. Rom aber oder päpstliche Gewalt ist nicht ein Zeichen der Christenheit, denn diese Gewalt macht keinen Christen, wie die Taufe und das Evangelium tun.«12


Dies ist ein ganz entscheidender Punkt reformatorischen Kirchenverständnisses. Luther (wie auch Calvin13) definiert die Kirche nicht aus sich selbst. Nicht aus ihrer sichtbaren Gestalt ist die Kirche Jesu Christi erkennbar, so mächtig und prunkvoll sie auch als Institution auftreten und so bedeutend sie in den Augen der Zeitgenossen erscheinen mag. Man kann sie aber auch nicht von den Aktivitäten und Eigenschaften ihrer Mitglieder her identifizieren. Die Kirche Jesu Christi ist nicht die Gruppe der moralisch Vollkommenen, nicht die Sammlung der wahrhaft Bekehrten, nicht die Schar derer, die den »richtigen« Glauben oder die »richtige« politische Einstellung für sich reklamieren. So wie ein Mensch nicht durch seine guten Werke zum Kind Gottes wird, so wird auch die Kirche nicht durch ihre Aufsehen erregenden Veranstaltungen, ihre Aktionen oder Denkschriften zur Kirche Jesu Christi. Das einzige Indiz dafür, dass es die Kirche Jesu Christi unter uns gibt und wo sie sich finden lässt, ist der Aufweis, dass da das reine Evangelium verkündigt wird und dass es Menschen gibt, die sich um das verkündigte Wort Gottes, um Taufe und Abendmahl versammeln (vgl. Art. 7 der Confessio Augustana).

Sehr klar hat Luther diese Sicht in seiner Schrift »Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift« formuliert:


»Aufs erste ist es vonnöten, daß man wisse, wo und wer die christliche Gemeinde sei, auf daß nicht, wie es die Unchristen allezeit gewohnt sind, unter dem Namen der christlichen Gemeinde Menschen menschliche Vorhaben betreiben. Daran aber soll man die christliche Gemeinde mit Gewißheit erkennen, daß da das reine Evangelium gepredigt wird. Denn gleichwie man an dem Heerbanner als einem bestimmten Zeichen erkennt, was für ein Herr und Heer zu Felde liegt, so erkennt man auch mit Bestimmtheit an dem Evangelium, wo Christus und sein Heer liegt. Dafür haben wir eine feste Verheißung Gottes, Jes. 55,I0 f.: ›Mein Wort, spricht Gott, das aus meinem Mund geht, soll nicht leer wieder zu mir kommen, sondern wie der Regen vom Himmel auf die Erde fällt und macht sie fruchtbar, so soll mein Wort auch alles ausrichten, wozu ich’s aussende.‹ Daher sind wir sicher, daß es unmöglich ist, daß da, wo das Evangelium im Gang ist, keine Christen sein sollten, wie wenige es auch immer sein und wie sündlich und mangelhaft sie auch sein mögen; gleichwie es unmöglich ist, daß da, wo das Evangelium nicht im Gang ist und Menschenlehren regieren, Christen sein sollten und nicht bloß Heiden, wie viele es auch immer sein mögen und wie heilig und gut auch immer ihr Wandel sei.«14


Gottes Wort hat schöpferische Kraft

Der Grund für solche Sätze ist Luthers tiefe, aus der heiligen Schrift gewonnene Überzeugung, dass Gottes Wort schöpferische Kraft hat. Ein Wort, das aus Gottes Mund geht, kommt nicht wieder leer zu ihm zurück (Jes. 55,10f). Es tut, was es sagt. Daher gilt:


»Wo du nun solches Wort predigen hörest oder glauben, bekennen und danach tun siehest, da habe keinen Zweifel, daß daselbst gewißlich eine rechte ›Ecclesia sancta catholica‹ sein muß, ein christliches heiliges Volk (1. Petr. 2, 9), wenn ihrer gleich sehr wenige sind. Denn Gottes Wort geht nicht ohne Frucht ab (Jes. 55, 11), sondern muß zum wenigsten ein Viertel oder ein Stück vom Acker haben. Und wenn sonst kein Zeichen wäre, außer diesem allein, so wäre es doch Beweis genug, daß daselbst ein christliches, heiliges Volk wäre. Denn Gottes Wort kann nicht ohne Gottes Volk sein, und umgekehrt kann Gottes Volk nicht ohne Gottes Wort sein. Wer wollte sonst predigen oder predigen hören, wo kein Volk Gottes da wäre? Und was könnte oder wollte Gottes Volk glauben, wo Gottes Wort nicht da wäre? Und dies ist das Stück, das alle Wunder tut, alles zurecht bringt, alles erhält, alles ausrichtet, alles tut, alle Teufel austreibt.«15


Hierher gehören auch Luthers berühmte Sätze aus seiner Schrift »Ad librum eximii Magistri Ambrosii Catharini … responsio« (1521):


»Denn das Euangelion ist vor dem Brote und der Taufe das einzige, das allergewisseste und das vornehmlichste Wahrzeichen der Kirche, dieweil sie durchs Euangelion allein wird empfangen, gebildet, genährt, geboren, erzogen, geweidet, gekleidet, geziert, gestärkt, gewappnet, erhalten. Kurz, das ganze Leben und Wesen der Kirche steht im Worte Gottes (tota vita et substantia ecclesiae est in verbo dei), wie Christus spricht: ›Von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht, lebt der Mensch‹ (Mt 4,4)«.16


Das Predigtamt als Stiftung Gottes

Aus dem Gesagten wird klar, welche Bedeutung für Luther das Predigtamt haben musste und hat. Gewiss sind nach Luthers Erkenntnis alle Getauften zu Priestern geweiht, niemand bedarf einer besonderen Priesterweihe. Alle Glaubenden haben in Jesus Christus den freien Zugang zu Gott als ihrem Vater, dürfen ihn anrufen, vor ihm füreinander in ihren Gebeten eintreten. Aber darum sind nicht alle in das Predigtamt berufen! Denn das Predigtamt ist eine Stiftung Gottes, damit die Gemeinde unter seinem Wort erhalten und in der Lehre der Apostel gefestigt bleibt. Sie soll sich nicht »von jedem Wind einer Lehre« bewegen und hin und her treiben lassen (Eph. 4,14).17

In »Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle« (1530) hat Luther das große Loblied auf das Predigtamt angestimmt:


»Ich hoffe ja, daß die Gläubigen und was Christen heißen will, sehr wohl wissen, daß der geistliche Stand von Gott eingesetzt und gestiftet sei, nicht mit Gold noch Silber, sondern mit dem teuren Blut und bittern Tode seines einzigen Sohns, unsers Herrn Jesus Christus. Denn aus seinen Wunden fließen wahrlich die Sakramente, und (er) hats wahrlich teuer erkauft, daß man in der ganzen Welt solch Amt hat, zu predigen, taufen, lösen, binden, Sakrament reichen, trösten, warnen, vermahnen mit Gottes Wort und was mehr zum Amt der Seelsorge gehört. Denn solch Amt fördert und hilft auch nicht allein, hier das zeitliche Leben und alle weltlichen Stände zu erhalten, sondern gibt das ewige Leben und erlöst vom Tode und von Sünden, welches denn sein eigentliches, vornehmliches Werk ist. Und zwar steht die Welt allzumal und bleibt allein um dieses Standes willen, sonst wäre sie lange zugrunde gegangen.

Ich meine aber nicht den jetzigen geistlichen Stand in Klöstern und Stiften mit seinem ehelosen Wesen … Sondern den Stand meine ich, der das Predigtamt und den Dienst des Wortes und der Sakramente hat, welches den Geist und alle Seligkeit gibt, die man mit keinem Gesinge noch Gepränge erlangen kann, als da ist das Pfarramt, Lehrer, Prediger, Leser, Priester (die man Kaplan nennt), Küster, Schulmeister und was zu solchen Ämtern und Personen mehr gehört, welchen Stand die Schrift wahrlich hoch rühmt und lobt. Paulus nennt sie Gottes Haushalter und Knechte, Bischöfe, Doktoren, Propheten, dazu auch Gottes Boten, die Welt mit Gott zu versöhnen …

Ist nun das sicher und wahr, daß Gott den geistlichen Stand selbst mit seinem eigenen Blut und Tod eingesetzt und gestiftet hat, ist leicht zu errechnen, daß er denselben hoch geehrt haben und nicht leiden will, daß er untergehen oder aufhören solle, sondern ihn bis an den Jüngsten Tag erhalten haben will. Denn es muß ja das Evangelium und die Christenheit bleiben bis an den Jüngsten Tag, wie Christus Matth. 28, 20 sagt: ›Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende.‹18


»Es muss ein jeglich Dorf und Flecken einen eigenen Pfarrer haben«

Von hieraus fordert Luther – und dies schon in der Adelsschrift 152019 – dass »nach Christus und der Apostel einsetzen ein ygliche stadt einen pfarrer odder Bischoff sol haben«. In der Schrift »Von den Konzilien und der Kirche« rechnet Luther 1539 unter die jetzt sieben aufgezählten Merkmale, an denen man die Kirche Jesu Christi erkennen kann, an fünfter Stelle das Predigtamt. Und seine Zeitgenossen, die offenbar keine Lust mehr hatten, ihre Kinder zur Schule zu schicken, so dass der zukünftige Pfarrermangel absehbar wurde, vermahnt Luther in einer Tischrede in der ersten Hälfte der 1530er Jahre:


»In kurtz wirds an pfarherrn und predigern so seer mangeln, das man die itzige aus der erde würde er aus kratzen, wenn mans haben kunde. Dann werden die papisten und auch unsere baurn sehen, was sie gethan haben. Der ertzten und juristen bleibt genug, die welt zu regirn. Man mus 200 pfarherr haben, da man an einem juristen gnug hat … Es mus ein iglich dorff und flecken einen eigen pfarrherr haben. Mein gnädiger herr hat an 20 juristen gnug, dagegen mus er wol ein achzehenhundert pfarrherr haben. … Wir mussen noch mither zeit aus juristen und medicis pfarrherr machen, das werdet ir sehen.«20


In heutigem Deutsch: In Kürze wird es an Pfarrern und Predigern so sehr mangeln, dass man die jetzigen aus der Erde herauskratzen würde, wenn man es haben könnte. Dann werden die Papisten und auch unsere Bauern sehen, was sie getan haben. Der Ärzte und Juristen bleiben genug, die Welt zu regieren; man muss zweihundert Pfarrer haben, wo man an einem Juristen genug hat. … Es muss ein jeglich Dorf und Flecken einen eigenen Pfarrer haben. Mein gnädiger Herr (der Kurfürst zu Sachsen) hat an 20 Juristen genug, dagegen muss er wohl an die 1800 Pfarrer haben … Wir müssen noch mit der Zeit aus Juristen und Ärzten Pfarrer machen, das werdet ihr sehen (Hervorhebung von mir).

Dies ist ein deutlich anderes Konzept als das, welches in der »Kirche der Freiheit« propagiert wird und in manchen Landeskirchen bereits umgesetzt wurde. Hier geht es nicht um einzelne »Leuchtfeuer«, die in die Gesellschaft hineinstrahlen sollen, Orte, an denen »die evangelische Kirche … die Fülle ihrer geistlichen Kraft« zeigen will21, während die ländlichen Gebiete geistlich veröden dürfen. Luther geht es um die Menschen. Sie sollen dort, wo sie leben, das Evangelium hören, seelsorgerlich erreicht und in der Gemeinschaft der Glaubenden den dreieinigen Gott bezeugen und loben können.


Erst die Erneuerung der Herzen, dann die Neuerungen in der Kirche

Luther hat sich Zeit seines Lebens schwer getan, Neuerungen in der Kirche einzuführen. Erst wenn er ganz gewiss sein konnte, dass dies abgeschafft, jenes neu gestaltet werden müsse, und wenn er gewisse Gründe aus der Schrift dafür wusste, hat er sich ans Werk gemacht. Und dies mit aller Behutsamkeit, ohne Zwänge. Denn erst müssen die Herzen gewonnen sein, so betont Luther immer wieder, ehe man in Gottesdienst, Liturgie, äußerer Kirchenorganisation etwas ändern dürfe. Ein schönes Beispiel hierfür ist Luthers zweite Predigt, die er – angesichts der Wittenberger Unruhen von der Wartburg herbeigeeilt – in der Woche nach Invocavit 1522 in der Schlosskirche in Wittenberg hielt.22 Aber auch in späteren Texten hat er diesen Grundsatz, dass niemand aus eigenem Belieben die Kirche umgestalten dürfe, den in der Kirche »Regierenden« eingeschärft. Ein Zitat aus den Predigten Luthers über den 1. Petrusbrief (1523) soll dies bestätigen:


»›So yemand eyn ampt hat, das ers thue als auss dem vermügen, das Gott dar reycht.‹

(1. Petr 4,11)

»Das ist: wer da regirt ynn der Christlichen kirchen und eyn ampt odder eyn dienst hatt die seelen zuversorgen, der soll nicht faren wie er will, und sagen: ›Ich byn ein uber herr, man muss mir gehorchen, was ich schaff, das soll geschafft seyn.‹ Gott will es also haben, das man nichts anders thun soll, denn was er gibt, Also, das es Gottis werck und ordnung sey. Darumb soll eyn Bischoff nichts thun, er sey denn gewiss, das es Gott thut, das es Gottis wort odder werck sey. Und das darumb, denn Gott will nicht, das mans fur gauckelspiel halte, was er mit der Christlichen kirchen thut.«23


In heutigem Deutsch: Wer da regiert in der Christlichen Kirche und ein Amt oder einen Dienst hat, die Seelen zu versorgen, der soll nicht fahren, wie er will, und sagen: Ich bin ein Ober-Herr, man muss mir gehorchen; was ich schaffe, das soll geschafft sein. Gott will es also haben, dass man nichts anders tun soll, denn was er gibt, also, dass es Gottes Werk und Ordnung sei. Darum soll ein Bischof nichts tun, er sei denn gewiss, dass es Gott tut, dass es Gottes Wort oder Werk sei. Und das darum, denn Gott will nicht, dass man’s für Gaukelspiel halte, was er mit der Christlichen Kirche tut (Hervorhebungen von mir).


Eine knappe Zusammenfassung und nochmals O-Ton Martin Luther

Luther hat das Kirchenverständnis wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Kirche ist nicht eine irdische, sichtbare Großorganisation, hierarchisch geordnet, in der kirchliche Vorgesetzte, die »Über-Herren«, ihre Weisungen nach unten durchgeben und die Macht haben, deren Befolgung zu kontrollieren, deren Nichtbefolgung zu sanktionieren. Die Kirche Jesu Christi ist vielmehr die Kirche des Wortes. In ihrem Zentrum steht das Evangelium von Jesus Christus: die rettende, tröstende, richtende, zurechtbringende Anrede Gottes an den in seiner Sünde gefangenen Menschen.

Daher gehören die Wortämter in dieser Kirche an die erste Stelle. Ohne Prediger, Lehrer, Seelsorger – und ich füge hinzu: ohne Kirchenmusiker – kann eine evangelische Kirche nicht sein. Weil das Wort Gottes allein die Macht hat, in die Herzen der Menschen einzudringen und Glauben zu wecken, daher ist es nötig, dass überall dort, wo Christen leben – also nicht nur in den Zentren, sondern gerade auch in den ländlichen Gebieten – zum Wortdienst berufene Menschen da sind, die die Gemeinde unter das Wort Gottes sammeln und zur Antwort des Glaubens einladen.

Eine auf das Evangelium ausgerichtete Kirche lässt Raum für das Wirken des lebendigen Gottes und seines heiligenden Geistes. Die Hybris, dass wir selber es sind, die die Kirche in die Zukunft hinein erhalten und wachsen lassen und dass wir dies mit den entsprechenden Zielvorgaben, Planungen und Steuerungsinstrumenten auch tun können, führt in die Selbstzerstörung. Denn sie klammert Gott aus. Eine Kirche, die darum weiß, dass sie auf das Wirken des lebendigen Gottes und seines heiligen Geistes angewiesen ist, kann daher nur eine demütige Kirche sein.

So möge dieser Artikel mit den letzten Worten der am Anfang zitierten Vorrede Luthers schließen:


»In Summa, wir sind nichts, Christus allein ist alles. Wenn der sein Angesicht abwendet, gehen wir zugrunde und der Satan triumphiert, auch wenn wir Heilige, wenn wir Petrus und Paulus wären. Daher wollen wir unsere Seelen unter die gewaltige Hand Gottes demütigen, damit er uns zu seiner Zeit erhöhe. Denn Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade (1. Petr. 5, 5f.). Wie nun vor Gott ein geängsteter Geist ein Opfer ist (Ps. 51, 19), so ist ohne Zweifel ein halsstarriger und selbstsicherer Geist ein Opfer des Teufels. Gehab dich wohl in dem Herrn, und wenn du es nötig hast, bessere dich durch meine Arbeit und mein Beispiel.«


Anmerkungen:

1 Vortrag beim Hannoverschen Pfarrvereinstag am 13.3.2017 in Hannover.

2 Das Vorwort findet sich in lateinischer Sprache in WA 39 I: 6-8. Kurt Aland hat den Text in deutscher Übersetzung in seine Werkauswahl »Luther deutsch«, Bd. 1, 341-344, aufgenommen.

3 WA TR 3, 3232c [Juni/Juli 1532], Übersetzung nach Heinrich Fausel, D.Martin Luther. Leben und Werk 1483-1521, Calwer Lutherausgabe 11, 55. Nur der letzte Satz ist in Luthers Deutsch überliefert.

4 WA TR 5, 5518 [Winter 1542/43], Ü: Fausel, 55f.

5 Ich folge der älteren Lutherforschung, die das Turmerlebnis noch vor dem Ablassstreit ansetzte. Denn die frühen Vorlesungen und Disputationen Luthers und sein seelsorgerlicher Brief an den Klosterbruder Spenlein lassen die neue exegetische und systematische Entdeckung schon vor dem Ablassstreit erkennen.

6 Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012.

7 Heinrich Boehmer, Der junge Luther, Stuttgart 19625, 188.

8 In WA 1; 638-643 ist die lateinische Fassung von 1518 abgedruckt. In WA 6; 63-75 findet sich der 1520 herausgegebene deutsche Text: »Ein Sermon von dem Bann«.

9 WA 6; 64,3-13. Heutiger Sprache und Schreibweise angeglichen.

10 WA 6; 293,1-8. Zitiert nach der in unser Deutsch übertragenen Fassung in: Gerhard Ebeling/Karin Bornkamm (Hrsg.), Ausgewählte Schriften, Frankfurt 1982, Bd. III, 19.

11 WA 6; 300,34-301,2. Zitiert nach: Ausgewählte Schriften III, 31.

12 WA 6; 301,3-8. Zitiert nach: Ausgewählte Schriften III, 31.

13 Vgl. Johannes Calvin, Institutio christianae religionis IV, 1,8ff, und seinen Kommentar zur Apostelgeschichte, in: Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Neukirchen o.J., Bd. 11, 58. Zu Apg. 2,42: »Wo also nur immer die lautere Stimme des Evangeliums erschallt, wo die Menschen im Bekenntnis dazu verharren, wo sie mit Erfolg sich üben, dieselbe regelmäßig zu hören, da ist ohne Zweifel die Kirche.«

14 WA 11; 408,5-21. Zitiert nach: Ausgewählte Schriften, Bd. V, 8.

15 Luther, Von den Konzilien und der Kirche, 1539. WA 50; 629,28-630,4. Zitiert nach Aland, Luther deutsch, Bd. 6, 35f.

16 WA 7; 721,9-14. Zitiert nach Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin 1964, 202.

17 Zur Unterscheidung und zum Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Priestertum der Getauften und der Stiftung des Predigtamtes bei Luther vgl. jetzt Werner Führer, Reformation ist Umkehr, Göttingen 2016, 81-97. Weder kommt dem Amt eine Priorität vor der Kirche zu, noch kann es ihr unterstellt werden. Beide, die Kirche als das Priestertum aller Gläubigen und das von Gott gestiftete Verkündigungsamt, sind gleich ursprünglich. Sie stehen beide »in einer Ursprungsrelation zu Christus«. Daher »ist jeder Prioritätenstreit zwischen beiden unsachgerecht« (93).

18 WA 30 II; 526,17-530,7. Zitiert nach Aland, Luther deutsch, Bd. 7, 230-232.

19 An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung, WA 6; 440,21f.

20 WA TR 1, 843.

21 Kirche der Freiheit. Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 59 (3. Leuchtfeuer).

22 Acht Sermone, gepredigt zu Wittenberg in den Fasten 1522, WA 10 III; 1-64. Zweite Predigt: 10 III; 13-20.

23 WA 12; 379,30-380,5.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. i.R. Dr. Gisela Kittel, Lehrtätigkeit im Rahmen der Lehramtsstudiengänge an der Gesamthochschule Siegen und der Universität Bielefeld im Fach »Evang. Theologie und ihre Didaktik«, Schwerpunkte: AT und NT, von 1977-1981 Pfarrerin in der Lippischen Landeskirche, seit 2010 Mitglied im Verein »D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.«.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2017

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