Mit veränderten Bestattungspraktiken verändert sich auch die Vorstellung von der Gegenwart der Toten bei der Trauerfeier. So ist der Verstorbene heute oft im Bild »anwesend«, das neben der Urne bzw. dem Sarg steht. Lucius Kratzert erkennt in der Möglichkeit bildlicher Repräsentanz aber auch ein theologisches Problem und zugleich eine liturgische Herausforderung.*


1. Vorbemerkungen

Die Szene schafft Stimmung. Noch bevor im Theater das erste Wort gesprochen ist, hat der Bühnenaufbau und die Gestaltung des Bühnenraums Bilder und Assoziationen hervorgerufen, wurde die Erwartung des Zuschauers kanalisiert. Aber nicht nur das Theater oder der Film arbeiten mit mehr oder weniger aufwändigen, mit mehr oder weniger suggestiven Szenenaufbauten. Auch die Friedhofskapelle wird zur Bühne, auch in ihr entsteht eine Szene, die das Geschehen prägt, das die Liturgin im Trauergottesdienst auszufüllen versucht. Und gleich wie die Bühne im Theater zu jeder Inszenierung neu gebaut wird und sich diese Neubauten auch an den Moden und Vorstellungen der Zeit orientieren, ebenso ist die Szene umgebaut, die evangelische Beerdigungsaufführungen beheimatet.

Szenenwechsel entspringen im Normalfall äußeren Notwendigkeiten, sie evozieren aber auch neue innere Plausibilitäten. Im Umbau der Szene korrespondieren also im Idealfall, in dem die Vorstellung als gelungen wahrgenommen wird, die vorgängigen Bilder und Ideen der gestaltenden Akteure mit den Seherwartungen des Publikums und mit dessen nachgängiger Deutung.

Wenn im Folgenden auf die Wandlungen im Szenenaufbau aktueller Beerdigungen geblickt werden soll, dann sollen zuerst die Gründe benannt werden, die diesen Wechsel hervorgerufen haben. In einem zweiten Schritt soll die Seherwartung des Publikums im Rahmen aktueller kulturwissenschaftlicher Diskurse ausgeleuchtet werden. Ein deutender Schlussteil nimmt diese Wandlungen wiederum kritisch in den Blick und versucht, gleich einem Richtstrahler unterbelichtete Ecken der Szenerie auszuleuchten und dadurch den Blick auf diese zu lenken.


2. Gründe für den Umbau der Szene

2.1 Die Abschaffung des Sterbegeldes

Als wichtiges Datum im Umbau des Szenengebäudes der deutschen Trauerkultur gilt das Jahr 2004. Denn in diesem Jahr wurde, letztendlich als ein kleiner Baustein der Umwandlung des deutschen Sozialstaates, die heute allgemein unter dem Titel »Hartz-IV-Reformen« firmiert, das Sterbegeld gänzlich abgeschafft, das schon in den vorhergehenden Jahren zugunsten der »finanziellen Konsolidierung […] und damit der Zukunftssicherung der Altersversorgung«1 z.B. im Öffentlichen Dienst sukzessive reduziert wurde. Das Sterbegeld war eine Leistung, die die Krankenkassen den Hinterbliebenen auszahlten und die zur Deckung der Beerdigungskosten beitragen sollte.

Die Abschaffung des Sterbegeldes wurde als einer der Gründe benannt, warum sich die Zahlen der Kremationen in den letzten beiden Jahrzehnten so enorm vergrößert hat2 und inzwischen in Deutschland je nach Gemeinde zwischen 60 und 80%3 der Bestattungen ausmacht. In dieser Argumentation wurde dann darauf verwiesen, dass hier eine Entsozialisierung der Beerdigungskultur stattfinde. Denn wo die Beerdigungskosten von den Angehörigen direkt und allein bezahlt werden müssen, da kommt es zu einkommens- und vermögensbedingten Differenzierungen in der Art und Ausgestaltung der Trauerfeier. »Zeig mir Deine Beerdigung und ich zeige Dir, wer Du warst.«4 Dabei schien klar zu sein, dass der Distinktionsmarker zwischen den gesellschaftlichen Schichten die Frage nach der Kremation sei. Denn es war zwar in den ersten Jahren ihres Aufkommens in Deutschland um die Wende vom 19. zum 20. Jh. die Kremation das Mittel der Wahl v.a. der entkirchlichten Bildungseliten. Aber aufgrund der geringeren Bestattungskosten bei reinen Urnenbeisetzungen wurde die Kremation im Laufe der Jahrzehnte zur präferierten Beerdigungsvariante der bildungs- und einkommensschwachen Großstadtbevölkerung.

Allerdings erweist sich dieses Argument bei genauerem Hinschauen als wenig stichhaltig. Denn zum einen gehören bei weitem nicht diese 60-80% der deutschen Gesamtbevölkerung zur solchen Bevölkerungsgruppierung, die sich eine Erdbestattung nicht leisten können. Und zum anderen ist der finanzielle Unterschied zwischen den beiden Bestattungsarten nicht so groß5, als dass seit der Abschaffung des Sterbegeldes es ärmeren Bevölkerungsschichten unmöglich sei, ihre Angehörigen auf die traditionelle Art der Erdbestattung zu beerdigen.



2.2 Die Verabschiedung der Leiche von der Beerdigung

Eine Notwendigkeit, die Szene umzubauen, ergibt sich, was auch immer der Grund für diese Anstieg der Kremationen ist, aus diesem Anstieg selbst. Denn pointiert gesagt kann man das so formulieren: Aus der deutschen Trauerpraxis hat sich die Leiche schon längst verabschiedet.

Diese wohl größte kulturelle Veränderung in der Trauerpraxis ist ein Phänomen, die ein neues kulturwissenschaftliches Nachdenken herausfordert. Wie selbstverständlich konnte im Jahr 1987 der in Todesfragen versierte Kulturwissenschaftler Thomas Macho noch vom »Leichenparadox« reden. Damit beschrieb er die Tatsache, dass der Tod gar nicht als Negation des Seins gesehen werden könne, denn damit »müssten wir verleugnen, dass etwas übrig bleibt nach dem Sterben: die Leiche.« Weil diese aber nun mal vom Verstorbenen übrig bliebe, liege hier ein Paradox, weil der Tote in seiner Leiche alle Kommunikationsorgane des Lebenden behält und somit scheinbar Teil zwischenmenschlicher Kommunikation bleibt, er gleichzeitig aber seine Fähigkeit zur Kommunikation schlagartig verliert, wodurch er doch nur noch ein Ding ist, das da zwischen den menschlichen Kommunikanten liegt und dem gegenüber sich die Kommunikanten verhalten müssen. In dieser Melange aus Selbstbestimmtheit und notwendigem Bestimmtsein bleibe das Paradox ungelöst, »dass dieser Tote ein bestimmter Mensch ist – und doch zugleich nicht ist.«6

Dieses Paradox ist heute fast nur noch eine theoretische Überlegung. Denn im Regelfall wird die Leiche dem öffentlichen Blick schon kurz nach dem Ableben entzogen, gerät aus dem Blick und verschwindet innerhalb der ersten 367, bzw. 968 Stunden nach dem Ableben von der Bildfläche. Der Sarg ist zu, der Deckel schon beim Verlassen des Bestattungsinstitutes drauf und die einzigen menschlichen Körper, die der größte Karlsruher Bestatter noch in aller Regelmäßigkeit der Öffentlichkeit präsentiert, sind die manchmal allzu lebendigen Spieler der gegnerischen Mannschaften des örtlichen Fußball-Zweitligisten.9



2.3 Die praktische Notwendigkeit, die Szene zu füllen, und die Möglichkeiten der technischen Umsetzung

Wenn die Leiche, auch wenn sie meistens sowieso nur noch im geschlossenen Sarg anwesend war, beim Großteil aktueller Trauerfeiern nun überhaupt nicht mehr präsent ist und durch die Urne ersetzt wird, die an der Stelle des Sarges steht, drängt es sich auf, den frei gewordenen Platz in der Szene anderweitig zu füllen. Dies ist der pragmatische Grund, der Bestatter dazu gebracht hat, den Szenenumbau voranzutreiben und neben etlichen Requisiten wie Baumstämmen oder Schwimmkerzenbecken dem Bild der/des Verstorbenen einen prominenten Platz neben der Urne einzuräumen und zu schaffen.

Nun lässt sich mit Matthias Marks fragen, ob sich die Präsentation des Toten im Bild auf praktikable Gründe reduziert oder ob ihr ein eigener Diskurs zugrunde liegt, wobei dieser »Diskurs über Bilder, ihre Präsenz und ihre Wirkungen bislang weitgehend an der Praktischen Theologie vorbeigegangen«10 ist. Dabei ist es in der Kulturgeschichte des Menschen durchaus nicht ungewöhnlich, den Toten abzubilden und damit für die Anschauung der Hinterbliebenen zu konservieren, sei es in der Form der Totenmaske, der Mumie, des Totenbildes oder der Totenfotografie.11 Ziel der meisten dieser Kulturpraktiken war es vermutlich, dem Toten über seinen Tod hinaus »bleibenden Einfluss auf Geschicke der Gegenwart«12 zu gewähren. Diese Praktiken, soweit sie wegen des Materialaufwandes nur von reichen und einflussreichen Familien ausgeübt werden konnten, bewegen sich im Bereich von Macht/Verehrung der Toten. Als Praktiken einfacher und kostengünstiger Gestaltung sind sie den Bereichen von Magie/Religion, sowie Ästhetik/Kunst zuzuordnen.

So konnte die Präsenz derjenigen gestorbenen Menschen bewahrt werden, denen eine besondere »Vermittlerrolle zum Übernatürlichen zugesprochen wurde.«13 Dabei verfolgte die Bebilderung der Toten in verschiedenen Traditionen ganz unterschiedliche Ziele. Diese sind nicht immer leicht zu deuten, wenn wir z.B. an die sog. Totenmaske des Agamemnon denken, die Heinrich Schliemann im Jahr 1876 auf der Ausgrabungsstätte in Mykene fand. Denn es stellt sich die Frage, wofür der große, auch materielle Aufwand betrieben wurde, eine goldene Totenmaske eines Königs vermutlich aus der Bronzezeit anzufertigen, wenn diese dann doch zusammen mit dem Körper des Verstorbenen dem öffentlichen Blick entzogen wurde, indem sie mit diesem in der Grabkammer verschwand.

Deutlicher kommt der Sinn der Bebilderung der Ahnen in der Zeit der römischen Republik in den Blick. Denn die gesammelten und im Atrium des Hauses ausgestellten Gipsmasken der Ahnen unterstrichen die Bedeutung der gesellschaftlichen Position derjenigen, die in ihrem mit Ahnenbüsten vollgestellten Haus andere Mitglieder der römischen Stadtgesellschaft empfingen.

Und auch der Ästhetisierung der Toten in der Fotografie, die seit dem 19. Jh. mit einem engen Kanon von Sujets des Schlafenden oder des Ruhenden arbeitet, kann man mit Jens Wolff einer plausiblen Deutung unterziehen. Wolff spricht von einer Platonodizee, einem Platons Ontologie abwandelnden Versuch, die Trauer durch die Einfassung der Toten in ein »Kalon kai agathon-Muster«, eines Musters des Schönen und Guten zu überwinden. In diesem soll der Verstorbene in die Idee seiner Selbst überführt und dadurch verewigt werden. Im Bild des Schlafenden ist der Verstorbene nunmehr das Schöne und Gute seiner selbst geworden.14


3. Plausibilisierung: Der Wert des Bildes für die Neuzeit

Was nun auch immer den Umbau der Szene verursacht haben könnte, er bliebe nicht bestehen und würde sich im marktwirtschaftlich organisierten Geschäft mit den Beerdigungen nicht halten, wenn er vom Publikum nicht goutiert würde. Und er würde vom Publikum nicht goutiert, würde er nicht einen Nerv in ihrem Sehverständnis treffen bzw. würde sich die gezeigte Szene nicht als passender Hintergrund für das Trauerspiel erweisen. Darum will ich im Folgenden versuchen, den neuen Aufbau der Szene als insofern zeitgemäß zu beschreiben, als er aktuellem Weltverständnis entspricht und sich auf fundierte philosophische Grundlagen berufen kann.



3.1 Das Bild als Grundbestand heutiger Wirklichkeitswahrnehmung

Realität baut sich im Zeitalter der vollkommenen Bebilderung der Welt eben durch Bilder auf. Nun ist es natürlich ein alter Hut, auf die Neuerungen in der Anschauung der Welt durch »die digitalen Bilderfluten […] und die neuartigen Bildgebungsverfahren in Medizin und Naturwissenschaften bis hin zu den Überwachungsbildern der modernen Kontrollgesellschaften«15 hinzuweisen und darum die Rede vom pictorial oder iconic turn zu bemühen. Denn erstens ist diese Wende in den Kulturwissenschaften seit Mitte der 1990er Jahre in aller Munde und hat in Deutschland besonders über das Engagement von Hubert Burda16 und Institutionen wie das ZKM in Karlsruhe mit seinem Leiter Peter Weibel eine breite Rezeption erfahren. Zum zweiten reiht sich auch dieser Turn nur in eine Reihe von Turns ein, die allesamt eher als »Theorieübersetzung statt Theorietransformationen«17 gedeutet werden sollten. Und drittens fragt sich auch hier wiederum, wie sich kulturwissenschaftliche Analyse und Synthese zu gelebter Praxis der Breitenbevölkerung verhalten.

Dennoch bleibt der Phänomenbefund, dass dem Bild aktuell eine bedeutende Rolle in der Wirklichkeitskonstruktion des Menschen beigemessen wird. Diese Rolle wird man kaum hoch genug einschätzen können und man scheint sich nicht verstiegen zu haben, wenn man behauptet, dass nur das als real gilt, wovon es ein Bild, gleichsam ein Beweisfoto gibt. So heißt es z.B. selbst in der allein aufgrund ihrer Form notwendigerweise zurückhaltend formulierenden Trauagende der Union Evangelischer Kirchen: »Zu bedenken ist weiter, dass in einer Mediengesellschaft die Wichtigkeit eines Ereignisses auch durch das Konservieren auf Filmen ausgewiesen wird.«18

Diesen Befund versucht Philipp Stoellger mit Rückgriff auf Hans Jonas und Hans Blumenberg theoretisch einzuholen. Er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Feststellung, dass »der Tod das Bild evoziert.« Denn bei der Beerdigung wird die Absenz des Leibes durch dessen Repräsentation im Bild bearbeitet, denn »Grabkultur ist Kultur des Widerstandes gegen den Tod.«19 Rein physiologisch ist das so zu denken, dass es dem Menschen als Kulturwesen möglich ist, die individuelle lokal und zeitlich verortbare Erscheinung einer Sache zu trennen von der Möglichkeit ihrer Wieder-Holung im Bild. Das Gesehene wird im Gehirn gespeichert und kann über die Hände bzw. die dem Menschen zur Verfügung stehende Technik in seiner Erscheinung wieder dargestellt und überzeitlich und je nach Technik auch überörtlich vergegenwärtigt werden. Diese Verbilderung der Welt habe rein kulturgeschichtlich ihren Ausgangspunkt in der Notwendigkeit, mit dem Tod umzugehen. Denn die ersten Bilder, die uns von Menschen überliefert sind, sind Jagdszenen in Höhlen, in denen v.a. auch die zu tötenden und vor ihrer Sichtbarmachung im Bild auch gejagten Tiere gezeigt werden. Nun werde auf den Höhlenwänden etwas Besonderes dargestellt: »Es ist nicht selber das Lebendige, das Mammut. Es ist selber auch nicht das tote Mammut, sondern eine Figur des Dritten, wie in einem Zwischenreich der halblebendigen Dinge.«20 Diesem Dritten wird, und darin liegt der kulturgeschichtliche Fortschritt der Entwicklung der Malerei, Präsenz zugesprochen. Das Bild selber wird zum Gegenstand für den Betrachter, es tritt ihm gegenüber und zu ihm in eine personale Beziehung, insofern dem Bild eine Wirkmacht gegenüber dem Betrachter zukommt.

Nach der Argumentation von Jonas erreicht der Mensch damit eine erste Kulturstufe theoretischer Wahrheitsfindung, deren zweite Stufe die der sprachlichen Nachbildung der Welt und damit die intellektuelle Auffassung der Welt ist: »Die adaequatio imaginis ad rem, die der adaequatio intellectus ad rem vorangeht, ist die erste Form theoretischer Wahrheit – der Vorläufer verbal beschreibender Wahrheit, die ihrerseits der Vorläufer wissenschaftlicher Wahrheit ist.«21 So schön sich allerdings die Vorstellung einer solcherart gestaffelten Qualitätsentwicklung der Wahrheitsformen des Menschen im Raum geisteswissenschaftlicher Texte liest, so sehr muss man doch mit Doris Bachmann-Medick fragen, ob es sich hierbei tatsächlich um unterschiedliche Qualitätsstufen von Wahrheitserkenntnis oder nicht vielmehr um Wahrheitswahrnehmungen in verschiedenen Sprachfeldern handelt. In diesem Falle müsste man dann von der bildlich vermittelten Wahrheit sprechen können, die sich von der begrifflich erschlossenen Wahrheit zwar hoffentlich nicht unterscheidet, aber über einen anderen Aneignungsweg zur Anschauung kommt.22



3.2 Die bildliche Existenz des Menschen

Will man diese Wahrnehmung simpel ausdrücken, dann kann man sagen, der Verstorbene bleibt so lange Teil des Lebens der Hinterbliebenen, solange er präsent bleibt im Bild. Diese Präsenz wird im Beerdigungsgeschehen nicht bloß dokumentiert, sondern auch realisiert in dem speziellen Bild, das nun besonders für diesen Anlass ausgesucht, großformatig ausgedruckt und gerahmt wird. Um diese Realpräsenz philosophisch zu fassen, möchte ich auf die Leib-Philosophie von Hermann Schmitz zurückgreifen.23

Schmitz nimmt seinen Ausgang in der sprachlichen Unterscheidung zwischen Körper und Leib, die das Deutsche kennt. Den Körper beschreibt er dabei von der mathematischen Vorstellung der Dimensionen von Punkt, Strecke und Fläche kommend als deren dritte Dimension, die zeitlich und räumlich lokalisierbar ist und deren Außenfläche man mathematisch bestimmen kann. Die simplen Beispiele des Bauch- oder des Kopfwehs machen aber deutlich, dass im Selbstempfinden des Menschen nicht der Körper der Ort seiner Selbstwahrnehmung ist, sondern als Ort des Selbst etwas anderes postuliert werden muss, das Schmitz im Leib entdeckt. Den Leib beschreibt er als »das Ganze der leiblichen Regungen mit seiner […] räumlichen und dynamischen Beschaffenheit.«24

In verschiedenen Argumentationsgängen entfaltet Schmitz im Weiteren, dass sich die Ausdehnung des Leibes nicht mathematisch-räumlich fassen lässt, sondern dass sich diese aus demjenigen Raum ergibt, der zum einen vom Bewusstsein erfahren wird, der zum Anderen in den dynamischen Regungen des Leibes ergriffen wird. Diese Regungen sind immer als Spiel von »Enge und Weite«25 verstanden, wobei besonders bei der Weitung des Blickes deutlich wird, dass die leibliche Ausdehnung die körperliche weit übertreffen kann. Als Konklusion beschreibt Schmitz das Verhältnis von Körper und Leib und stellt fest: »Die Annahmen einer Identität des Leibes mit dem sinnfälligen Körper ist nicht haltbar. Beide Sachen […] sind unterschiedlich bestimmt, sowohl der Ausdehnung als auch der Dynamik nach. Ihr auch nur räumlicher Zusammenhang ist ohne einsichtige Notwendigkeit. Wenn schon einzelne Leibesinseln im Fall der Phantomglieder und der Blick als Bestandteil des Leibes und der leiblichen Kommunikation aus dem Bereich des Körpers austreten können, warum soll das Entsprechende nicht für einen ganzen Leib möglich sein?«26

Ich will diesen Gedanken von Schmitz aufgreifen und ihn mit den Möglichkeiten moderner Telekommunikation verbinden. Nehmen wir an, dass der Leib der Wirkraum des Menschen ist, dann könnte man alle Telekommunikationsformen, angefangen beim Brief bis hin zur datenbasierten Live-Kommunikation, als weitende Ausdehnung des Leibes denken. Ein Mensch kann dann, jetzt aus der Sicht des Kommunikationspartners, als leibhaftig präsent gedacht werden, wenn er über Skype auf dem Bildschirm und im Lautsprecher seines Gegenübers erscheint. Besonders dann, wenn man die Rolle des Bildes in der Schaffung von Wirklichkeit stark macht, wird man hier nicht zu vorsichtig argumentieren dürfen. Diese Logik kann man fortführen und fragen, ob dann, wenn über bildliche und auditive Speichermedien diese leibhafte Präsenz immer wieder hergestellt werden kann, auch dem Toten auf dem Bild neben der Urne Realpräsenz zugeschrieben werden kann. In diesem Gedanken müsste man sagen, dass nicht der offene Sarg durch die Urne ersetzt worden ist, sondern durch das Bild des Gestorbenen, das neben der ­Urne oder dem Sarg steht.



3.3 Das Verhältnis zwischen bildlichem und kommunizierendem Menschen

Was seit dem Baum des Lebens im Paradies über die Suche nach dem Jungbrunnen bis hin zu modernen Sagen der Unsterblichkeit wie der des Highlanders als Idealvorstellung eines Lebens in ewiger Jugend und Kräftigkeit gesucht wurde, wird nun in gewisser Weise technisch gefunden. Denn in der Konservierung des Toten im lebensechten Bild oder im Film erhält dieser für die Hinterbliebenen dauerhafte Präsenz in deren Leben. Und durch die technisch simple Möglichkeit der Duplizierung des Bildes besitzt der Verstorbene nicht mehr nur einen, sondern erhält eine beliebig große Anzahl von Leibern, die zeit- und raumvariant erscheinen können. Der Tote, gleichwohl gestorben, bleibt wirkendes Mitglied der Gesellschaft, in der er gelebt hat.

Allerdings bleibt er in seiner Gegenwart allein auf diese Weise wirkmächtig, auf die er im Bild präsent ist. In dieser bildlichen Gegenwart geschieht nun aber eine Transformation des aktiv Lebenden in die passive Präsentation seiner selbst als eines Toten. Es ist nun nicht mehr die Leiche, von der Thomas Macho schrieb, die ihrer Stimme beraubt fremdbestimmt herumliegt und mit deren Präsenz die Hinterbliebenen leben lernen müssen. Und der Bedarf, einen Umgang mit der bildlichen Präsenz zu erlernen, steigt mit der Anwendung neuer Techniken im Trauerprozess, wenn z.B. QR-Codes auf Grabsteinen27 Texte, Bilder und Filme der Verstorbenen auf das Smartphone der Trauernden oder ganz zufälliger Friedhofsbesucher bringen, die vor dem Grab stehen. Aber da selbst die Stimme des Toten im Film nur die unendliche Wiedergabe des immer Gleichen und schon längst Gesagten sein kann, verliert auch der bebilderte Tote seine Stimme und damit seine Selbstbestimmung. Nicht als Leiche, sondern als bildhafte Repräsentation seiner selbst ist er aller zwischenmenschlichen Kommunikation entzogen nicht mehr als die Summe der Erinnerungen, die sich in seinen Betrachtern beim Anblick des Bildes vereinen. So wird dem Toten in seiner Bebilderung nach dem Tod der letzte Funken der Deutungshoheit über sein Leben entzogen und es ihm zugemutet, als bildlicher Schatten seiner selbst so lange von Äon zu Äon zu wandern, bis das Bild verramscht und die letzte Datei gelöscht ist.


4. Konsequenzen

4.1 Biblische Grundlage: die Rede von der Umwandlung allen Seins in 1. Kor. 15,44

Die Szene wurde umgebaut. Die Bühne, auf der die Pfarrerin den Trauergottesdienst feiert, ist nicht mehr von einem offenen oder geschlossenen Sarg dominiert, sondern von einem Bild des Verstorbenen, das die Hinterbliebenen in ihrem Trauerprozess leitet und prägt. Auf dieser Bühne muss die Liturgin nun diejenige Botschaft von der Auferstehung predigen, die sich ihr als die christliche erschlossen hat.

Ohne auf die Vielzahl der Möglichkeiten einzugehen, die an dieser Stelle genannt und verkündigt werden könnten, soll doch darauf verwiesen werden, dass die Unsterblichkeit, wie sie oben als auf der Szene dargestellt beschrieben wurde, jedenfalls nicht zu den möglichen Verkündigungsinhalten gehört. Denn was nun auch immer bei den Hinterbliebenen Hoffnung stiften soll, es sollte nicht die Idee sein, den Toten real festzuhalten und als Teil ihres Lebens zu konser­vieren.

Gegen solche Konservierungen des Toten im Leben und somit gegen alle Repräsentation, bzw. Präsenthaltung der Toten bei den Lebenden steht diejenige Auserstehungsvorstellung, wie wir sie im 15. Kapitel des 1. Kor. finden. Ohne auf deren exegetische Einordnung näher einzugehen, zeigt sich hier ein Umgang mit dem Tod, der die aktuelle Szene neu ausleuchten kann. Dabei liegt die Pointe für uns an anderer Stelle, als Paulus sie sieht. Für ihn liegt das Heilsame in der Vorstellung, dass in der Umwandlung der Toten in der Auferstehung die Verstorbenen der Welt entzogen werden, welche es sowieso zu überwinden gilt. So kann er die der Welt entzogenen Toten als die Gewandelten beschreiben, die geistlich vom Himmel her sind:


42 Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. 43 Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. 44 Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib. […] 46 Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche. 47 Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel. 48 Wie der irdische ist, so sind auch die irdischen; und wie der himmlische ist, so sind auch die himmlischen. 49 Und wie wir getragen haben das Bild des irdischen, so werden wir auch tragen das Bild des himmlischen.


Nehmen wir diese Vorstellung der wesenhaften Verwandlung des Toten in die Form des geistlichen Leibes (soma pneumatikon) ernst als Verkündigungsgut christlicher Beerdigungspraxis, dann wäre es deren Aufgabe, diese leibliche Verwandlung zu betonen und in ihren Riten darzustellen. Dabei geht es dann eben nicht darum, den irdischen Leib durch das Bild als eine andere Form eines irdischen Leibes zu ersetzen, sondern den irdischen Leib der Anschaubarkeit des Menschen vollkommen zu entziehen. Denn erst durch diesen Entzug kann in der Beerdigung ein doppeltes Befreiungsgeschehen gelingen: Es werden in ihr nämlich die Hinterbliebenen befreit vom unbestimmten Leib des Toten, auch dem im Bild, und es wird der Verstorbene befreit von der für ihn unbestimmbaren Repräsentation durch die Hinterbliebenen.



4.2 Liturgische Konsequenzen

Nun ist es im Theater zum einen die große Kunst der Dramaturgen, überlieferte Texte so umzuformulieren, dass sie in die Gegenwart hinein sprechen und deren Probleme thematisieren. Zum anderen tun aber auch Dramaturgen gut daran, sich auf den Wortlaut der alten Texte zu besinnen und bisweilen nahe an ihnen zu bleiben.

So hat die traditionelle evangelische Beerdigungsliturgie für diesen doppelten Übergang ein Ritual entwickelt. Obwohl es sich in der Bildmoderne immer mehr aufzulösen scheint, macht es doch sinnlich erfahrbar, was im eigenen Verständnis während der Beerdigung geschieht. Klassischerweise werden die Verse 1. Kor. 15,42 und 43 am Grab gesprochen, nachdem der Sarg oder die Urne in die Erde gelassen wurde. An dieser Stelle beginnt der Pfarrer unter den Worten »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube«, den Verstorbenen im eigentlichen Sinne des Wortes zu beerdigen, indem er Erde auf das Gefäß mit den Überresten des Verstorbenen wirft. Nach dem Pfarrer treten die Hinterbliebenen ans Grab und helfen mit, den Verstorbenen zu beerdigen. In diesem Akt des Mitbeerdigens durch die Hinterbliebenen, indem diese Erde auf den Sarg oder auch auf die Urne werfen, manifestieren sie es für ihr eigenes Wirklichkeitsverständnis, dass der Verstorbene die Welt tatsächlich verlassen hat. In diesem letzten Akt erweisen sie ihm die Freiheit der Selbstbestimmung über das eigene Bild im Tod. Die ritualtheoretische Frage stellt sich nun, ob an dieser Stelle das Bild mitbeerdigt werden müsste, um den Verstorbenen in die wahre Freiheit des Todes zu überführen. Auf welche Weise könnte das Beerdigungsgeschehen versinnbildlichen, dass der Tote tot ist und die Hinterbliebenen leben?

Aber so sehr sich praktische Theologie auch bemühen mag, auf Grundlage systematischer Erwägungen im christlichen Sinne sinnvolle Vollzüge kirchlichen Handelns zu beschreiben und zu bewerben, so sehr bleibt Kultur eben doch Kultur, die sich ihre eigenen Plausibilitäten selber macht. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Plausibilisierungsprozesse immer wieder als sachgemäß erweisen.


Anmerkungen:

* Überarbeitete Version eines Vortrags, gehalten am 9. Juni 2016 an der Aristoteles-Universität Thessaloniki beim Forschungskolleg „Bioethik in ökumenisch-theologischer Perspektive“ der Theol. Fakultäten Basel und Thessaloniki.

1 Verfassungsbeschwerde gegen die stufenweise Abschaffung des Sterbegeldes durch die VBL erfolglos; Pressemitteilung des BVG Nr. 53/2011 vom 18. August 2011; Beschluss vom 20. Juli 2011, 1 BvR 2624/05.

2 Vgl. z.B. Petra Franke, Trauerkultur im Wandel, in: Mitteldeutsche Kirchenzeitung, 24. November 2013.

3 Bestattungen auf allen Karlsruher Friedhöfen: Jahr 2012: 882 Erdbestattungen (32%); 1896 Feuerbestattungen (68%); Jahr 2013: 797 Erdbestattungen (28%), 1843 Feuerbestattungen (72%); Jahr 2014: 824 Erdbestattungen (30%), 1892 Feuerbestattungen (70%); Jahr 2015: 824 Erdbestattungen (29%), 2001 Feuerbestattungen (71%).

4 Frei nach dem alten griechischen Sprichwort: »Δείξε μου τους ϕίλους σου και θα σου πω ποιός είσαι.«

5 Bei den Friedhofsgebühren der Stadt Karlsruhe beläuft sich der Unterschied auf ca. 250 € zugunsten der Urnenbestattung: https://web1.karlsruhe.de/Stadt/Stadtrecht/anlage-7-9.pdf. Dazu kommen finanzielle Unterschiede in der Grabpflege, die bei Erdgräbern für gewöhnlich teurer ist. Dafür braucht es bei der Urnenbestattung zusätzlich zum für fast alle Bestattungsarten obligatorischen Sarg noch eine Aschen- und eine Schmuckurne.

6 Th. Macho, Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt 1987, 97.

7 Bestattungsgesetz Baden-Württemberg (Bestattungsgesetz – BestattG) Vom 21. Juli 1970, Stand: 1.7.2015, §27 (1) Überführung in Leichenhallen. Hier wird die Höchstverweildauer des Verstorbenen am Sterbeort geregelt.

8 Bestattungsgesetz Baden-Württemberg (Bestattungsgesetz – BestattG) Vom 21. Juli 1970, Stand: 1.7.2015, §37 (1) Bestattungs- und Beförderungsfrist. Hier wird geregelt, nach wie vielen Stunden der Leichnam, der nicht in eine Leichenhalle überführt wurde, bestattet werden muss.

9 Ein örtliches Bestattungsunternehmen präsentiert vor jedem Spiel des Karlsruher SC die Aufstellung der Gastmannschaft. Ein Schelm, der Böses dabei denkt …

10 M. Marks, Trost im Angesicht des Toten? Zur Bedeutung der Kasualfotografie in der heutigen christlichen Trauer- und Bestattungskultur, in: Th. Klie, Praktische Theologie der Bestattung, Berlin 2016, 543-574, hier 543.

11 Vgl. dazu M. Marks, a.a.O., 544-554.

12 M. Marks, a.a.O., 547.

13 Gisela Stiehler-Alegria, Die Magie der Totenmasken, Eine Zeitreise zu den Ursprüngen, in: Bestattungskultur, Fachzeitschrift des Bundesverbandes Deutscher Bestatter, Heft 10, 2003, 8.

14 Jens Wolff, Public Viewing – Fragmente einer Bildsprache des Todes, in: Th. Klie, Praktische Theologie der Bestattung, Berlin 2016, 521-542. Allerdings betont Wolff: »Platonodizee ist keine Antwort im Umgang mit dem Tod. Sie führt zur finalen Unbetrauerbarkeit des Todes, weil er immer schon als überwundener erscheint.« (542)

15 D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl. Hamburg 2009, 329.

16 www.iconicturn.de.

17 D. Bachmann-Medick, a.a.O., 20.

18 Trauung. Agende für die Union Evangelischer Kirchen in der EKD, Band 4, im Auftrag des Präsidiums herausgegeben von der Kirchenkanzlei der UEK, Bielefeld 2006, 39.

19 Ph. Stoellger, Kulissenkunst des Todes, Zum Ursprung des Bildes aus dem Tod, in: Th. Klie (Hrsg.), Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung, Stuttgart 2008, 15-43, hier 35.

20 Ph. Stoellger, a.a.O., 36.

21 H. Jonas, Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildes, 243, zit. n. Ph. Stoellger, a.a.O., 36.

22 In diesem Sinne ist es vielleicht kein Zufall, dass Schleiermacher seine Reden, in denen er die vorreflexiv empfundene Anschauung des Universums von der durch Sprache reflektierten Aneignung unterscheidet, an die Gebildeten richtet, die Wahrheit in der Übereinstimmung von Intellekt und Sache suchen.

23 H. Schmitz, Der Leib, Berlin 2011.

24 Schmitz, a.a.O., 5.

25 Schmitz, a.a.O., 15.

26 Schmitz, a.a.O., 143.

27 Diese Technik hat inzwischen u.a. den Deutschen Städtetag zu einer Stellungnahme verleitet: Handlungsempfehlung zum Umgang mit dem QR-Code, (erarbeitet von der Fachkommission »Friedhof und Stadtgrün« des Deutschen Städtetages, 11/2013).

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Lucius Kratzert, Jahrgang 1980, Vikariat in Karlsruhe, Forschungsassistent in Basel, seit 2012 Gemeindepfarrer in Karlsruhe-Hohenwettersbach und Bergwald.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2017

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