Die Nachrichten über Verfolgung religiöser Minderheiten nehmen zu. Insbesondere aus muslimischen Ländern gibt es bedrängende Beispiele wie etwa den Fall der sudanesischen Ärztin Meriam Ibrahim, den Christof Sauer in seinem Beitrag eingehend analysiert. Darüber hinaus thematisiert er, wie Kirchen mit diesen Herausforderungen umgehen sollen, und deutet an, welches Reflexionsfeld sich hier für eine interdisziplinär aufgestellte akademische Theologie auftut.1


Am 15. Mai 2014 wurde die 27-jährige Ärztin Dr. Meriam Yehya Ibrahim Ishag in Khartum zum Tode verurteilt. Der hochschwangeren Frau wurde »Abfall vom Islam« vorgeworfen. Das Urteil führte im Sudan selbst, wie auch international zu großer Empörung und Verurteilung durch Politiker, Kirchenvertreter und Zivilgesellschaft. Sogar die Medien waren verhältnismäßig stark interessiert. Was sind die Hintergründe dieses Falles? Darf Glaubenswechsel überhaupt unter Strafe gestellt werden? Wie sind kirchliche Vertreter damit umgegangen? Im Folgenden gehe ich diesen und weiteren Fragen in vier Schritten nach: Ich entfalte erstens am Beispiel dieser Situation aus dem Sudan einige Dynamiken von Diskriminierung und Verfolgung von Christen und kommentiere analytisch. Zweitens frage ich nach den Reaktionen im Umgang mit Diskriminierung und Verfolgung kirchlicherseits sowie nach Desideraten in diesem Zusammenhang. Drittens gebe ich Hinweise zur Verortung des Themas Diskriminierung und Verfolgung in der wissenschaftlichen Theologie. Und viertens mündet dies schließlich in exemplarische theologische Reflexionen.


1. Diskriminierung und Verfolgung von Christen

1.1 Der Fall Dr. Meriam Ibrahim

Nach der ersten Verkündung des Todesurteils am 11. Mai wurde Frau Dr. Meriam Ibrahim vor die Wahl gestellt: »Entweder Sie sagen innerhalb von drei Tagen ihrem christlichen Glauben ab und kehren zum Islam zurück oder das Urteil bleibt aufrechterhalten.« Auf entsprechende Überredungsversuche antwortete sie dem Richter: »Ich bin eine Christin und kann deshalb nicht des Abfalls vom Islam schuldig sein.«

Diese Antwort ist auch aus theologischer Sicht beachtenswert. Dr. Ibrahim hält an ihrem Glauben fest. Laut Amnesty International wurden seit 1991 im Sudan keine der unter dem Apostasievorwurf zum Tode Verurteilten tatsächlich hingerichtet, da sie allesamt zuvor widerriefen.


Wieso wurde Dr. Ibrahim des Abfalls vom Islam für schuldig befunden und warum bestreitet sie das?

Dr. Ibrahims Vater war ein sudanesischer Muslim. Daher betrachtet das Gericht seine Tochter nach islamischem Familienrecht aufgrund ihrer Abstammung als Muslima. Dagegen Dr. Ibrahim: »Mein Vater hat uns im Flüchtlingslager im Südost-Sudan verlassen, als ich 6 Jahre alt war. Meine äthiopische Mutter hat mich seither im christlichen Glauben erzogen.« Der Richter befindet, dass sie als Muslima Apostasie begangen habe, also vom Islam abgefallen sei, erstens durch ihre Heirat mit einem Christen,2 und zweitens durch ihre Behauptung vor Gericht, Christin zu sein. Als Maßstab dient Art. 126 des Strafgesetzes. Er besagt sinngemäß: Wer in Wort oder Tat den Islam ableugnet, ist der Apostasie schuldig. Auf Apostasie steht die Todesstrafe, wenn der Angeklagte nicht nach einer Reuefrist oder zumindest vor Vollstreckung der Strafe zum Islam zurückkehrt.

Allerdings übersah der Richter, so die Kritik des Sudanesischen Kirchenrates,3 dass dieser Artikel gegen die vorrangige4 »Übergangs-Verfassung« von 2005 verstößt, insbesondere gegen die in Art. 38 der Verfassung verankerte Religionsfreiheit. Dort steht unter dem Titel »Freedom of Creed and Worship«:

Every person shall have the right to the freedom of religious creed and worship, and to declare his/her religion or creed and manifest the same, by way of worship, education, practice or performance of rites or ceremonies, subject to requirements of law and public order; no person shall be coerced to adopt such faith, that he/she does not believe in, nor to practice rites or services to which he/she does not voluntarily consent.5

Es besteht offensichtlich eine Spannung zwischen der überwiegend von internationalen Konventionen geprägten Verfassung und dem Strafrecht bzw. seiner Anwendung. Die Lage wird dadurch noch komplizierter, dass die Verfassung wiederum die Scharia voraussetzt. In vielen mehrheitlich muslimischen Ländern stehen Verfassung und Rechtsprechung ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Scharia-Konformität.


Was ist die Hauptkritik an dem Gerichtsverfahren an sich?

Das Urteil steht und fällt mit der Frage, ob es korrekt ist, Dr. Ibrahim aufgrund ihrer Geburt als Muslima zu betrachten. An der Heiratsurkunde der Frau, nach der die Meldebehörden die Frau als Christin führen, war das Gericht nicht interessiert, ebensowenig an den von ihren Rechtsanwälten bestellten Zeugen, die ihr christliches Leben und ihre Eheschließung in einer Kirche im Dezember 2011 hätten bezeugen können. Vielmehr gründete es sein Urteil hauptsächlich auf die Aussagen der Zeugen der Anklage. Diese gaben sich als Brüder und Mutter von Dr. Ibrahim aus. Dagegen die Rechtsvertreter von Dr. Ibrahim: »Wir können nachweisen, dass die Mutter von Meriam im Jahr 2012 verstorben ist, und dass die angeblichen Brüder lügen. Doch das Gericht war an unserem Beweismaterial nicht interessiert.« Diese Zeugen haben sich untereinander widersprochen und selbst einfachste Fragen nicht beantworten können.

Dies führt zu dem Eindruck, dass das Gericht voreingenommen war. Im Kontext von Verfolgung sind vielfach ein Missbrauch von Gesetzen und eine Beugung des Rechts zu beobachten. Möglicherweise ist auch Korruption im Spiel. Transparency International gab dem Sudan auf dem Index über »Korruption im Öffentlichen Leben« für das Jahr 2013 eine Tiefstnote von 11 aus 100 Punkten, womit es auf dem viertletzten Platz unter 177 Ländern landet.6 In manchen Fällen ist Korruption auch die Primärursache für Verfolgung.


Wie war es überhaupt zur Anklage gekommen?

Die angeblichen Brüder von Dr. Ibrahim hatten das Ehepaar im August 2013 wegen Ehebruch angezeigt, da nach islamischem Recht eine Muslima keinen Christen heiraten darf. Das Ehepaar wurde verhaftet und auf Kaution wieder freigelassen. Später fügten die Ankläger den Vorwurf der Apostasie hinzu, was schließlich im Februar 2014 zur erneuten Verhaftung von Dr. Ibrahim mit nachfolgender sechsmonatiger Untersuchungshaft führte. Ihr inzwischen 20 Monate alter Sohn wurde mit ihr inhaftiert, da er als Muslim betrachtet wird, und daher seinem christlichen Vater kein Sorgerecht zusteht.

Gegenüber den internationalen Medien machte einer der Ankläger die Familienehre geltend, die sie zu beschützen hätten. Dabei ist allerdings interessant zu wissen, dass Dr. Ibrahim nicht nur eine promovierte, praktizierende Ärztin, sondern zugleich eine erfolgreiche Geschäftsfrau ist und einen Friseursalon, einen Laden in einem Einkaufszentrum sowie ein landwirtschaftliches Projekt besitzt. Das Verhalten der angeblichen Verwandten sowie ihre Aussagen vor den Medien bestärkten den Verdacht, dass sie sich vor allem des Besitzes von Dr. Ibrahim bemächtigen wollten.

Dies illustriert, dass religiöse Verfolgung nicht nur auf staatlichen Repressalien beruht, sondern ebenfalls in Feindseligkeiten aus den Reihen der Zivilgesellschaft ihren Ursprung haben kann. Und oft verstärken sich diese beiden Faktoren noch gegenseitig – ein Teufelskreis, den der Forscher Brian Grim mit soziologischen Methoden nachgewiesen hat.7


Was geschah nach der Verurteilung von Dr. Ibrahim?

Zwölf Tage nach dem Urteil gebar Dr. Ibrahim im Frauengefängnis in Omdurman eine Tochter.8 Nach geltendem Recht wird die Vollstreckung eines Todesurteils an einer stillenden Mutter für zwei Jahre ausgesetzt.9 Gegen das Urteil legten ihre Rechtsvertreter Revision ein.10 Am 23. Juni ordnete das Appellationsgericht überraschend die Freilassung von Dr. Ibrahim an. Soweit ich es verstehe, wurde das Urteil nicht inhaltlich widerrufen, sondern die Freilassung aufgrund von Verfahrensfehlern angeordnet. Der Sudan hatte internationalen Druck in einem ihm bislang unbekannten Maß erfahren. Der angebliche Bruder von Dr. Ibrahim behauptete gegenüber CNN, nachdem das Gericht versagt habe, müsse nun die Familie die »notwendigen Schritte« unternehmen, um ihre Ehre wiederherzustellen.

Die Frage der Ehre und darauf basierende Selbstjustiz sind häufige Elemente in entsprechend orientierten Gesellschaften, z.B. in Pakistan, wo von Blasphemievorwürfen Freigesprochene häufig schon am Ausgang des Gerichtsgebäudes vom Mob umgebracht werden. Als die vierköpfige Familie einen Tag nach Freilassung von Dr. Ibrahim versuchte, in die USA auszureisen, wurde sie von der Staatssicherheit an der Ausreise und wegen angeblicher Dokumentenfälschung festgehalten. Nach weiteren diplomatischen Auseinandersetzungen – der Ehemann Daniel Wani ist sowohl südsudanesischer als auch US-Staatsbürger – wurde die Familie nach zwei Tagen auf Kaution entlassen unter der Auflage, das Land nicht zu verlassen. Tags darauf haben sie aufgrund von Todesdrohungen und Protesten auf der Straße vor ihrem Haus in der US-Botschaft Zuflucht gesucht.

Kommentatoren interpretieren die Ausreisebehinderung als den Versuch der sudanesischen Regierung, nach der juristischen Niederlage ihr Gesicht zu wahren und die Kontrolle über den Fall wiederzuerlangen, indem sie Dr. Ibrahim nur zu ihren eigenen Bedingungen ausreisen lassen. Am 24. Juli 2014 wurde der Familie überraschend die Ausreise nach Italien gestattet. Sie leben nun bei Verwandten in den USA.


1.2 Zur Lage im Sudan

Der Fall von Dr. Ibrahim fügt sich nach Meinung eines BBC-Kommentators in ein wiederkehrendes Muster im Sudan ein. Nach Ansicht der Sudan Democracy First Group dient die Androhung der Todesstrafe dazu, politische Gegner einzuschüchtern und ihren Handlungsspielraum zu beschneiden. Derart harte Strafen würden hauptsächlich gegen Sudanesen verhängt, die für Nicht-Araber gehalten werden und die aus armen Verhältnissen stammen.

Nach Jahrzehnten der versuchten Islamisierung des überwiegend animistischen und christlichen Südens durch die arabisch-stämmige islamische Regierung und des damit einhergehenden Bürgerkrieges spaltete sich die Bevölkerung des Südsudan im Jahr 2011 ab. Der (nord)sudanesische Präsident Al-Bashir ist der einzige amtierende Präsident, gegen den zwei internationale Haftbefehle des Internationalen Gerichtshofs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Er sagte bei einer Rede im November 2012, dass der Nordsudan zu 100% muslimisch werden solle. Seither geht er massiv gegen die Kirche im Sudan vor: Er bereitet ihrer nach außen gerichteten Tätigkeit ein Ende, wies inzwischen die Großzahl ausländischer Mitarbeiter christlicher Organisationen und Kirchen aus,11 verweigert leitenden kirchlichen Mitarbeitern, die ursprünglich aus dem Süden stammen, den weiteren Aufenthalt im Nordsudan, beschlagnahmt Kirchengrund und lässt wiederholt Kirchen zerstören.12 Konvertiten aus dem Islam sind besonders hart betroffen.

Im Allgemeinen ist es notwendig zu differenzieren, welche christlichen Gruppen in einem Land jeweils von Diskriminierung und Verfolgung betroffen sind: alte angestammte Kirchen oder jüngere Gruppen, ausländische oder einheimische Christen, Konvertiten aus der Mehrheitsbevölkerung, von der Regierung kontrollierte oder andere Kirchen, introvertierte oder missionarisch aktive Gruppen. Im Sudan sind alle Christen betroffen.


1.3 Einige Elemente der Diskriminierung und Verfolgung von Christen


Werfen wir einen Blick auf den internationalen Kontext:

Apostasie- und Blasphemiegesetze

Derzeit ist in ungefähr 10 Ländern der Abfall vom Islam oder auch das Verächtlichmachen des Islam illegal und wird mit der Todesstrafe geahndet. Die Todesstrafe wird aber in manchen Ländern seit vielen Jahren in der Praxis nicht ausgeführt. In weiteren 16 Ländern wird dieser Sachverhalt mit einer oder mehreren der folgenden Strafen belegt: Gefängnis, Folter, Verlust des Fürsorgerechts für Kinder, Annullierung der Ehe oder Enterbung. In zwei Ländern wird die entsprechende Gesetzgebung nur in bestimmten Gebieten oder bei bestimmten Bevölkerungsgruppen angewandt. In weiteren Ländern wird Abfall vom Islam oder Blasphemie (im Blick auf den Islam) nicht von staatlicher Seite bestraft und in manchen herrscht sogar offiziell Religionsfreiheit, doch es kann überall vorkommen, dass die Familie oder andere Menschen vor Ort die Dinge selbst in die Hand nehmen und islamische Apostasiegesetze und Blasphemiegesetze anwenden. Dies gilt auch in den anderen oben genannten Ländern.13

Heutige islamische Rechtsgelehrte unterscheiden sich zwar durch gewisse Nuancen in ihrer Einstellung zum Strafmaß für den Abfall vom Islam, jedoch nur eine kleine Minderheit ist der Meinung, man solle Gott die Bestrafung im Jenseits überlassen. Nur sehr wenige fordern die Abschaffung von Apostasiegesetzen.14

Auch Antikonversions-Gesetze (beispielsweise in Indien) zielen auf die Verhinderung von Glaubenswechsel im Sinne eines Abfalls von der Mehrheitsreligion.


Tod um des Glaubens willen

Von der Todesstrafe um des bloßen Christseins willen oder von todbringender Zwangsarbeit im Arbeitslager sind Christen in Nordkorea bedroht, sofern sie nicht zu einer Handvoll kleiner, staatlich installierter Vorzeigekirchen in der Hauptstadt gehören. Nordkorea ist das Land, das bei weitem am grausamsten und systematischsten gegen jegliche Abweichung von der Staatsideologie und insbesondere gegen Christen vorgeht.15

Über die Hälfte der registrierten Fälle, in denen Christen im Zusammenhang mit ihrem Glauben ihr Leben verlieren, ereignen sich allerdings derzeit in Nigeria.


Glaubenswechsel als Bestandteil der Religionsfreiheit

Zum Stichwort Glaubenswechsel ist daran zu erinnern, dass er elementarer Bestandteil der Religionsfreiheit ist. Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert ausdrücklich die Freiheit, »seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln«. Der UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Gewissensfreiheit, Prof. Heiner Bielefeldt, unterscheidet und entfaltet dabei vier Komponenten: das Recht auf aktiven Glaubenswechsel, das Recht, nicht zum Glaubenswechsel gezwungen zu werden, das Recht, andere durch zwangsfreie Überzeugungsarbeit zur Konversion zu bewegen, und das Recht von Eltern, die religiöse Prägung ihrer Kinder frei zu wählen, verbunden mit dem Recht von Kindern, im Maß ihrer wachsenden Erkenntnisfähigkeit ihren Glauben selbst zu bestimmen. Der Staat soll diese Freiheitsrechte nicht beschränken oder verletzen und seine Bürger vor Verletzung dieser Rechte durch Dritte schützen.16 Bis auf die religiöse Überzeugungsarbeit sind im Fall von Dr. Ibrahim alle diese Aspekte äußerst relevant.


2. Zum kirchlichen Umgang mit Diskriminierung und Verfolgung

Der Fall von Dr. Ibrahim hat die größte Empörung im eigenen Land hervorgerufen, denn die Bevölkerung wird zunehmend unzufrieden mit der unterdrückerischen Allianz von Islamismus und Despotismus. Im Ausland führte der Fall zu Entsetzen. Das reichte von Stellungnahmen afrikanischer Frauenorganisationen und Demokratiebewegungen bis hin zu Protestnoten von Außenministern und Staatsoberhäuptern in der westlichen Welt. Es führte ebenso zu Demonstrationen und verschiedenen internationalen Petitionen: die führende Online-Petition mit einer Million Unterschriften, eine andere von Amnesty International mit einer Viertelmillion. Im Rahmen dieses Beitrags interessieren jedoch besonders die kirchlichen Reaktionen.


2.1 Kirchliche Reaktionen im Fall Dr. Ibrahim

Aus der Fülle kirchlicher Reaktionen greife ich einige sudanesische und deutsche heraus. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten die Kirchen des Sudan am 23. Mai das Todesurteil gegen Dr. Ibrahim. Man halte die Anklage gegen sie für falsch und fordere von den Behörden eine Revision des Urteils und die Freilassung der Verurteilten. Am 2. Juni meldete der Fides Nachrichtendienst, der Sudanese Council of Churches habe den Vorfall als einen Akt der »eindeutigen und direkten Verfolgung von Christen im Sudan« bezeichnet. Das Urteil verstoße gegen Art. 31 und 38 der provisorischen Verfassung. Sie unterstreichen auch, dass der Sudan zu den Unterzeichnern der internationalen Menschenrechtscharta gehört, die Kult- und Gewissensfreiheit festschreibt.

Von Seiten der EKD kritisierte zunächst deren Sudan-Beauftragter, Volker Faigle, in einem Schreiben an die Botschaft der Republik Sudan vom 19. Mai den Vorgang aufs Schärfste und appellierte an die sudanesische Regierung, die Todesstrafe für die Christin auszusetzen und grundsätzlich die Todesstrafe abzuschaffen. Zugleich bat er den Beauftragten für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe der Bundesregierung, sich in geeigneter Weise dafür einzusetzen, eine Revision des Todesurteils zu erreichen. In der EKD-Pressemeldung meint Faigle: »Es gibt für die christlichen Kirchen keine Alternative zum Eintreten für die Religionsfreiheit. Solche Verletzungen der Menschenrechte zerstören alle Grundlagen eines friedlichen und vertrauensvollen Zusammen­lebens.«

Vom 16. bis 21. Juni besuchte dann – eigentlich aus anderem Anlass – eine Delegation der EKD unter Leitung des damaligen Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider, Christinnen und Christen im Südsudan und Sudan. Bei Gesprächen im sudanesischen Khartum hat sich die Delegation für Dr. lbrahim eingesetzt. Außerdem wurden mit dem Kirchenrat im Sudan die Auswirkungen der zunehmend eingeschränkten Religionsfreiheit in einem sich weiterhin islamisierenden Land an vielen konkreten Beispielen thematisiert.

Eine weitaus größere Binnenwirkung in Deutschland entfaltete aber eine andere Intervention. Bereits am 9. Juni hatte der Hannoversche Landesbischof Meister die Hälfte seiner Pfingstpredigt im Fernsehgottesdienst der ARD17 genutzt, um mit Bezug auf diesen Fall vor einem Millionenpublikum grundsätzlich zu Verfolgung Stellung zu nehmen: »Sprechen, nein schreien wir, für die 100 Millionen Christinnen und Christen weltweit, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden … wir müssen als christliche Kirchen lauter und vernehmbarer für die Religionsfreiheit eintreten.«

Bischof Meister forderte zu drei Haltungen auf: 1. aufmerksam zu bleiben und »die Augen nicht vor der Verfolgung unserer Glaubensgeschwister in anderen Ländern [zu] verschließen«, 2. die eigene Toleranz nicht an der Intoleranz anderer zu messen und 3. für und mit bedrängten Christen zu beten. Kennzeichnend ist seine Hervorhebung des christlichen Propriums: »Wenn nicht wir, wer dann?«18


2.2 Wie sollen Kirchen mit Diskriminierung und Verfolgung von Christen umgehen?

Die oben genannten Beispiele zeigen auf sudanesischer Seite öffentliches, gemeinsames, interkonfessionelles Eintreten von Christen für die Betroffenen gegenüber der Regierung und Berufung auf verfassungsmäßige Rechte und internationale Konventionen. Die Beispiele aus dem Raum der EKD verdeutlichen ebenfalls politische Intervention und zwar bei Vertretern der fremden und der eigenen Regierung unter Berufung auf Religionsfreiheit als Menschenrecht. Hinzu kamen Solidaritätsbesuche bei den betroffenen ökumenischen Partnern und schließlich, im Blick auf die eigene Kirche, die Information und das Bewusstmachen, die Betonung christlicher Solidarität, die Verdeutlichung christlicher Maßstäbe und Prioritäten sowie die Betonung des Gebets.

Im Zusammenhang mit Verfolgung ist die Deutungshoheit ein umkämpftes Gut. Verfolger unternehmen in der Regel vieles, um ihre Taten zu verschleiern oder anderweitig zu legitimieren sowie die Opfer zu diskreditieren. Daher ist eine Deutung der Vorgänge aus der Perspektive der Opfer von großer Wichtigkeit.

Welche Maßstäbe sollen gelten für kirchliche Handlungsfelder im Blick auf Verfolgung von Christen? Wichtig ist mir, dass Kirchen besonders auf das Wert legen, was nur Christen beitragen können, im Unterschied zu Politikern und Akteuren der Zivilgesellschaft, nämlich Gebet und eine christlich-theologische Deutung der Zusammenhänge über menschenrechtliche Perspektiven hinaus. Etwas von dem, was mir wichtig ist, möchte ich vorstellen in 20 Thesen zum Umgang mit Diskriminierung, Verfolgung und Martyrium. Es geht dabei um hermeneutische Grundlagen und um die kirchliche Praxis nach innen sowie nach außen.


2.2.1 Hermeneutische Grundlagen

1. Ein von biblischen Texten informiertes Verständnis von Leiden, Bedrängnis, Verfolgung und Martyrium liegt nach meiner Meinung ziemlich konträr zu vorherrschenden Grundeinstellungen und Weltsichten in der Bundesrepublik Deutschland.

2. Es ist notwendig, eine angemessene Verhältnisbestimmung zwischen allgemeinem menschlichen Leiden, an dem Christen teilhaben, und dem Leiden um Christi willen zu finden. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen deutlich benannt werden. Aufgrund der Unterschiede sind auch die jeweils angemessenen Reaktionen darauf zu differenzieren.

3. Eine theologische Deutung von Bedrängnis, Verfolgung und Martyrium ist die leitende Perspektive für Christen in der innerchristlichen Deutung.

4. Die Wahl von Begrifflichkeiten zur Bezeichnung der Phänomene Diskriminierung, Verfolgung und Martyrium ist umstritten, sowohl im Blick auf den innerchristlichen wie auch den gesellschaftlichen Diskurs.

5. Eine angemessene theologische Deutung von Diskriminierung, Verfolgung und Martyrium bei der Wahrnehmung einer partikularen Situation geschieht auf dem Hintergrund einer möglichst umfassenden Gesamtschau der Phänomene.

6. Die Begriffe »Bedrängnis« und »Verfolgung« eignen sich m.E. sowohl einzeln wie auch gepaart als Sammelbegriffe, um aus der Sicht des Glaubens das Gesamtphänomen des Leidens von Christen um ihres Glaubens willen zu bezeichnen. In der Kommunikation nach außen eignet sich »Diskriminierung« besser als der theologisch gefüllte Begriff »Bedrängnis«.

7. Verfolgung als umfassender Begriff ist auch umfassend zu definieren, sodass er zur Beschreibung einer epochenübergreifenden theologischen Realität unterschiedlichster Intensitätsgrade brauchbar ist.

8. Ebenso ist eine genuin christliche Deutung des Martyriums von Christen – angesichts übermächtiger konkurrierender Deutungen – sowohl innerkirchlich, als auch in der Öffentlichkeit nötig.


2.2.2 Zur kirchlichen Praxis nach innen

9. Christliches und kirchliches Engagement angesichts von Bedrängnis, Verfolgung und Martyrium orientiert sich zunächst doxologisch und bringt die Souveränität Gottes ins Blickfeld. Weiter zielt es auf die Verkündigung des Evangeliums und die Ausbreitung des Reiches Gottes. Schließlich zeichnet es sich zuallererst durch ein genuin christliches Proprium aus.

10. Ein christliches Engagement für Verfolgte schließt Feindbilder jedweder Art aus, kann aber durchaus mit Apologetik verbunden sein.

11. Es ist für Christen legitim, im Engagement für Verfolgte den »Glaubensgenossen« Priorität einzuräumen wenngleich es geboten ist, sich ebenfalls für die Religionsfreiheit von Nichtchristen einzusetzen.

12. Das Eintreten für verfolgte Christen heute und an anderen Orten verbindet sich organisch mit einer Vergegenwärtigung und Bewältigung der eigenen Geschichte.19

13. Was in der liturgischen Praxis der Kirche vorkommt, spiegelt den Kernbestand des Glaubens. Deshalb brauchen Kreuzesnachfolge und die Solidarität mit den Bedrängten eine Verankerung in der liturgischen Praxis. Gedenk- und Gebetstage für bedrängte und verfolgte Christen, die gottesdienstliche Predigt sowie das Fürbittengebet sind wesentliche Orte dafür.

14. Das Gebet ist die erste christliche Reaktion auf Bedrängnis und Verfolgung sowie auf Nachrichten über dieselben. Es kann durch nichts anderes ersetzt werden.


2.2.3 Zur kirchlichen Praxis nach außen

15. Das Recht auf Religionsfreiheit ist als ein herausragendes und primäres Menschenrecht zu verteidigen.

16. Dazu gehört ganz wesentlich das Recht darauf, die eigenen Glaubensüberzeugungen zu verbreiten, sowie das Recht darauf, andere davon zu überzeugen.

17. Das kirchliche Engagement für Religionsfreiheit und Menschenrechte geht Hand in Hand mit einer geistlich begründeten Anteilnahme an den Leiden des Leibes Christi in der Welt und der eigenen Bereitschaft zum Leiden für Christus. Im Engagement für bedrängte Christen verbinden sich also geistliches und menschenrechtliches Engagement.

18. Im Einsatz für bedrängte und verfolgte Christen achten die Engagierten zugunsten der Betroffenen und der Sache auf ein gutes Verhältnis untereinander.

19. Die legitimen Interventionsmethoden für bedrängte und verfolgte Christen sind vielfältig. Es muss sorgsam abgewogen werden, welche Methoden im jeweiligen Fall angemessen und insbesondere für die Kirche als Akteur angesagt sind und wozu andere Akteure motiviert werden könnten.

20. Wer sich für die Religionsfreiheit von Christen einsetzt, tut das auch für Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen, denn Religionsfreiheit ist unteilbar.


3. Die Verortung von »Diskriminierung« und »Verfolgung« in der wissenschaftlichen Theologie

Die Begriffe »Diskriminierung« und »Verfolgung« benennen eine komplexe Realität, die eigentlich nur interdisziplinär erforscht werden kann. Viele Wissenschaftsdisziplinen können Wesentliches dazu beitragen, eben auch die wissenschaftliche Theologie, insbesondere das Fach Religions- und Missionswissenschaft/Interkulturelle Theologie. Ich bündle in drei Kreisen: philosophisch-rechtliche Grundlagen, empirische und historische Forschung, theologische Reflexion.


3.1. Philosophisch-rechtliche Grundlagen

Wie wir gesehen haben, ist es äußerst wichtig, Definitionen und philosophische Fragen zu klären. Was bedeutet Religionsfreiheit? Wie verstehen wir Verfolgung? Welche Begriffe sind in welchem Kontext angemessen? Hier sind u.a. Hermeneutik und Fundamentaltheologie gefragt. Zur Vorbereitung einer internationalen Weltkirchenkonferenz des Global Christian Forum erarbeite ich derzeit das Konzept für ein ökumenisches Glossar der gebräuchlichen Terminologie, das akzeptierte und verworfene Begriffe zur besagten Thematik sammelt, einschließlich ihrer Füllung durch die verschiedenen Akteure in den verschiedenen Kontexten.

Wie die internationalen Konventionen hinsichtlich der Religionsfreiheit als Menschenrecht aussehen, erforscht u.a. die Disziplin Staatskirchenrecht.


3.2 Empirische und historische Forschung

Wo und in welchem Umfang werden heutzutage Christen in aller Welt diskriminiert oder verfolgt? Hier ist interdisziplinäre empirische Forschung gefragt. Die interkulturelle Ausrichtung des Faches Missionswissenschaft/Interkulturelle Theologie macht dieses zu einem der möglichen Orte dafür.

Insbesondere kann die Missionswissenschaft zur Klärung folgender Fragen beitragen: In welchem Zusammenhang stehen Christsein, christlicher Dienst, Glaubensweitergabe oder Glaubenswechsel einerseits und Diskriminierung, Verfolgung und Martyrium andererseits?

Die spannende Frage: »In welcher wechselseitigen Dynamik stehen Verfolgung und Kirchenwachstum bzw. Untergang von Kirchen in der Geschichte?« haben Kirchengeschichte und Missionsgeschichte zu beantworten. Wie viele Christen sind eigentlich in der Geschichte im Zusammenhang mit ihrem Glauben zu Tode gekommen? Wann geschah dies massenhaft? Wann und wo wurden Christen verfolgt, warum, wie und von wem? Wann waren sie Opfer und wo Täter? – ein Riesenfeld für die Kirchengeschichtsforschung. Auch die Sammlung von Märtyrerviten interessiert in diesem Zusammenhang. Das von der Arbeitsgemeinschaft kirchliche Zeitgeschichte erstellte Kompendium evangelischer Märtyrer des 20. Jh. aus dem deutschen Sprachraum hat übrigens eine empfindliche Lücke: anders als im katholischen Vorbild wurden die Missionare ausgespart!


3.3 Theologische Reflexion

Im Bereich normativer und komparativer Fragen bewegt sich die Suche nach einem theologischen Deutungsrahmen für Leiden, Verfolgung und Martyrium um Christi oder der Gerechtigkeit willen. Hier sind insbesondere die exegetischen Disziplinen und die systematische Theologie und Ethik gefragt. Auch für die Praktische Theologie ergeben sich zahlreiche Forschungsfelder, z.B.: Wie soll heute über dieses Thema gepredigt werden? Was bedeutet die Traumatisierung durch Verfolgung für interkulturelle Seelsorge? Wie soll der Märtyrer gedacht werden? Wie – und in welchem Alter – kann mit Kindern und Heranwachsenden angemessen über das Thema gesprochen werden?

So könnten wir fortfahren, z.B. hinsichtlich der Kirchenmusik, der Diakoniewissenschaft und anderer Arbeitsfelder der Theologie. Es besteht ganz offensichtlich ein umfangreicher Bedarf für fächerübergreifende theologische Reflexion und Forschung, um ein angemessenes Gesamtbild zu erhalten.


Anmerkungen:

1 Antrittsvorlesung an der Kirchl. Hochschule Wuppertal, 17. Juli 2014.

2 Eine zweite Anklage, nämlich die des Ehebruchs, aufgrund ihrer als illegitim betrachteten Heirat mit einem Christen sowie die korrespondierende zusätzliche Verurteilung zu 100 Peitschenhieben folgt ebenfalls der Scharia sowie der Logik des Apostasie-Urteils.

3 Detailliert auch ein Rechtsgutachten von Jubilee Campaign (http://tinyurl.com/JCMI2014).

4 Laut Art. 3 der Verfassung hat diese Vorrang vor aller anderen Gesetzgebung und alle Gesetze müssen sich dieser Verfassung unterordnen.

5 http://www.wipo.int/wipolex/en/text.jsp?file_id =241714.

6 »(T)he nation scored an 11 out of 100 in Transparency International’s ›2013 Corruption Perceptions Index‹, ranking at 174 out of 177 among nations based on the perception of their publicsector corruption« (www.ncregister.com).

7 Brian J. Grim/Roger Finke, Religious Persecution in Cross-National Context: Clashing Civilizations or Regulated Economies?, American Sociological Review 72 (2007): 633-658.

8 Ohne ärztlichen Beistand und mit Fußfesseln. Erst nach der Geburt wurde sie in das Gefängniskrankenhaus verlegt.

9 Das gilt jedoch nicht für die Auspeitschung, die aber nicht vollzogen wurde.

10 Der führende Verteidigungsanwalt legte sein Mandat wegen Todesdrohungen nieder. Dr. Ibrahim wurde bedrängt, ihren angeblichen Abfall vom Islam rückgängig zu machen, um dem Todesurteil zu entgehen. Ebenso stieg der Druck auf ihren Mann Daniel Wani, zum Islam zu konvertieren, um womöglich seiner Frau die Auspeitschung zu ersparen und das Sorgerecht für seine Kinder zu erlangen und sie aus dem Gefängnis zu befreien.

11 Derzeit mindestens 200.

12 Evang. Oberkirchenrat, Evang. Landeskirche in Württ.: Bericht über Verfolgungssituationen (http://tinyurl.com/ELKWUE14).

13 http://freedom2worship.org/images/docs/map-laws-lg.pdf.

14 Christine Schirrmacher, »Es ist kein Zwang in der Religion« (Sure 2,256): Der Abfall vom Islam im Urteil zeitgenössischer islamischer Theologen. Diskurse zu Apostasie, Religionsfreiheit und Menschenrechten (im Erscheinen begriffen).

15 http://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/CoIDPRK/Pages/CommissionInquiryonHRinDPRK.aspx.

16 Heiner Bielefeldt, Freedom of Religion or Belief: Thematic Reports of the UN Special Rapporteur 2010-2013, Bonn 2014 (in seinem Jahresbericht 2012) (http://tinyurl.com/HBFORB).

17 http://www.ndr.de/kirche/Pfingstgottesdienst-aus-Hannover,pfingstgottesdienst102.html.

18 http://www.ndr.de/kirche/predigtmeister102.pdf.

19 Kurz angedeutet: Wo Christen und Kirchen oder auch Regierungen im Namen des christlichen Glaubens in der Geschichte durch Unrecht an Mitchristen oder Andersgläubigen Schuld auf sich geladen und damit Glaubenshindernisse aufgebaut haben, bedarf es einer der Situation angemessenen bußfertigen Haltung und Reaktion. Wo Christen in der Geschichte Bedrängnis, Vertreibung, Verfolgung und Martyrium durch die Hände von Christen anderer Konfessionen und Überzeugungen erlitten haben, ist ebenfalls eine geistlich gegründete Aufarbeitung notwendig.

 

Über die Autorin / den Autor:

PD Dr. Christof Sauer, Jahrgang 1963, Pfarrer der Evang. Landeskirche Württemberg, Prof. für Religions- und Missionswissenschaft an der Evang.-theol. Fakultät Leuven, Belgien, Direktor am Int. Institut für Religionsfreiheit Kapstadt, Südafrika, Privatdozent für Interkulturelle Theologie und Missionswissenschaft an der Kirchl. Hochschule Wuppertal.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2015

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