Dass das Aufwachsen im Pfarrhaus nicht gerade zu mustergültigen Biographien beitragen kann, ist eine mittlerweile vielfach belegte Einsicht. Auch literarisch wird der Stoff gerne traktiert. Konstantin Sacher beschreibt zwei aktuelle Prosawerke hierzu und fragt nach ­deren Implikationen für die Diskussion über die Zukunft des Pfarrhauses.


Kinder im Pfarrhaus

Der Dorfarzt stirbt beinahe, weil ein gespanntes Seil sein Pferd zu Fall bringt; eine Frau verliert bei einem mysteriösen Arbeitsunfall ihr Leben; der junge Baron wird entführt und gequält; ein Gebäude geht in Flammen auf; ein Baby, im Winter ans offene Fenster gelegt, erfriert beinahe und ein geistig-behinderter Junge wird geblendet. Diese Ansammlung unaufgeklärter Schrecklichkeiten bildet das Gerüst für einen Film, der sich im Untertitel eine deutsche Kindergeschichte nennt. Michael Haneke erzählt in Das weiße Band, wie sich die Grausamkeit der Gesellschaft kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Grausamkeit von Kindern ihr perverses Ventil sucht. All die Taten, so deutet es der Film an, ohne es wirklich zu sagen, sind von den Kindern des Dorfes begangen worden, von Kindern, die von ihren Eltern im besten Fall mit Gefühlskälte und Missachtung und im schlimmsten mit körperlichem und sexuellem Missbrauch bedacht werden. Angeführt werden die Kinder des Dorfes von Klara und Martin, zwei der Kinder des Dorfpfarrers. Der Pfarrer fordert von allen Bewohnern des Pfarrhauses tugendhafte Strenge und bestraft die kleinsten Ausreißer mit Schlägen und öffentlich an den Pranger Stellen – das titelgebende weiße Band müssen die Kinder öffentlich als Ermahnung daran tragen, eine reine Seele zu bewahren. Nur so kann dem Pfarrer, so scheint es, das Pfarrhaus weiterhin als Ausweis und Richtschnur für das ganze Dorf dienen, als Laterne, deren Licht dem Dorf den Weg leuchtet.

Michael Hanekes Film wurde vielfach ausgezeichnet und war auch beim Publikum erfolgreich. Seine Pfarrhausdarstellung wirft kein gutes Licht auf das Innenleben dieses protestantischen Sehnsuchtsortes. Hier möchte man doch eigentlich viel lieber an die fröhliche Familie Luther denken: Martin Tischreden schwingend am Kopf der Tafel, das im Hause gebraute Bier trinkend und durch die nie ausbleibende Hilfe seiner Käthe einen riesigen Hausstand aus Kindern, Gästen und Knechten fromm bewirtend. Oder auch an den Hort der Bildung und der Kultur. Jeder Pfarrer ein Nachhilfelehrer in den klassischen Disziplinen wie in Hermann Hesses Unterm Rad. Doch auch bei Hesse zeigt sich natürlich schon die Kehrseite dieses strengen Protestantismus.

Das Pfarrhaus war und ist ein komplexer Ort, besonders auch für seine Bewohner. Und auch wenn die Tatsache, dass aus einer Kindheit im Pfarrhaus so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Angela Merkel und Gudrun Ensslin erwachsen können, noch nichts über jedes einzelne Pfarrhaus in diesem Land aussagt, zeigt es doch, wie auch Das weiße Band, dass die Perspektive der Kinder im Pfarrhaus zu beachten ist, versucht man zu verstehen, was es heißt, in ein solches Haus zu ziehen. Sie ist zu beachten, wenn darüber nachgedacht wird, ob es tatsächlich auch heute noch so eine Laterne braucht, die den Weg der deutschen Protestanten erleuchtet und so in die richtige Bahn lenkt.


Brennt noch Licht im Pfarrhaus?

Das fragte der Begleitband1 zur großen Ausstellung zur Kulturgeschichte des Pfarrhauses, die 2013 im Deutschen Historischen Museum stattfand. Brennt also noch Licht? Na klar, brennt noch Licht, davon kann sich jeder selbst überzeugen, indem er abends an einem der unzähligen deutschen Pfarrhäuser vorbeigeht. Und die Leserschaft des Deutscher Pfarrerblatts weiß das natürlich am besten. Trotz all der Abgesänge, die schon auf das Pfarrhaus angestimmt wurden, gibt es doch noch immer viele dieser ganz besonderen Häuser. Doch allein die Tatsache des brennenden Lichts sagt ja noch nichts darüber aus, ob das auch gut so ist. Und so ist die Debatte um die Zukunft des Pfarrhauses an sich noch lange nicht zu Ende. Besonders die vielbesprochene Generation Y, die diese Häuser mit ihren Familien in aktueller oder nächster Generation bewohnen soll, stellt sich die Frage, ob sie das überhaupt möchte. Ob sie nicht einfach das Licht im Pfarrhaus ausmacht. Zwar kann Katrin Hildenbrand in ihrer Studie »Leben in Pfarrhäusern«2 dieses Jahr noch festhalten, dass es für den Pfarrdienst nach wie vor konstitutiv ist, zugewiesenen Wohnraum zu beziehen, doch reicht ein Blick in den eigenen Bekanntenkreis, um festzustellen, dass tatsächliche Ausnahmen häufiger werden und der Wunsch nach Ausnahmen zunimmt.

In der Debatte um die Zukunft des Pfarrhauses scheint es jedoch meistens nur darum zu gehen, was denn eigentlich die Gemeinde vom Pfarrhaus hält, ob sie es braucht oder ob es ihr egal geworden ist. Oder auch darum, ob die Kirchenorganisationen dem Pfarrhaus noch eine Bedeutung zumessen oder wie es die Pfarrer und Pfarrerinnen selbst sehen. Ein Blickwinkel auf diese Frage scheint nicht mitbedacht und ist dennoch – wie die schon genannten Beispiele zeigen – wichtig: Was ist eigentlich mit den Menschen, die in diesen Häusern wohnen, ohne es sich ausgesucht zu haben? Mit denen, die gezwungen werden dort zu wohnen? Was ist mit all den Kindern der Pfarrer und Pfarrerinnen? Gerade auch mit Blick auf die Generation Y, die oftmals so beschrieben wird, dass für sie Privates also auch Familienleben im Zweifel wichtiger ist als Karriere, kann das Fehlen dieser Perspektive in Frage gestellt werden.

Zwei aktuelle Bücher großer Publikumsverlage geben darauf einen interessanten Ausblick. Janko Markleins »Florian Berg ist sterblich«3 und Benjamin von Stuckrad-Barres »Panikherz«4 erzählen beide die Geschichte eines Jungen, der im Pfarrhaus aufwachsen musste. Zwar können beide Bücher, Markleins Buch als Roman und Stuckrad-Barres Buch als Memoire, nicht als Tatsachenbeschreibung über das Leben im Pfarrhaus gelten, aber sie geben, da beide Autoren selbst im Pfarrhaus aufgewachsen sind, doch einen guten Einblick da hinein, wie es sich anfühlt.

Nach einer kurzen Darstellung, um was es beiden Büchern geht, möchte ich einen Ausblick wagen, was diese Beschreibungen über das Aufwachsen im Pfarrhaus für die Debatte um die Zukunft der Pfarrhäuser austragen können.


Janko Marklein: »Florian Berg ist sterblich«

Janko Marklein erzählt die Geschichte des Florian Berg, eines Sonderlings, der aus einer niedersächsischen Kleinstadt kommt und nun in Leipzig Philosophie studiert. In manchmal bis zur Einfältigkeit getriebener, einfacher Sprache wird in zwei Erzählsträngen vom Erwachsenwerden des Protagonisten berichtet. Während diese Sprache über weite Teile des Buches enervierend wirkt und sich der Leser schon fragt, was das alles soll, wird am Ende des Buches doch klar, dass die Einfältigkeit der Sprache in ihrer Gefühlslosigkeit liegt und dies, als Ausweis des Denkens Florian Bergs, gerade den Reiz dieses Romans ausmacht.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Florian Berg wächst als Sohn eines Pfarrehepaares in der Einöde auf. Er leidet zum einen unter seiner offensichtlichen Gefühlskälte und zum anderen an der emotionalen Unfähigkeit seiner Umgebung. Wobei sich beides gegenseitig bedingt. Ein Erzählstrang handelt von der Jugend. Florian gründet mit seinem besten Freund eine Jungenbande, die Verein genannt wird. Und fortan dreht sich alles um die Frage, wer dazu gehören darf und wer nicht, und wie das langweilige Leben auf dem Dorf durch den Verein aufregender oder nur noch trostloser wird. Der zweite Erzählstrang berichtet vom Versuch Florians in der Großstadt Leipzig anzukommen. Er hat sich in seine Kommilitonin Anna verliebt und unternimmt es nun sie zu erobern. Das gelingt ihm aber – auch wegen seiner Gefühlskälte – nur sehr bedingt. Gleichzeitig muss er sich gegen sehr aufdringliche Frauen zur Wehr setzen. Sowieso sind eigentlich alle weiblichen Charaktere des Buches noch unsympathischer und emotional verkümmerter als die männlichen. Auch im Dorf gab es so eine aufdringliche Frau, die Florian unter anderem zu seinem ersten Mal gezwungen hat. Die Geschichte endet mit einem Trip nach Chile, wohin Florian seiner Anna gefolgt ist, um sie vielleicht doch noch zu gewinnen. Das gelingt ihm jedoch nicht und damit ist das Buch zu Ende.

An dieser Stelle interessanter als die Geschichte, die durch die Nerdigkeit des Protagonisten trotz ihrer Einfältigkeit einen gewissen Reiz hat, ist jedoch die Darstellung seiner Jugend im Pfarrhaus. Beide Eltern bekleiden eine Pfarrstelle im Dorf. Der Vater ist für die Hochzeiten zuständig und die Mutter für Beerdigungen. Beide leiden offensichtlich unter dem emotionalen Stress, den das Pfarramt mit sich bringen kann, und schaffen es nicht, diesen aus ihrer Zweierbeziehung herauszuhalten. Die Ehe der beiden ist dementsprechend ständig kurz vor dem Ende und es scheint so, als ob nur fehlender Mut zur Entscheidung oder auch die vermeintliche Verpflichtung zur sittlichen Lebensführung sie noch von der Trennung abhält. Während der Erzähler kein einziges Mal ausführlicher über die Gefühlswelt Florian Bergs redet, lässt er Vater und Mutter Berg ständig über ihre Gefühle reden. Die Mutter erleidet auf Grund der hohen Anforderungen einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und der Vater spricht mit seinem Sohn mehrmals über seinen Wunsch, diesem elenden Leben ein Ende zu machen.

Florian hat als Pfarrerssohn einige Vorteile im Dorf. So bekommt er viele Informationen über das Dorfleben schneller als andere schon am Frühstückstisch oder er erhält von der örtlichen Waffelfabrik eine extra große Tüte mit Bruchwaffeln geschenkt. Die Nachteile scheinen aber zu überwiegen. Die Eltern sind immer irgendwie mit involviert. Auch bei den Dingen, bei denen man sie gerade als Jugendlicher nicht unbedingt dabeihaben möchte. Der Konfirmandenunterricht ist nur ein Beispiel dafür. Neben dieser Omnipräsenz der Eltern, die zwar nie richtig Zeit haben, aber auch nie richtig weg sind, ist es gerade der Umgang mit Gefühlen, der nach Marklein die Besonderheit des Lebens im Pfarrhaus ausmacht. Gefühlsäußerungen sind für den Pfarrerssohn immer da, entweder in Form von weinenden Menschen, die plötzlich im Flur des Hauses stehen, oder in Form von Berichten über die letzte Beerdigung, die die Mutter durchzuführen hatte, oder in Berichten des Vaters, der am Glauben verzweifelt und den garstigen Graben zwischen der Glaubenssicht auf die Welt und der Realität allzu deutlich wahrnimmt. Aber die Gefühle, die sich in den Vordergrund drängen, sind immer die Gefühle der anderen. Sie fordern so viel Platz, dass es für Florian Berg die logische Konsequenz ist, sich nicht mit der eigenen Gefühlswelt zu beschäftigen und auf die Flut der Gefühle der anderen nur noch mit Ignoranz zu reagieren. Das Aufwachsen im Pfarrhaus, so lässt sich der Roman lesen, führt zu emotionaler Abgestumpftheit und damit einhergehend auch zu ausbleibendem Interesse an Kirche und Religion. Gerade die Arbeitsbereiche der Eltern, Kirche und Religion, werden ja mit dem Zwang zur emotionalen Öffnung ­verbunden und sind so im höchsten Maße abschreckend.


Benjamin von Stuckrad-Barre: »Panikherz«

Im Gegensatz zu Marklein, der die eigenen Erfahrungen in einer fiktiven Geschichte verarbeitet, ist Stuckrad-Barres Buch eine autobiographische Erzählung, die als Memoire von einer Autobiographie dadurch unterschieden ist, dass sie nicht das ganze Leben des Autors erzählt, sondern nur einen Ausschnitt des Lebens bietet, der besondere Bedeutung hat. Stuckrad-Barre erzählt von seinem hohen Aufstieg als junger, sehr erfolgreicher Autor, der vielen bekannt sein dürfte. Sein Debüt Soloalbum hat sowohl als Buch als auch als Film Ende der 90er Jahre viele junge Menschen geprägt. Nach diesem hohen Aufstieg, den er selbst sehr jung erlebt hat – er ist Jahrgang 1975 – kam der Absturz in die Drogenabhängigkeit.

Auch hier ist die grobe Geschichte recht schnell erzählt: Sein Leben ist ein Auf und Ab zwischen dem erfolgreichen Autor und Liebling der Medien, also seinem öffentlichen Leben, und dem Misserfolg im Privatem, dem Drogensumpf und der Magersucht, die ihn, der innerlich ständig brennt und alles mit größtmöglichem Ehrgeiz und Größenwahn erleben und gestalten will, herunterziehen. Halt geben ihm nur zwei Dinge im Leben: seine Familie und Udo Lindenberg. Wobei die Familie nur zu Beginn und gegen Ende des Buches eine Rolle spielt, Udo Lindenberg dagegen, zumindest gefühlt, auf jeder der doch immerhin 564 Seiten vorkommt. Stuckrad-Barre findet in ihm als Sänger und Dichter den Halt, den er sich selbst nicht geben kann, und später auch als realen Freund eine Anlaufstelle, zu der er immer kommen kann, und bei dem er, ohne moralische Vorwürfe erwarten zu müssen, sicher ist. Die Familie, Pfarrersfamilie wie sie im Buche steht: vier Kinder, ein Sohn wird Arzt, einer Pfarrer, alle müssen klassische Instrumente lernen, Bildung wird groß geschrieben, auf ein soziales Miteinander wird großer Wert gelegt, es wird Bio-Müsli gegessen. Die ­Eltern sind auch hier zum einen sehr beschäftigt und zum anderen immer da und spielen auch dort eine Rolle, wo es sich kein Jugendlicher wünscht.

Stuckrad-Barre schreibt sehr unterhaltsam und gerade der erste Teil des Buches, in dem die Kindheit im Pfarrhaus beschrieben wird, ist für jeden Insider sehr lesenswert. Als kleines Beispiel die Erzählung vom Konfirmandenunterricht: »Als Sohn dieses bärtigen und als kommunistisch geltenden Pastors war ich nun schuld daran, dass sie das Vaterunser auswendig lernen mussten. Strafverschärfend betrieb meine Mutter den Kinderchor.«5 Viele Pfarrerskinder können hier sicher ein Lied davon singen.

Als zentrale Metapher für das Aufwachsen im Pfarrhaus erscheint bei Stuckrad-Barre jedoch das Läuten der Kirchenglocken. Es ist das Urgeräusch seiner Kindheit. Er schreibt: »Permanente Kirchturmglockenschläge, einmal um Viertel nach, zweimal um halb, dreimal um Viertel vor, viermal – plus, tiefer, Uhrzeitzahl – zur vollen Stunde, sowie das ausufernde Gebimmel um zwölf Uhr mittags und sechs Uhr abends, sonntags zehn vor zehn, um zum Gottesdienst zu ermahnen, und dann noch mal gegen fünf vor elf zum Vaterunser; außerdem bei Taufen, Hochzeiten und Todesfällen – es bimmelt also das ganze Leben durch.«6 Im späteren Leben, wenn er längst nicht mehr im Pfarrhaus lebt, ist das Läuten der Glocken für ihn immer Erinnerung an das Elternhaus und damit schließlich auch an das, was er Positives von dort mitbekommen hat.

Aber vor allem als die Familie noch auf dem Land lebt und das Pfarrhaus ein Open House ist, also eigentlich jeder unangemeldet vorbeikommen kann und seinen emotionalen Überhang im Flur oder sogar im Wohnzimmer des Hauses abladen darf, ist gerade das – »dauernd standen jammernde Christen im Treppenhaus«7 – eine prägende Erfahrung für ihn. Er beschreibt diese Situation und was sie in ihm auslöst, indem er sie mit seiner späteren Drogenabhängigkeit in Verbindung bringt. Lapidar heißt es: »Dauergabe führt zum Gewöhnungseffekt, um noch eine Wirkung zu erzielen, muss man die Dosis erhöhen.«8

Als das Leben im Pfarrhaus der ländlichen Kleinstadt nicht nur für die emotionale Entwicklung der Kinder gefährlich wird, sondern auch für Leib und Leben – der Vater wurde wegen politischem Engagements von der Dorfpresse verunglimpft und es landeten tatsächlich Morddrohungen im Briefkasten – zog die Familie in die Stadt, nach Göttingen. Damit war zwar die Härte noch nicht beendet, die es, unabhängig vom Leben im Pfarrhaus, bedeutet, ein Pfarrerskind zu sein. »Die berufsbedingt pathologische Hilfsbessenheit von Pastoren ist lobenswert, im Alltag aber doch lästig. Dauernd Obdachlosen, Afrika, der Umwelt und wemnichtalles helfen – dem eigenen Sohn aber ein BMX-Rad vorenthalten. Ich war nicht einverstanden.«9 Besonders sinnbildlich ist auch das »allmorgendlich als Showstopper und Extremdowner« betriebene Verlesen der Herrnhuter Losungen durch den Pfarrersvater. Deren Botschaft zwar »bibeltypisch immer irgendwie passend« ist, aber nicht unbedingt ins Schwarze der pubertären Frühstücksgedanken trifft, sondern im Gegenteil als »Der Herr aber sagt, ihr aber, die ihr; Jesus aber sprach; und ob ich schon wanderte im finstern Tal – immer düster, immer beladen, immer erst mal ›Aber‹!« wahrgenommen wird und die Abneigung gegen die komische Bibel ins Extrem zu steigern im Stande ist. Trotzdem besserte sich das Leben mit dem Umzug nach Göttingen. Von weinenden Gemeindegliedern und bettelnden Obdachlosen im Hausflur ist fortan nicht mehr die Rede. Die Anonymität des großstädtischen Pfarrhauses verringerte ganz offensichtlich die Frequenz solcher Besuche und damit auch den durch sie ausgelösten Leidensdruck auf die Kinder.

Als Benjamin von Stuckrad-Barre gegen Ende des Buches sein völlig verwahrlostes Leben in Hamburg beschreibt, ist es neben Udo Lindenberg seine Familie, die ihn, unaufgefordert, rettet. Sein Bruder zwingt ihn, mit ihm zu kommen und eine Zeit lang bei ihm zu wohnen, um den Entzug durchzustehen, seine Eltern bezahlen die völlig überzogene und für ihn selbst, der sein Vermögen durchgebracht hat, unbezahlbar gewordene Hotelrechnung. Die Hotelangestellten lassen sich, so scheint es, nur darauf ein, die Rechnung an die Eltern zu schicken, weil erwähnt wird, dass sie Pfarrer sind.

So hat ihm, Benjamin von Stuckrad-Barre, das Aufwachsen im Pfarrhaus zunächst all das als »Überdosis« gezeigt, was eigentlich gut ist: das Besinnen auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Nächstenliebe, emotional tiefgehende Beziehungen, gesellschaftliches Engagement, Familie. All das wird ihm zu dem, was er jetzt gerade nicht haben will, es erscheint ihm als langweilig und spießig und viel zu abwechslungslos und auch tiefsinnig. Nur die schöne, funkelnde und mitreißende Welt der Musikindustrie und der Medien, die er selbst als oberflächlich und gerade deswegen als so angenehm und erstrebenswert beschreibt, kann die Überdosis der Jugend irgendwie ausgleichen. So kommt schon hier zum Tragen, was auch später sein Leben bestimmen wird: Nach dem extremen Trip (Tiefsinnigkeitstrip) kommt der Entzug (Sinnentzug).

Auch hier lässt sich die Geschichte des Aufwachsens im Pfarrhaus so lesen, dass die Überfrachtung mit der Berufswelt der Eltern, die eben zugleich auch deren Lebenswelt ist, beim Sohn zu Abkehr und Widerwillen führt. Auch wenn Panikherz letztendlich positiv endet, indem der gealterte Stuckrad-Barre – er ist eigentlich erst 40, sein gefühltes Alter ist jedoch nach dem, was er alles erlebt und beschrieben hat, deutlich höher – seiner Familie dankbar dafür ist, dass sie ihn aus dem Dreck gezogen hat, und dies, zwischen den Zeilen, auch in Zusammenhang mit ihrem Glauben und dem entsprechenden Beruf bringt, lässt sich seine Jugend als abschreckendes Beispiel lesen. Außerdem sollte hier der Unterschied zwischen dem exponierten Kleinstadtpfarrhaus und dem relativ anonymen Großstadtpfarrhaus in Erinnerung ­bleiben.


Abschied vom »Sehnsuchtsort des Protestantismus«

Zwei Prosabände lassen uns Einblick nehmen in das Leben eines Kindes im Pfarrhaus der jüngsten Vergangenheit und beide malen ein eher düsteres Bild. Wer als Kind dermaßen intensiv mit der auf alle Bereiche des Lebens zugreifenden Berufswelt einer elterlichen Pfarrperson konfrontiert wird, wie es durch das Leben im Pfarrhaus nicht ausbleiben kann, bekommt ganz sicher irgendeine Art von Knacks. Wer also darüber nachdenkt, ob er seinem Kind ein solches Aufwachsen zumuten möchte, der wird durch die Lektüre doch zumindest nicht darin bestärkt, es einfach mal darauf ankommen zu lassen. Es müsste schon sehr erhebliche Gründe dafür geben, dass die Familie des Pfarrers oder der Pfarrerin im Pfarrhaus leben sollte, um die anhand der beiden Bücher herausgeschälten Probleme nicht zur Geltung kommen zu lassen. Aber gibt es die?

Hier sei noch einmal auf die oben schon erwähnte Studie von Katrin Hildenbrand verwiesen. Sie kommt am Ende ihrer Untersuchung – sie versucht die Diskussion um das Pfarrhaus sowohl historisch als auch gesellschaftlich zu umreißen, um auf Schwierigkeiten und Chancen des Pfarrhauses hinzuweisen – zu dem Schluss, dass bei einer realistischen Sichtweise, die frei von Nostalgie und mit Mut auf die Zukunft des Pfarr­hauses blickt, gesagt werden kann, dass »die Belastungen des Pfarrhaus-Lebens kaum mehr in rechter Balance zu den Vorteilen desselben stehen.«10 Es kann, im Anschluss an Hildenbrand11, nicht darum gehen am Pfarrhaus als vermeintlichem Sehnsuchtsort des Protestantismus festzuhalten, weil sich doch so schöne Mythen darum ranken. Das ist Nostalgie und kein mutiger Blick nach vorne. Ein mutiger Blick auf die Zukunft der Pfarrhäuser aber, der neben dem Nutzen als Wohn- und Arbeitshaus für die Pfarrerschaft auch alternative, der Gemeinde nützliche Konzepte vorsieht, wird dazu führen, dass ein Ende dieser klassischen Lebensform der Pfarrfamilie nicht als »Verlustgeschichte« gelesen werden muss, sondern im Gegenteil als Gewinngeschichte, die auch den Nachwuchs von Pfarrern und Pfarrerinnen den einzigen erstrebenswerten Weg in das Leben als mündiges Geschöpf Gottes gehen lässt, nämlich den in freier, selbstgewählter Hinwendung zu einem religiösen Leben oder eben in Abwendung davon. Ein Leben, besonders im Open House auf dem Lande oder in der Kleinstadt, scheint aber im Gegenteil das kindliche Leben dermaßen mit Kirche und Glaube und deren Seitenerscheinungen zu überfrachten, dass eine biographische Entwicklung wie bei Benjamin von Stuckrad-Barre, wenn zwar nicht vorgezeichnet, dann aber zumindest impliziert ist.

Nun kann natürlich eingewendet werden: Es gibt doch auch das Gegenteil, also die Pfarrerskinder, die selbst in den Pfarrberuf streben. Nicht zuletzt Stuckrad-Barres Geschichte selbst zeigt das ja anhand des Bruders, der Pfarrer geworden ist. Diesen Einwänden kann aber wiederum entgegnet werden, dass das nun nicht unbedingt für die Strahlkraft oder gar die Missionsstärke des Pfarrhauses sprechen muss, sondern vielmehr für die Kraft der Botschaft selbst, die ja bei aller weltlichen Verwicklung noch hinter dem Pfarrer und seiner Arbeit steht. Genauer gesagt: Dass diese Pfarrerskinder selbst in den Beruf streben, tun sie nicht wegen, sondern trotz des Aufwachsens im Pfarrhaus. So ist es fast unmöglich einen Pfarrer oder eine Pfarrerin zu treffen, die selbst im Pfarrhaus aufgewachsen ist und sagen würde: »Ja. Das wollte ich auch!« Im Gegenteil ist es immer ein: »Ich wollte eigentlich nie. Aber dann habe ich angefangen, Theologie zu studieren …« Die Tatsache, dass es so viele Pfarrerdynastien gibt, spricht also sehr wohl für die gängige These, dass nicht aufgehört werden darf, den Kindern die Religion näher zu bringen und sie mit deren Botschaften vertraut zu machen. Sie spricht aber nicht dafür, dass gerade Pfarrhäuser ein besonders fruchtbarer Boden für das Erwachsen einer religiösen Biographie sind. Die gezeigten Beispiele scheinen dem eher zu widersprechen.

Wenn die kommende Generation von Pfarrern und Pfarrerinnen also lieber das Licht im Pfarrhaus ausschalten möchte, dann könnte diese Entscheidung – anhand der hier vorgestellten Überlegungen – nicht als egoistischer Akt und traditionsvergessenes Todesstoßversetzen einer ohnehin selbstbezogenen Generation angesehen werden, sondern vielmehr als Chance begriffen werden, eine überkommene Lebensform mitsamt ­ihren negativen Seitenerscheinungen abzuschaffen.


Anmerkungen:

1 Bodo-Michael Baumunk u.a. (Hg.): Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses, Verlag Kettler Bönen 2014.

2 Katrin Hildenbrand: Leben in Pfarrhäusern. Zur Transformation einer protestantischen Lebensform, Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2016.

3 Janko Marklein: Florian Berg ist sterblich, Blumenbar/Aufbau Verlag Berlin 2015.

4 Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz, Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2016.

5 Stuckrad-Barre, 16.

6 Stuckrad-Barre, 19f.

7 Stuckrad-Barre, 19.

8 Stuckrad-Barre, 20.

9 Stuckrad-Barre, 49.

10 Hildenbrand, 298.

11 Vgl. Hildenbrand, 299f.

 

Über die Autorin / den Autor:

WM Konstantin Sacher, nach Vikariat und 2. Theol. Examen Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evang. Theologie, Fachbereich Syst. Theologie und Ethik, der Universität Gießen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2016

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