Obwohl Adolf Schlatter zu den bedeutendsten theologischen Gelehrten des antiken Judentums gehörte, hat er keine nachhaltig wirksame »Schule« ausgebildet. Mit dazu beigetragen haben gewiss die Verstrickungen von ihm selbst und seines Schülers Gerhard Kittel in die antijüdische Propaganda des Nationalsozialismus, wie Matthias Morgenstern in seiner Rekonstruktion zeigt.


Am 13. August 1946 schrieb der jüdische Talmudgelehrte Charles Chaim Horowitz aus Lyon an Otto Michel, Professor der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen, einen Brief folgenden Inhalts:

Hochverehrter Herr Professor,
Als Mitarbeiter von Herrn Professor A. Schlatter und G. Kittel in den Jahren vor der Naziherrschaft (im Bereiche der rabbinischen Literatur) erlaube ich mir Sie zu bitten mir gütigst mitzuteilen 1) ob Herr Prof. Kittel sich zurzeit in Tübingen befindet und 2) ob er an der ev. th. Facultät doziert. Ihnen im voraus bestens dankend zeichne ich mit vorzüglicher Hochachtung
Ch. Horowitz

Horowitz hatte den Krieg in Verstecken in Frankreich überlebt, dabei im August 1942 aber seine Ehefrau Lea verloren, die von der SS nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden war. In seinem Brief stellte er sich nun als Mitarbeiter Adolf Schlatters (1852-1938) vor, jenes Tübinger Gelehrten, den man nicht ohne Grund als einen der bedeutendsten evangelischen Theologen und Erforscher des antiken Judentums in Tübingen während der vergangenen 200 Jahre bezeichnet hat. Zugleich nannte Horowitz den wohl wichtigsten Schüler und Nachfolger Schlatters auf dessen Tübinger Lehrstuhl, den Neutestamentler Gerhard Kittel (1888-1948). Kittel war Herausgeber des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament, eines Monumentalprojekts, das ein Zeitgenosse »die bedeutendste Leistung protestantischer Theologie seit der Reformationszeit« genannt hatte; während der Hitlerjahre gehörte er zu den Mitbegründern des »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland« und war seit 1936 Mitarbeiter der Münchner Zweigstelle des nationalsozialistischen »Instituts zur Erforschung der Judenfrage«. Nach Kriegsende wurde er als einer der prominentesten Propagandisten der NS-»Judentumsforschung« von der französischen Besatzungsmacht in Arrest genommen, fristlos von seinem Amt suspendiert und ohne Pensionsansprüche aus seiner Stellung entlassen.

Als Horowitz seinen Brief schrieb, war Kittel in einem Lager in Balingen interniert; auch nach seiner Entlassung durfte er die Universität mit ihren Instituten und Seminaren nicht betreten. In Erwartung eines Gerichtsverfahrens hatte er bereits im Mai 1945 mit der Zusammenstellung einer Verteidigungsschrift begonnen – ein bizarres Dokument, in dem er sich auf seine »Liebe zu Israel« und sein gutes Verhältnis zu dem »Volljuden« Horowitz berief – Einzelheiten, die Horowitz offensichtlich nicht wusste, die er aber (diese Briefe sind nicht erhalten) wohl wenigstens teilweise von Michel mitgeteilt bekam.


Ein Lehrer ohne »Schule«?

Mit diesen Namen und den mit ihnen verbundenen Schicksalen ist eine Konstellation bezeichnet, die erklären kann, warum Adolf Schlatter in der ersten Hälfte des 20. Jh. zwar eine einzigartige Wirksamkeit entfaltete, er aber – wie der Tübinger Neutestamentler und Judentumsforscher Martin Hengel 1991 in einer Würdigung Schlatters schrieb – »keine Schule« bildete. Freilich war Hengel (1926-2009) ein direkter Schüler Otto Michels; und Michel (1903-1993), der in den 40er Jahren an Kittels Wörterbuch mitarbeitete und nach dem Krieg dessen Lehrstuhl übernahm, hatte seinerseits bei Schlatter studiert und berief sich bei der Gründung des Tübinger Institutum Judaicum (1957) auf Schlatter. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Beschäftigung mit dem Judentum auf der Linie von Schlatter über Kittel zu Michel mag die Auskunft Hengels also merkwürdig erscheinen; sie hängt aber mit Verfehlungen und schuldhaften Verstrickungen im Schülerkreis Schlatters zusammen, die nach dem 2. Weltkrieg dazu beitrugen, dass man sich in der Judaistik nicht ungebrochen auf das Erbe dieses Lehrers berufen konnte und manche Spuren seines Wirkens auch verborgen blieben.

Vor diesem Hintergrund ist schon die Tatsache, dass sich Horowitz 1946 überhaupt brieflich an die Adresse seines früheren Arbeitgebers wandte, bemerkenswert. Horowitz bekundete sogar sein Interesse daran, die in den 30er Jahren in Tübingen begonnenen Arbeiten fortzusetzen, vor allem seine Übersetzungen des Jerusalemer Talmuds. Liest man seine Briefe, so gewinnt man den Eindruck, dass er es war, der, die Namen der Vorgänger Michels auf dem Tübinger Lehrstuhl nennend, eine Brücke bauen wollte. Die Briefe geben aber auch zu erkennen, dass diesem Brückenschlag Abgründe im Weg standen. Die Geschichte dieses Talmudgelehrten und die der Rückkehr seines Werkes – die Reihe der von Horowitz begonnenen Talmudübersetzungen erscheint bis heute im Tübinger Mohr Verlag – gehört zu den bemerkenswertesten, wenn auch noch nicht vollständig erforschten Kapiteln der im deutschen Sprachraum betriebenen Judaistik des vergangenen Jahrhunderts.

Adolf Schlatter, Professor für Neues Testament und Systematik in Bern, Greifswald, Berlin und seit dem Sommersemester 1898 in Tübingen, verbrachte die letzten 40 Jahre seines Lebens am Neckar und erlebte dort den Höhepunkt seines Lebens und Wirkens. Als er seine Lehrtätigkeit begann, war es in der Exegese noch nicht üblich, sich auf zeitgenössische jüdische Quellen zu stützen. Schlatter gewann aber schon früh die Überzeugung, dass das NT religionsgeschichtlich vor dem Hintergrund des palästinischen Judentums gedeutet werden muss. In diesem Sinn verfasste er eine Reihe von Arbeiten zum Judentum in ntl. Zeit, die den Autor zu einer Autorität auf diesem Gebiet werden ließen. Aufmerksamkeit verdient seine Formulierung aus dem Jahre 1904, dass »auf der Seite der Kirche … viel alte Schuld zu tilgen« sei und dass »ein selbstgefälliger Rückblick auf das Verhalten der Kirche gegen Israel … völlig falsch« wäre. Seine Ausgangsthese, nach der das NT ohne Kenntnis des rabbinischen Judentums historisch nicht angemessen interpretiert werden kann, ist – nach den Qumranfunden – heute in dieser Form methodisch überholt. Dennoch hat Schlatter auf diesem Gebiet Bahnbrechendes geleistet und der Einbeziehung judaistischer Fragestellung in theologische Untersuchungen den Weg bereitet.


Von Schlatters Ausstrahlung beeindruckt

Wie sorgfältig Schlatter auf diesem Gebiet vorging und wie lernbereit er noch in fortgeschrittenem Alter war, zeigt seine zeitweilige Arbeitsgemeinschaft mit dem 1892 in Landshut in Galizien geborenen, also 40 Jahre jüngeren, Charles Horowitz. Horowitz war in einer orthodoxen jüdischen Familie aufgewachsen, die sich genealogisch auf den Rabbiner Jesaja Halevi Horowitz (1555/1565 - ca. 1625), den Verfasser der halachisch-mystischen Schrift »Zwei Tafeln des Bundes«, zurückführte. Sein Großvater Chaim Arie Horowitz, der mit Salomon Buber in Lemberg (dem Großvater Martin Bubers) in Kontakt stand, war 1900 zum Oberrabbiner von Krakau gewählt worden. 1923 war Charles Horowitz nach Oberhausen gezogen und hatte dort ein Textilgeschäft eröffnet; zu Beginn der 30er Jahre kam er nach Tübingen und machte dort die Bekanntschaft des zu diesem Zeitpunkt bereits emeritierten Schlatter.

Als beide sich kennen lernten, arbeitete Schlatter weiterhin produktiv, und Horowitz prüfte die Talmudzitate für dessen Bibelkommentare. Darüber hinaus bildete sich eine persönliche Beziehung zu Schlatter, in dessen Haus er ein- und ausging. Mit Schlatter lernte er jüdische Quellen, von ihm, seiner Predigt und seiner »Ausstrahlung« soll er menschlich und theologisch so beeindruckt gewesen sein, dass er sich »von der Wahrheit des christlichen Glaubens« (Werner Neuer) überzeugen ließ, freilich ohne sich taufen zu lassen. Von Oberhausen aus pendelnd, wo er sein Geschäft weiter betrieb, um seine Forschungen und Reisen nach Tübingen zu finanzieren, hatte Horowitz dann an der Evang.-Theol. Fakultät in Tübingen eine Stelle inne, die man heute vermutlich als wissenschaftliche Hilfskraft bezeichnen würde. Er wurde mit Arbeiten betraut, unter anderem für das Wörterbuch Kittels. Vom September 1930 bis März 1933 bezog er dafür eine Vergütung von 25 RM monatlich, die vom Gehalt Walter Grundmanns, eines Assistenten Kittels, abgezweigt wurden. Außerdem führte er im Wintersemester 1930/31 eine »Arbeitsgemeinschaft« über »rabbinische Texte« durch. Möglicherweise wurde diese Lehrveranstaltung auch von Grundmann besucht, dem späteren Leiter des Eisenacher »Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«.


Politisches Bekenntnis zur neuen Reichsregierung

Gerhard Kittel sah sich in diesen Jahren als Freund Schlatters; er half ihm bei Druckfahnenkorrekturen und drängte ihn zur weiteren wissenschaftlichen Arbeit. Andererseits gab es nach der »Machtergreifung« Hitlers Spannungen, da Kittel im Mai 1933 in die NSDAP eintrat, während Schlatter schon aufgrund seiner Schweizer Herkunft und seiner theologischen Prägung eine Distanz zum Nationalsozialismus wahrte, ohne sich aber eindeutig mit der Bekennenden Kirche zu identifizieren. So unterschrieb er im März 1933 in der Tübinger Chronik gemeinsam mit Kittel und etwa 100 Personen des öffentlichen Lebens »ein politisches Bekenntnis für die neue Reichsregierung«. Im Mai 1934 machte sich Schlatter die »12 Tübinger Sätze« zu Eigen, in denen es heißt, »Gott, … als der Herr der Geschichte« habe »unserem Volk in Adolf Hitler den Führer und Retter aus schwerer Not geschenkt«. Die »Kinderei mit der Formel ›arisch‹« lehnte Schlatter freilich ab.

Was die nun politisch inopportun gewordene Beschäftigung eines Juden in Tübingen anbetrifft, so teilte Kittel dem Rektorat der Tübinger Universität am 11. April 1933 mit, dass die Zahlung des Gehalts an Horowitz »von jetzt ab« entfällt. Horowitz floh nach Amsterdam, wo er noch die Korrekturfahnen von Kittels Wörterbuch las. Im Vorwort des »Adolf Schlatter dem Achtzigjährigen« gewidmeten Bandes, es trägt das merkwürdige Datum »Neujahr 1933/Juli 1933«, wird der jüdische Mitarbeiter dankend erwähnt – eine Notiz, die man nicht anders als gespenstisch nennen kann.

Während Horowitz im Ausland um seinen Lebensunterhalt kämpfen musste, waren die Theologen in Tübingen mit anderem beschäftigt. Am 1. Juni 1933 hielt Kittel einen Vortrag zur »Judenfrage«, der auch als Buch erschien. In diesem Text listete er die Möglichkeiten auf, des, wie er es nannte, »Judenproblems« Herr zu werden – Ausrottung, Sammlung in Palästina, Assimilation –, sprach sich dann aber dafür aus, »die geschichtliche Gegebenheit einer ›Fremdlingsschaft‹« der Juden »unter den Völkern zu wahren«, m.a.W. die Juden als Bürger mit eingeschränkten Rechten zu ghettoisieren, in diesem Rahmen aber Religionsfreiheit zuzugestehen. Er erwartete, dass die Juden so wieder zu ihrer traditionellen Frömmigkeit zurückkehren würden und der von den weltlichen Juden ausgehende Säkularisierungsschub, den er für verhängnisvoll erachtete, zum Ende kommen würde.


Den Weg von der Theologie zum Nationalsozialismus gebahnt?

Es spricht viel für die Annahme, dass Schlatter sich diese Sicht in seinem wohl problematischsten Text, der Altersschrift (1935) »Wird der Jude über uns siegen«, wenigstens teilweise zu Eigen machte. Drei Jahre nach Beginn der NS-Herrschaft, nachdem die antisemitische Gewaltpolitik bereits zehntausende Juden aus Deutschland vertrieben hatte, und wenige Wochen nach Verabschiedung der Nürnberger Gesetze setzte Schlatter hier die »völkische Religion der Nationalsozialisten« mit der atl.-»jüdischen Verbindung von Volk und Religion« gleich und beschuldigte »die Juden«, an den gegenwärtigen Missständen Schuld zu tragen. Schlatter nahm Kittels Forderung der Rücknahme der Judenemanzipation offensichtlich für bare Münze; von ihr her ist seine Klage zu verstehen, der neue, angeblich »jüdisch« beeinflusste Staat garantiere zwar den Juden Religionsfreiheit, wolle jedoch das Christentum angreifen und umgestalten. Dieser Text erschien im selben Jahr wie Schlatters Römerbriefkommentar, in dem er vor einer »Rückbildung« des Christentums »in das Judentum« warnte und bemerkte, »die Judenschaft« wolle »die Kirche vernichten«. Schlatter und Kittel erscheinen hier als nahe zusammengehörig.

Ein noch dunkleres Licht auf die Wirkungsgeschichte Schlatters fällt, verfolgt man den Weg der beiden gleichaltrigen Kittel-Schüler Walter Grundmann und Karl Georg Kuhn (beide starben 1976), die ebenfalls bei Schlatter studiert hatten und Kittel bald an antijüdischer Radikalität übertrafen. Grundmann, vom Herbst 1930 bis Frühjahr 1932 Assistent Kittels, war bereits im Spätherbst 1930 in die NSDAP eingetreten. Im Frühjahr 1933 schloss er sich der Glaubensbewegung Deutsche Christen an. In einer 1936/37 erschienenen Schrift schrieb er, er könne im Sinne Schlatters »bekennen, daß wir, die wir heute biologisch denken und in der völkischen Gemeinschaft leben und an ihrer Herstellung mitarbeiten, vom Christus das Wort empfangen haben, das uns den Schöpfer der Natur offenbart und uns in seine Gemeinschaft aufnimmt und uns miteinander in ihm zur Bruderschaft einigt.« 1937 bekannte er in der Zeitschrift »Deutsche Frömmigkeit«: »Mich hat viel mit ihm (Schlatter) verbunden, und es gehört zu den großen Freuden meines Lebens, daß mir sein Sohn, Theodor Schlatter erzählte, daß sein Vater große Stücke auf mich gehalten habe und für mich in der Zeit des Kirchenkampfes eingetreten sei, als ich vielfach angefeindet wurde. Ich verdanke Adolf Schlatter viel, vor allem anderen hat er mir die Bibel aufgeschlossen, und meine eigene exegetische Arbeit geht immer wieder zu ihm in die Schule.« An anderer Stelle schreibt Grundmann: »Schlatter bahnte uns von der Theologie her den Weg zum Nationalsozialismus.«

Nach dem Krieg geriet Grundmann zunächst in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung blieb er in der DDR, wo er 1954 das Rektorat des Eisenacher Katechetenseminars der Thüringischen Landeskirche übernahm. Auch in seinen exegetischen Arbeiten der späteren Zeit berief er sich häufig auf Schlatter, den er in seinem Matthäuskommentar fast auf jeder Seite zitiert. Wo er in seinem Lukaskommentar die rabbinischen Stellen nach Schlatter anführt, lässt sich die Spur zum Wirken von Charles Horowitz zurückverfolgen, der diese Stellen einst verifiziert oder Schlatter auf sie hingewiesen hatte.


Von dunkelsten Erinnerungen überschattet

Auch Karl-Georg Kuhn war schon vor der »Machtergreifung« in die Partei eingetreten. Am 1. April 1933 hielt er von der Tübinger Rathauskanzel aus für den »nationalsozialistischen Ausschuss gegen die jüdische Greuelpropaganda« eine Ansprache zu der für diesen Tag geplanten Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte der Stadt. 1936 wurde er auf Empfehlung Kittels in den Sachverständigenbeirat der Forschungsabteilung »Judenfrage« im »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland« in München berufen. Obwohl er zu dieser Zeit noch keinen theologischen Abschluss hatte, nahm er seit 1930 Lehrveranstaltungen zu rabbinischer Literatur an der Tübinger theologischen Fakultät wahr, die er gemeinsam mit Kittel abhielt. Während seiner Zeit als Soldat in den Jahren 1940-1944 erlangte er im Juni 1940 eine Freistellung, um im Auftrag des »Reichsinstituts« in das besetzte Polen zu reisen. Dort besuchte er in Begleitung eines SS-Offiziers das Warschauer jüdische Ghetto, um Archivalien für seine Münchner Forschungsabteilung zu beschlagnahmen, wie auch das Tagebuch des Warschauer Judenratsvorsitzenden Adam Czerniaków bezeugt.

Nach dem Krieg wurde Kuhn von seinem Tübinger Amt suspendiert. Am 18. Oktober 1948 musste er sich einem Spruchkammerverfahren der Universität stellen, das ihn aber als »entlastet« einstufte. Bereits im Folgejahr durfte er in Göttingen erneut lehren und auch den Titel eines außerplanmäßigen Professors führen. 1954 wurde er zum ordentlichen Professor, Direktor des ntl. Seminars der Universität Heidelberg und Leiter der dortigen Qumran-Forschungsstelle berufen, wo er die Studien zur Umwelt des NT herausgab und die Qumranforschung vorantrieb. Kurz zuvor hatte er es als einer der wenigen über sich gebracht, eine seiner antisemitischen Schriften (freilich nicht sein übrigens judenfeindliches Oeuvre) ausdrücklich zu widerrufen: sein Buch »Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem« (Hamburg 1939). 1964, im Zusammenhang mit seiner Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, gab er eine Stellungnahme zu seinem Werdegang ab, in der er sich von der »Tübinger Theologie« – gemeint sind Schlatter und Kittel – distanzierte.

Wie war es vor diesem Hintergrund möglich, dass jüdische Wissenschaftler und jüdische Wissenschaft nach dem Krieg nach Tübingen zurückkehren konnten? Trotz ihrer Verschiedenheit kann die Biographie der beiden letztgenannten Tübinger Theologen, Grundmann und Kuhn, zu einer Erklärung beitragen. Denn die Briefe Horowitz’, der sich nicht nur für das Schicksal Kittels interessierte, sondern auch nach Kuhn fragte, geben zu erkennen, dass er den Weg ehemaliger Nationalsozialisten und den Umgang mit ihnen genau verfolgte. Im Briefwechsel zwischen Otto Michel und Gershom Scholem ging es um den Scholem »aus seinen Schriften bekannten Walter Grundmann«, dessen Verbleiben in der DDR der Jerusalemer Kabbalaforscher am 19. Februar 1966 »gern zur Kenntnis« nahm. Eine andere Korrespondenz informiert darüber, dass Scholem eine Einladung nach Heidelberg Kuhns wegen nicht annahm, da dort »die Beziehung grade zu nächsten Nachbarn im wissenschaftlichen Feld, wie vor allem zum Vertreter des Hebräischen, von dunkelsten Erinnerungen überschattet, belastet und kollegial unrealisierbar werden würde.«


Neues Renommee des Standorts Tübingen

Mit den Tübingern Kontakt aufzunehmen und 1968 sogar an den Ort der von Kuhn so genannten »Tübinger Theologie« zu reisen, um dort einen Vortrag zu halten, war Scholem hingegen bereit. Dies hing offenbar mit seiner Einschätzung der Person von Kittels Nachfolger Michel zusammen. Eine Rolle muss daneben aber auch die Tatsache gespielt haben, dass die Stadt am Neckar für Martin Buber bis zum Tode seiner Frau Paula im August 1958 einige Jahre lang gewissermaßen einen festen Platz in seinem Leben hatte.

Nachdem Buber am 20. Juli 1953 im Festsaal der Tübinger Universität einen Vortrag gehalten hatte, verbrachte er in den Folgejahren jeweils einige Sommerwochen in Tübingen, wo der Philosoph Ewald Wasmuth ihm eine kleine Wohnung vermittelt hatte. Dabei entwickelte sich ein persönliches und freundschaftlich zu nennendes Verhältnis zu Otto Michel, das dazu führte, dass Buber während seiner Sommeraufenthalte auch in der Privatwohnung Michels zu Gast war. In späteren Jahren waren beide – Buber und Michel – an gegenseitigen Ehrungen beteiligt. All dies trug zum Renommee des Standortes Tübingen bei und führte dazu, dass auch andere israelische Wissenschaftler Einladungen an den Neckar annahmen. Schaut man sich die Jahresberichte des Institutum Judaicum seit den frühen 1960er Jahren unter diesem Gesichtspunkt an, so tritt einem ein ganzes Feuerwerk von Gastauftritten mit Namen wie Ernst Simon, Abraham Schalit, David Flusser, Ze’ev Falk, Schalom Ben-Chorin, Gershon Shaked und anderen entgegen.

Spielte daneben auch das fortwirkende Prestige Schlatters eine Rolle? Immerhin hatte Buber den 1938 verstorbenen Tübinger Kollegen nicht nur literarisch, sondern auch persönlich kennen gelernt. Auf einer Tagung über die »Judenfrage« im März 1930 in Stuttgart muss der Eindruck einer gewissen Nähe und Verständigungsbereitschaft zwischen beiden sowie dem ebenfalls anwesenden Kittel entstanden sein. Paradoxerweise bestätigt dies der heute als grotesk empfundene Umstand, dass Kittel drei Jahre später sein Pamphlet zur »Judenfrage« an Buber schickte, von dem er allen Ernstes eine Bestätigung und wohlwollende Kommentierung erwartete. Buber freilich, auch dies der Nachwelt schwer verständlich, ignorierte Kittel nicht einfach, sondern würdigte ihn – bestimmt in der Sache und argumentativ höflich – einer Antwort.

Auffällig auch, dass Bubers Rede in Stuttgarter über »die Brennpunkte der jüdischen Seele« Berührungspunkte mit seinem Buch »Zwei Glaubensweisen« aufweist, das er 20 Jahre später veröffentlichte. In diesem viel zitierten Text, in der Zeit des israelischen Unabhängigkeitskrieges in Jerusalem entstanden, sucht Buber unter historisch äußerst schwierigen Umständen die Auseinandersetzung mit christlichen Theologen und verarbeitet Aufsätze Rudolf Bultmanns, aber auch Bibelkommentare Schlatters und ­Michels.


Anknüpfungspunkte nach dem Krieg

Die Berichte über die Tagung, auf der Schlatter und Buber sich begegneten, machen im Rückblick einen zwiespältigen Eindruck: Im Vorgriff auf seinen Text »Wird der Jude über uns siegen«? trug Schlatter Formulierungen vor, die die Tür für antisemitische Schlussfolgerungen im politischen Bereich offenlassen: »Wenn der Israelit nicht durch den Glauben an Christus zur Freiheit der Kinder Gottes gelangen kann, soll er lieber als Israelit ohne Trug im Sklavenstande bleiben, als die geheiligten Bindungen aus Rücksicht auf irdische Verhältnisse und Umgebungen leichten Herzens abzuwerfen.« Andererseits konnte Schlatter aber – auch in der Nazizeit – in seinem Römerbriefkommentar, schreiben: »Aber sie (die Christenheit) hat zugleich die herrliche Treue Gottes, die die Judenschaft nicht fallen läßt, zu ehren, und sie darf Unglauben, der an der Unvergänglichkeit der göttlichen Gnade zweifelt, weder in sich noch in den Juden erwecken, weil sie nicht vergessen kann, daß die Juden Geliebte Gottes sind.«

Es mögen solche Formulierungen gewesen sein, die Buber wie zuvor Horowitz die Zuversicht gaben, dass mit dem Namen Schlatter von jüdischer Seite aus ein Anknüpfungspunkt gegeben war. So wandte sich Horowitz an Michel – auch mit der Bitte, ihm bei der Wiederbeschaffung einst in Tübingen verfasster Manuskripte zu helfen. Dieser Wunsch wurde von Michel wahrscheinlich erfüllt. Eine Stelle oder auch Finanzmittel zur Fortsetzung seiner Studien konnte die Tübinger Fakultät dem ehemaligen Mitarbeiter Schlatters jedoch nicht anbieten. Immerhin hat Horowitz Michel in Tübingen privat besucht; seine Rückkehr nach Deutschland brachte er mit einer »Prophezeiung« Schlatters in Verbindung, und auch sein Wirken für eine Versöhnung von Deutschen und Juden führte er auf einen Impuls des einstigen Lehrers zurück. In diesem Sinne ist wohl sein Interesse an der christlichen Theologie zu verstehen, in deren Dienst er seine Arbeiten zum rabbinischen Judentum stellen wollte. Zugleich scheint aber in religiöser Hinsicht eine Rückwendung zum Judentum eingetreten zu sein.

Ob ihm von Seiten der ehemaligen württembergischen Bekannten und Freunde, etwa der Familie Schlatter, in irgendeiner Weise materiell oder praktisch – etwa bei den schwierigen Formalien zur Durchsetzung seiner Restitutionsansprüche – geholfen wurde, ist nicht bekannt. Während die ehemaligen Tübinger Kollegen Grundmann und Kuhn – beide hat Horowitz wahrscheinlich nie wieder gesehen – längst wieder in gesicherten Stellungen saßen und ihren Forschungen nachgehen konnten, musste Horowitz sich anderweitig um seinen Lebensunterhalt bemühen.


Späte Früchte

So führte der berufliche Weg des jüdischen Gelehrten nicht an den Neckar zurück; stattdessen eröffnete er in Oberhausen wieder sein Textilgeschäft. Es war der damals in Bonn lehrende katholische Dogmatikprofessor Joseph Ratzinger, der Horowitz ein Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen verschaffte, das ihm die Fortführung seiner wissenschaftlichen Arbeit ermöglichte. Seine Promotionsurkunde nahm Horowitz später nicht in Tübingen, sondern in Bonn entgegen. 1965 wurde Horowitz auch der Titel eines Professors verliehen.

In Bonn, wo Horowitz als Vorbeter in der Synagoge fungierte, wurde er zu Beginn der 1960er Jahre auch als Dolmetscher für polnisch und jiddisch im »Chelmno (Kulmhof)-Prozess« in Anspruch genommen, eine Tätigkeit, die ihn aufgrund der im Gerichtssaal erörterten Gräuel psychisch sehr belastet haben muss. Am 8. September 1969 starb Charles Horowitz nach längerer Krankheit, nachdem ihm der Bundespräsident zuvor noch das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für »seine Verdienste um die Verständigung zwischen Juden und Christen« verliehen hatte.

Nach Horowitz’ Tod kümmerten sich der katholische Judaist Peter Kuhn, ein Schüler Ratzingers, und Michels katholischer Mitarbeiter Peter Schäfer um Horowitz’ Nachlass. Michel sah für die Fortführung des begonnenen Talmudprojekts in Tübingen aber zunächst keine Zukunft und korrespondierte daher mit dem Wiener katholischen Judentumsforscher Kurt Schubert, um die Herausgabe der Talmud-Texte gemeinsam im Kösel-Verlag auf den Weg zu bringen – ein Anliegen, das aufgrund der zeitlichen Belastung Schuberts scheiterte.

Erst nach Michels Emeritierung kam die unter der Ägide Schlatters begonnene wissenschaftliche Arbeit von Horowitz nach Tübingen zurück. Der erste Band der von Horowitz übersetzten Texte erschien 1975 in einer von Peter Schäfer und Frowald Hüttenmeister überarbeiteten Form und gab Martin Hengel, dem Nachfolger Otto Michels als Tübinger Institutsdirektor, den Anstoß zur Reihe der Übersetzungen des Jerusalemer Talmuds. Im Vorwort dieses Bandes von Peter Schäfer und Frowald Hüttenmeister wird neben Hengel und Michel auch Joseph Ratzinger gedankt. Der Historiker kann – im Wissen darum, dass es neben den dunklen und grauen Seiten der Geschichte auch hellere Flecken gibt – wagen, den Namen Adolf Schlatters hinzufügen.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Matthias Morgenstern, 1988-1994 Assistent für AT an der Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen, 1994-1999 Pfarrer der württ. Landeskirche, bis 2004 Lehr- und Forschungstätigkeit am Seminar für Judaistik der Universität Frankfurt/M., seitdem am Institutum Judaicum der Universität Tübingen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2014

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.