Inklusion ist ein modernes Wort – und doch lassen sich biblisch-theologische Anknüpfungspunkte herstellen. Nach Urte Bejick finden wir in der Bibel als Abbild menschlichen Seins das Ineinander und Gegeneinander von Inklusion und Exklusion, mit der Perspektive auf eine immer weitere Inklusion unter das Heil Gottes hin.


1. Einleitung

Inklusion ist ein moderner Begriff. Die Bibel ist ein in 3000 Jahren entstandenes poetisches, erzählendes, gesetzliches, prophetisches und verkündigendes Buch. »Inklusion« können wir daher im Folgenden immer nur in Anführungsstrichen gebrauchen. Wohl aber lässt sich in der Bibel die Tendenz ablesen, einen kleinen »erwählten«, also »exklusiven« Kreis (die Sippe, den Stamm, das »erwählte Volk«) für marginalisierte Menschen zu öffnen und diese mit einzubeziehen – seien es »Fremde«, Arme, Kranke oder Menschen mit Behinderung.

Diese Anteilgabe geschieht einmal im Bereich des Kultischen (Kategorien: »rein«/»unrein«; »sündig«/»gerecht«) und im Bereich des sozialen Miteinanders (Kategorien: »frei«/»versklavt«; »einheimisch«/»fremd«; »reich«/»arm«). Entwickelt sich die Grenzerweiterung im kultischen Bereich eher langsam und tastend, wird sie im sozialen Bereich vehement als Anliegen Gottes eingefordert. Der »Bund Gottes« ist eine Lebensquelle, die sich übersprudelnd immer weiter ausbreitet und Menschen in diesen Bund »inkludiert«. Demgegenüber steht das menschliche Bedürfnis nach Abgrenzung, um der eigenen Identität gewiss zu werden, weswegen sich »inkludierende« und »exkludierende« Tendenzen sowohl im AT wie im NT gegenüberstehen, sich gegenseitig bedingen, bekämpfen oder korrigieren.


2. Schöpfung – Vielfalt von Anfang an

Die Schöpfung beginnt mit der Unterscheidung (1. Mos. 1,4). Nach dem ersten Schöpfungsbericht (1. Mos. 1) werden die Menschen von Anfang an unterschiedlich und auf Gemeinsamkeit angelegt geschaffen. In Unterschiedlichkeit und im Aufeinander-Angewiesen-Sein sind sie »Gottes Ebenbild«.

Das im 2. Jh. v. Chr. entstandenen apokryphe Buch der »Weisheit« interpretiert Schöpfung so, dass die göttliche Weisheit die Welt in Vielfalt und zum Leben bestimmt geschaffen habe (Weish. 1,14). Unter diese Bestimmung zum Leben fallen nach dieser Schrift ausdrücklich auch die Menschen, denen andere Lebensglück absprechen – Menschen mit früh vollendetem Lebenslauf, Kinderlose, Verstümmelte (Weish. 3,13-4,9). Nicht nur als Gattungswesen, auch als Individuum wird nach manchen biblischen Vorstellungen jeder Mensch von Gott »von Hand« geschaffen (Ps. 139,13; Hi. 10,10.18) in all seiner Eigenart. »Wer hat den Menschen die Sprache gegeben? Wer macht sie stumm oder taub? Wer macht sie sehend oder blind?«, fragt Gott den offenbar sprachbehinderten Mose (2. Mos. 4,11).

Erst der Sündenfall lässt die Menschen ihre Verschiedenheit als schambesetzte Differenz erleben und in eine Hierarchie (Mann-Frau-Tier) fügen (1. Mos. 3,10). Dies »exkludierte« sie vom paradiesischen Zustand. Verschiedenheit mit Wertungen zu verbinden und damit mit Exklusion, ist Merkmal der gebrochenen Schöpfung und gehört, wie nach dem zweiten Sündenfall (1. Mos. 4,1-16) die Gewalt, zum menschlichen Dasein. Zur Freiheit des Menschen zählt, über die Sünde zu »herrschen« (1. Mos. 4,7) und sich Spielräume zu schaffen inmitten dieser Verlorenheit. In der Bibel als Abbild menschlichen Seins finden wir daher das Ineinander und Gegeneinander von Inklusion und Exklusion, mit der Perspektive auf eine immer weitere Inklusion unter das Heil Gottes hin. Friedvolles, segensreiches Miteinander schafft eine Enklave innerhalb der immer wieder vom Chaos bedrohten Schöpfung.


3. Bund zum Leben

3.1 Inklusion im »Heiligkeitsgesetz«

»Inklusion« schafft solch eine Enklave. Ein früher Text, der die Behinderung von Menschen durch andere thematisiert, ist daher ein Satz apodiktischen Rechts: »Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr.« (3. Mos. 19,14-15).

Hier wird einmal kategorisch verboten, Menschen durch Barrieren zu behindern und zu Fall zu bringen, ihre Beeinträchtigen zu verstärken und auszunutzen und abwertend und schädigend über sie zu reden. Der Passus findet sich in einem größeren Abschnitt (3. Mos. 19,1-18), in dem es um Grundlagen guter Gemeinschaft geht – um gerechtes Urteil, wahrhaftige Rede und vor allem um eine Mindestversorgung für Arme. Das Kapitel schließt in V. 18: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Der »Nächste« ist in diesem Kontext der Nachbar, der Nebenmensch in Sippe oder Dorfgemeinschaft. Erweitert wird diese durch den zu integrierenden »Fremden« (3. Mos. 19,33-34).

3. Mos. 19,1-18 ist Teil einer Sammlung von kultisch begründeten religiösen und sozialen Geboten, die als »Heiligkeitsgesetz« bezeichnet werden, da in ihnen unterschiedliche Textgruppen aus unterschiedlichen Kontexten und Zeiten durch das Stichwort »heilig« zusammengehalten und als Gesetzgebung durch Mose dargestellt werden. Die Heiligkeit und die Heiligung des Volkes werden als Gebotsbegründung genannt – es sind daher »Sätze apodiktischen Rechts«, d.h. sie gelten als unhinterfragbar und undiskutierbar.

Dies ist ein starkes Argument zugunsten der Inklusion behinderter Menschen und sozial Schwacher. Allerdings ist »heilig« (kadosch) ein ab- und ausgrenzender Begriff – die Gemeinschaft, die durch das Halten der Gebote »geheiligt« wird, unterscheidet sich dadurch von anderen (3. Mos. 20,26) und muss alle diejenigen exkludieren, die diese Heiligung gefährden. Nach 3. Mos. 19,8 machen sich die unrein, die altes, womöglich verdorbenes Opferfleisch essen – sie gefährden damit nicht nur sich selbst, sondern die Heiligkeit der Gemeinschaft als Ganzes und sollen »ausgemerzt« werden. Diese brutale Ausgrenzung resultiert daraus, dass in 3. Mos. 19 kultische und soziale Gesetze eine Einheit bilden, die nach den Kategorien »rein« und »unrein« urteilen. Das »Andere«, das zu Exkludierende, ist das Verunreinigende. In den Versen, die dem Gebot der »Nächstenliebe« folgen, geht es daher auch um deren gewaltsamen, manchmal tödlichen Ausschluss: von Gewalttätern wie Menschen, die ihren Körper verletzen (Tätowierungen), Menschen, die sich sexuell von einer engen Norm abweichend verhalten. Besonders scharf formuliert ist die Reinheitsvorschrift für die »ausgewählten« Priester, die keinen körperlichen Makel, keine Behinderung und keine Beeinträchtigung aufweisen dürfen (3. Mos. 21,18-20)!


3. Mos. 19,14-15 ist ein frühes Beispiel für eine inkludierende Gemeinschaft, die allerdings auf Exklusion begründet ist.

3.2 Die Erweiterung des Begriffs des Nächsten und die Umdeutung der exklusiven Kategorien »rein« und »unrein« im NT

In der Parabel vom »barmherzigen Samariter« (Lk. 10,25-37), die eindeutig Bezug nimmt auf 3. Mos. 19,18, wird der Begriff des »Nächsten« weg von der Engführung auf Familie, Sippe, Volk erweitert um »irgendeinen Menschen« (den Überfallenen) und den kultisch »exkludierten« Samariter. Die Parabel definiert nicht, sondern ist handlungsorientiert (»Gehe hin und tue desgleichen«).

Jesus verlegt die Kategorien »rein«/»unrein« in das eigene Innere und hebt sie dadurch als äußere Kategorien auf (Mt. 15,10-20): er berührt kultisch unberührbare Menschen (Mt. 8,3: Aussätziger; Mt. 9,20: blutflüssige Frau; Mt. 9,25 und Lk. 7,14: Tote), hilft nicht zur jüdischen Gemeinschaft gehörenden Fremden (und zwar nicht Flüchtlingen, sondern Angehörigen der Besatzungsmacht und des wohlhabenden Umlandes: Mt. 14,21-28; Mt. 8,5-10). Durch diese Neuinterpretation der Kategorien »rein«/»unrein« und die Zuwendung zu den bisher kultisch Exkludierten kann auch 3. Mos. 18 neu interpretiert werden – die »nächstenliebenden«, menschenfreundlichen Gebote behalten ihre Gültigkeit, die aber nicht mehr durch eine kultisch begründete Exklusion erkauft werden muss.


4. Was Heilungsgeschichten zur Thematik beitragen

4.1 Inklusion und Geld

Was wir heute unter »Inklusion« verstehen, ist ein nachindustrielles Phänomen. Es verdankt sich dem technischen und medizinischen Fortschritt, einer hoch differenzierten, arbeitsteiligen Gesellschaft, in der das Überleben des Einzelnen nicht allein von dessen körperlicher Arbeitsfähigkeit abhängt. Was heute möglich ist, war vor 2000 Jahren noch nicht denkbar. Zum Wunder gab es kaum Alternativen – lediglich das Aussetzen von Kindern und Alten (das es bereits in der Tradition der hebr. Bibel nicht gibt!), Einsperren, Isolieren. Heilungsgeschichten des AT und NT haben immer auch einen handfesten materiellen Aspekt, sie thematisieren immer auch die Kategorien von Macht und Gender und können daher helfen, einen oftmals seltsam »leiblosen« Inklusionsbegriff zu erden.

Im AT wird von Behinderungen von mächtigen, finanziell gut ausgestatteten Männern berichtet: Der depressive Saul bleibt König, der an Aussatz erkrankte Naeman (2. Kön. 5,1-2) ist ein hoher Militärangehöriger, der verrenkte Jakob bleibt Familienpatriarch. Der alterssieche König David lässt sich eine Sklavin liefern (1. Kön. 1,1-4). Er, dem die Redensart »Blinde und Lahme kommen mir nicht ins Haus« (2. Sam. 5,8) zugeschrieben wird, lässt den seit einem Unfall gelähmten Königsenkel Merib-Baal an der königlichen Tafel mitspeisen und teilt ihm Landbesitz zu (2. Sam. 9,1-13). Macht und Geld erleichtern die Teilhabe. Für weniger gut Situierte heißt Behinderung, die an körperlicher Arbeit hindert, materielle Not. Die Auferweckung eines Toten durch den Propheten Elischa lindert nicht nur den Schmerz seiner Mutter, sondern gibt der Witwe auch den dringend gebrauchten Feldarbeiter wieder (2. Kön. 4,18-36).

Der gewöhnliche Aussätzige drückt sich an der Mauer herum (Lk. 17,12) oder liegt wie Lazarus vor der Tür (Lk. 16,20). Menschen mit Behinderung müssen in der Regel betteln (Lk. 18,35; Apg. 3,2). Heilungsgeschichten von Frauen dagegen berichten Heilungen privilegierter Frauen, die allerdings durch Krankheit ihr Vermögen und damit ihre Freiheit zu verlieren haben (Lk. 8,43). Die Heilung eines psychisch schwer kranken Mannes bringt große Verluste bei den Schweinehirten der Gegend mit sich und sie wünschen nur eins: dass sich solch ein Wunder nie wieder ereignet (Lk. 8,26-29), weil es ins Geld geht. Biblische Heilungsgeschichten implizieren immer auch den materiellen Aspekt von Behinderung und Krankheit. Sie berichten auch, wie Krankheiten bzw. Behinderungen konstruiert werden: Unfruchtbarkeit ist keine Krankheit, aber kinderlose Frauen werden – von anderen Frauen, nicht von Männern! – ausgegrenzt, gequält, schikaniert (1. Mos. 30,1; 1. Sam. 1,2.6; 1. Mos. 16). Die biblischen Heilungsgeschichten verbinden also Theologie ganz selbstverständlich mit Ökonomie.


4.2 Heilungsgeschichten neu lesen

4.2.1 Heilung von einzelnen Menschen und Strukturen

Nach Lk. sah Jesus selbst seine Mission als Erfüllung der Weissagungen des Jesajabuches zugunsten der Armen, Versklavten und Kranken (Lk. 4,16-21). Von Jesus werden Wunderheilungen berichtet. Manche Theologen halten es für problematisch, solche Heilungsgeschichten weiter im Gottesdienst zu lesen. Werden dadurch nicht Behinderungen als Fehler in der Schöpfung definiert und damit Menschen mit einer Behinderung diskriminiert?

Nicht alle Menschen mit einer Behinderung können diese als zu ihrer Person zugehörig akzeptieren. Wie angesichts anderer Lebenslagen auch, muss hier die Balance von »Widerstand und Ergebung« gefunden werden. Behinderung allein als »Besonderheit« und »Gabe« gelten zu lassen, kann Menschen auch der Tyrannei eines »positiven Denkens« unterwerfen. »Wahlfreiheit« bedeutet auch, mit seinem Geschick hadern zu dürfen.

Jesus heilt aber nicht allgemein Krankheiten und Behinderungen, sondern individuelle Menschen, die ihn ausdrücklich darum bitten und die bisher ein ausgestoßenes, ärmliches Leben in Höhlen, vor der Stadt oder auf der Straße geführt haben. Nicht davon zu trennen ist seine Zuwendung zu Menschen, die durch Alter, Geschlecht, Herkunft bisher als »unrein«, »Sünder/innen« oder »Heiden« galten.

Heilung wird im NT oft mir Sündenvergebung verbunden, es geht also nicht primär um die Beseitigung einer körperlichen oder seelischen Behinderung, sondern darum, was Menschen »unbedingt angeht«. »Sündenvergebung« im Rahmen einer Heilung kann auch als Zeichen struktureller Heilung gedeutet werden. Gerade Heilungsgeschichten entlarven lebenshemmende Strukturen – wo z.B. Kranke nicht am Sabbat geheilt werden dürfen. Wenn wir also Heilungsgeschichten mit »Inklusion« in Verbindung bringen, kann es nur um Heilung von Strukturen gehen.


4.2.2 Der Besetzte von Gerasa (Mk. 5,1-12)

Diese Geschichte berichtet von einem psychisch kranken Mann. Verwandte und Nachbarn sind hilflos, sie versuchen ihn anzuketten und einzusperren, dies auch, weil er sich selbst verletzt. Der Kranke exkludiert sich selbst: er zieht sich auf Gräberfelder zurück und wird so kultisch unrein. Er verletzt sich auch mit Steinen selbst. Die Soziologin Katharina Gröning nennt solches Verhalten – in Hinblick auf die Pflege – »Selbstentweihung«. Menschen, die sich selbst verletzen und beschmieren, stellen den größten Affront gegen die Helfenden dar, die doch die ihnen Anvertrauten sauber, unversehrt und sozial akzeptabel sehen wollen.1

Auch der Kranke entweiht sich nicht nur, er wendet sich aggressiv gegen eine mögliche Hilfe. Anders als in anderen Wundergeschichten kommt Jesus gar nicht dazu zu fragen, was der Kranke denn wünsche – er soll verschwinden! In der Geschichte sind es »Dämonen«, die aus dem Kranken heraus rufen. Sie nennen sich »Legion«. Nach Gerd Theißen wird hier deutlich, woran der Mann leidet: Er ist »be-setzt«, wie das Land von den römischen Legionen.2 Erst als die »Legion« in die Schweine fährt und im Meer (bei Mk. statt »See« eine Assoziation mit dem Mittelmeer?) ertrinkt, ist der Kranke ordentlich angezogen und bei klarem Verstand. Eine weitere »Selbstexkludierung«, nämlich, dass sich der Geheilte der Jesusbewegung anschließt, wird von Jesus selbst abgelehnt – er wird in den »normalen« Alltag zurückgeschickt.

Es geht bei der Geschichte nicht vordergründig um die Heilung eines »von Dämonen Besessenen«. Die »Dämonen« haben eine sehr reale gesellschaftliche Entsprechung (römische Besatzung), die Selbstverunreinigung und Verletzung des Kranken ist Ausdruck der Verunreinigung (Schweineherden!) und Verletzung des Landes. Äußere Gewalt offenbart sich in ihm als Gewalt gegen sich selbst. Er ist nicht »besessen«, sondern »besetzt«. An einem Einzelnen kann dann durch das Wunder deutlich werden, was eigentlich gesellschaftlich nötig wäre.


4.2.3 Bethesda – Geschichte einer missglückten Inklusion (Joh. 5,1-18)

Am Teich Bethesda sammeln sich Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, um auf ein Wunder zu warten. Sie sind »draußen« beim Schaftor und unter sich, ohne dass sich eine Gemeinschaft gebildet hätte. Jeder ist für sich darauf bedacht, den anderen notfalls zurückzustoßen und zu verdrängen, um selbst in den Genuss einer Heilung durch das von einem Engel bewegte Wasser zu bekommen. Selbst in dieser exkludierten Gruppe gibt es Unterschiede: »Ich habe keinen Menschen« klagt der von Jesus angesprochene Gelähmte. Er, und nur er, nicht alle anderen, wird angesprochen und geheilt. Damit enden manche Predigten und Auslegungen bereits. Aber die Geschichte geht noch weiter: Der inzwischen Geheilte wird von der Tempelpolizei verhört und hat – vielleicht darum besorgt, sich zu integrieren – nichts anderes zu tun, als Jesus bei dieser anzuzeigen. Daraufhin wird Jesu Tötung beschlossen!

»Bethesda« ist also kein Ort der Hilfe. Die nüchterne Geschichte konterkariert alle wohlgemeinten kirchlichen Utopien von Zusammenhalt und gleichen Interessen aller Benachteiligten (Menschen mit Behinderungen, Alte, MigrantInnen usw.). Selbst Exkludierte exkludieren, in diesem Fall einen Menschen mit erhöhtem »Assistenzbedarf«. Diese Form von »Exklusion« wird geheilt, er findet endlich einen Menschen, der ihm hilft! Das Wunder reicht allerdings nicht aus, denn es werden keine Strukturen geheilt: Die Konkurrenz der anderen Kranken bleibt bestehen. Der Geheilte wird nicht willkommen geheißen im »normalen« Leben, sondern verhört. Und er ist selbst derartig bestrebt, sich in diese Normalität zu integrieren, dass er seinen Helfer verrät.

Eine interessante Ähnlichkeit besteht mit Joh. 9,1-41. Hier wird ein Blinder geheilt, wobei ausdrücklich festgestellt wird, dass keinerlei wie auch immer geartete »Sünde« Ursache der Blindheit sei. Der Blinde hat es sozial etwas besser als der Gelähmte – er lebt bei seinen Eltern. Wie der Gelähmte wird er geheilt und wegen Bruch des Sabbatsgebots verhört. Anders als der Gelähmte von Bethesda verrät er Jesus nicht, sondern provoziert die Verhörenden. Eine Schonung als ehemals Behinderter nimmt er nicht in Anspruch, er ist bereit, jetzt auch Risiken zu tragen. Auch er begegnet Jesus ein zweites Mal – und folgt ihm nach statt ihn zu verraten. Dass die Verhörenden ihn »hinaus stoßen«, diese Art von »Exklusion« stört ihn nicht weiter. An seinem Beispiel erfolgt dann abschließend durch Jesus die Umwertung der Werte mit der Frage: Wer ist hier eigentlich »behindert« und wer behindert wen?


5. Christologische Aspekte

5.1 Der versehrte Erlöser

Ein früher Hymnus auf Christus preist dessen »Selbstexklusion« aus der Sphäre Gottes, um als Mensch unter Menschen zu sein (Phil. 2,5-11). Diese »inkludierende« Praxis Jesu mündet schließlich in eine »Exklusion« – seine Hinrichtung.

Die Sichtbarwerdung Gottes in einem Menschen schließt die Versehrung Gottes mit ein. Besonderer Stellenwert kommt der Auferstehungsgeschichte in Joh. 20,24-29 zu. Sie ist als Geschichte vom »ungläubigen Thomas« bekannt, könnte aber mit gutem Recht auch »Das Bekenntnis des Thomas« überschrieben sein. Dass der Auferstandene offensichtlich durch Mauern dringen kann, interessiert den Jünger wenig. Er glaubt die Identität mit dem irdischen Jesus nur, wenn er die Folterwunden an Händen und Leib sehen und fühlen kann. Sie, und nur sie, sind ihm Beweis der Auferstehung! »Logischer« Beweis wäre dabei doch ein wieder hergestellter, geheilter Leib – aber laut Zeugnis des Thomas liegt die Wahrheit der Auferstehung im versehrten Leib, in seinen Wunden. Der pneumatische Leib Jesu ist laut Joh. 20 nicht der in unserem Sinne makellose, sondern der verletzte, dessen Verwundung in das Heil Gottes mit hinein genommen wird.


5.2 Inklusion durch bewusste Selbstexklusion

Die Orientierung am Gekreuzigten und Auferstandenen bewirkt einen Paradigmenwechsel – der aus der Gemeinschaft Ausgestoßene wird zur Mitte der neuen Gemeinschaft. Dadurch wird eine neue »Lesart« für die Texte des Ersten Testaments gefunden. 3. Mos. 21,18-20 erklärt Menschen mit Behinderung, Hautunreinheiten und Verstümmelungen als ungeeignet für das Priestertum. Auf diesem Hintergrund liest sich 1. Petr. 2,9-10 – Verse, die die christliche Gemeinde als neues, ausgewähltes »Priestertum« feiern – einmal neu: nicht als Anmaßung christlicher Gemeinde gegenüber dem auserwählten Volk Israel, sondern als Erweiterung der Erwählung. Wer sich am »nutzlosen«, verworfenen und »exkludierten« Eckstein Jesus orientiert, wird durch in die Gemeinschaft der Geheiligten inkludiert! Damit ist natürlich noch keine Aussage über Behinderungen getroffen, aber ein Tor geöffnet, sie in anderem Licht zu sehen.

Auf die Gemeinde bezogene Texte arbeiten daher auch mit einer bewussten Selbstexklusion. Ein besonders eindrücklicher Text findet sich hierzu in Hebr. 13,12-14: »Deshalb hat auch Jesus … draußen vor dem Tor gelitten. Lasst uns also zu ihm vor das Lager hinaus ziehen und seine Schmach auf uns nehmen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« Als »exkludiertes« Sündopfer habe Jesus »draußen vor dem Tor« (exo), gelitten und seine Anhänger/innen sollen »hinaus« (exo) gehen und seine Schmach (oneidismon) tragen – als Zeichen einer zu erhoffenden neuen zukünftigen Gemeinschaft3 – und zwar einer auch politischen (polis)!

Christen und Christinnen nehmen Selbstexklusion zugunsten der Ausgegrenzten auf sich – dies ist ein Weg, ein Prozess. Ziel ist nicht die ekklesia oder gar der zukünftige, Raum und Zeit enthobene Äon, sondern die polis, das durch Gesetze geregelte Gemeinwesen! Diese Stadt ist zukünftig, was im Griechischen mit mellousin wiedergegeben wird. Im Stamm mello steckt das »Kommende« als das »Mögliche«, auch das »Gewollte« wie das nur »zögernd Kommende«. Es geht demnach nicht um ein transzendentes zukünftiges Jerusalem, das am Ende der Zeiten Raum und Zeit übersteigt, sondern ein in Raum und Zeit mögliches Gemeinwesen, zu dem man sich hin auf den Weg macht, manchmal auch strauchelnd und zögerlich! Was 1. Petr. auf das »Priestertum«, also den unmittelbaren Zugang zu Gott bezieht, wird in Hebr. in die Metapher der Stadt gefasst.

Diese »Selbstexklusion« der Christinnen und Christen hat ihren Grund in der Grenzüberschreitung Gottes. Christus wird in einem frühen Hymnus als solch ein Grenzüberschreiter, der nicht »an der Daseinsweise Gottes« festhielt gepriesen (Phil. 2,5-11). Vorbild für diese Grenzüberschreitung ist Jes. 57: »Bahnt eine Straße, ebnet den Weg, entfernt die Hindernisse auf dem Weg meines Volkes! Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende, dessen Name ›Der Heilige‹ ist: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten, um den Geist der Bedrückten wieder aufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben.«

Nach Jes. 56 werden in der (irdisch gedachten) verheißenen Zukunft Ausgeschlossene in den Bund Gottes aufgenommen: der »Ausländer« und der »Eunuch«: »Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, soll nicht sagen: Sicher wird der Herr mich ausschließen aus seinem Volk. Der Verschnittene soll nicht sagen: Ich bin nur ein dürrer Baum. … Spruch Gottes, des Herrn, der die verstoßenen Israeliten sammelt: Noch mehr, als ich schon von ihnen gesammelt habe, will ich dort versammeln.« (Jes. 56,3-8).

Dieser sehr interessante Text verbindet sozial bedingte Ausgrenzung (Fremder) mit der Ausgrenzung des »Eunuchen« als exemplarischem »Behinderten«. Wie im Buch der Weisheit (Weish. 3,14; und Apg. 8!) steht der offensichtlich Phantasie anregende »Eunuch« für den Menschen, der von anderen mit Gewalt behindert wurde, dem Potenz und Lebenskraft, Kreativität und Generativität, die Möglichkeit zu bestimmten Formen von Sexualität und Intimität geraubt wurde! Seine »Behinderung« stürzt ihn nicht, wie andere körperliche Einschränkungen, in materielle Anmut, er kann sogar hohe Ämter inne haben, aber er steht für den Behinderten par excellence, da ihm persönliche Entfaltungsmöglichkeiten verhindert wurden. Weder im Buch der Weisheit (4,2) noch in Jes. wird er zukünftig körperlich geheilt – aber er hat Anteil am vollen Leben!


6. Der Geist als inkludierende Kraft

Nach der Apg. ist es der vom Auferstandenen ausgehende Geist, der die Grenzen des »erwählten Volkes« sprengt und auch die urchristliche Gemeinde erweitert. Im Pfingstgeschehen werden Vielfältigkeiten der Sprache nicht aufgehoben, aber jeder versteht in einem kurzen Augenblick die Sprache des anderen – aus Differenz wird Vielfalt und Diversität!

Eindrücklich greift Apg. 8,26-40 die Verheißung Jes. 56 auf und sieht sie durch das Wirken des Geistes erfüllt: Der mächtige äthiopische Verwalter, der nach Jerusalem gereist ist, ist zwar »gottesfürchtig«, aber er gehört nicht zum jüdischen Volk. Außerdem ist er ein Eunuch – also ein Mensch mit abweichender Sexualität bzw. ein Mensch, dem Sexualität abgesprochen wird. Vielleicht interessiert ihn gerade deshalb die Lektüre des Jesajabuches4 und dort das Kapitel über den leidenden Gottesknecht. Deren Auslegung durch Philippus, dass in einem Menschen aus Fleisch und Blut Gott dieses Leiden auf sich genommen habe, begeistert ihn so, dass er sich taufen lässt. Dies heißt: er ist in den Bund Gottes aufgenommen, wie in Jes. 56 verheißen – »Und er zog fröhlich seines Weges!« (Apg. 8,39)


7. Kirche zwischen exklusiver und inklusiver Gemeinschaft

»Inklusion« ist das Mögliche, Gewünschte, Ersehnte, zu dem man sich hin auf den Weg macht, noch nicht das Faktische. Denn zur Inklusion gehört eine gewisse Selbstexklusion, d.h. der Verzicht auf »natürliche« Privilegien (schon angedeutet in 3. Mos. 19,9-10) und die Definitionsmacht darüber, was als normal zu gelten habe. Es geht immer um eine Abwägung zwischen Inklusion und Exklusion. Die ekklesia ist bereits dem Namen nach »exklusiv«. Lud der »neue Weg« als Bezeichnung der jungen Christen noch alle zum Mitwandern und Mitfahren ein, ist die ekklesia die Gemeinschaft der Herausgerufenen, in der dann der Klerus eine weitere exklusive Position einnimmt.5

Um Identität zu finden, lavierten die frühen christlichen Gemeinden zwischen Inklusion (Arme, Sklaven, Soldaten, Nichtjuden und Nichtjüdinnen) und Exklusion. Eine Religionsgemeinschaft ist bei aller Offenheit exklusiv – sie hat eigene Zeichen, Symbole, Riten, Sprache usw., die Nichtkundige erst einmal ausschließt. Die Makkabäerbücher beschreiben, wie sich das frühe Judentum durch Riten und Symbole aus der Religionen und Kulturen »integrierenden« Kultur des Hellenismus bewusst exkludierte, was zu Hass und Verfolgung führte. Ebenso grenzt sich das frühe Christentum ab: die anderen sind »die draußen«, hoi exo (Kol. 4,5; besonders brutal: 1. Kor. 5,13). Und sowohl Paulus als auch dann die Apk. sondern schon mal aus, wer nicht dazu gehört – Menschen mit »moralischen Vergehen« (Gal. 5,19-21 in Kontrast zu Gal. 3; Apk. 21,27; 22,15).

Gleichzeitig haben die ersten Gemeinden einen inkludierenden Charakter. Der Geist der Freiheit eint auch Männer und Frauen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie (Gal. 3,28). Er bewirkt schließlich, dass alle Menschen, die im »Leib Christi« zusammengefügt sind, unabhängig von Position, Ansehen und Fähigkeiten gleichwertige, gleich wertvolle und unverzichtbare Organe und Glieder sind (1. Kor. 12,1-31).


8. Inklusion – eschatologische Aspekte

Bei den biblischen Zukunftsaussagen lassen sich innerweltlich-politische Verheißungen von Bildern der kosmischen Erlösung und der individuellen Zukunft unterscheiden.


8.1 »Inklusion« als innerweltliche Verheißung

Manche prophetischen Aussagen des AT changieren zwischen konkret innerweltlicher Zukunft und einer »utopischen«, auch Natur und Kosmos einbeziehenden Verheißung. Insbesondere bei Jes. gelten Gottes Verheißungen Unterdrückten, Armen, Geringen und marginalisierten Kranken und Behinderten. Jes. 29,18 verspricht: »Dann werden selbst Taube hören, was aus dem Buch vorgelesen wird, und die Blinden kommen aus ihrer Nacht und können sehen.« Gleich im Anschluss daran folgen die Verheißung an »Geringe« und eine Gerichtsansage an die Unterdrücker.

Es geht also nicht darum, behinderte Menschen an eine Norm des gesunden Menschen anzupassen, sondern sie in die Lebensfülle Gottes mit aufzunehmen und ihnen nichts vorzuenthalten (die Weisung des Buches!). Jer. 31,8 verkündigt die Rückkehr des Volkes aus dem Exil: »Blinde und Gelähmte bleiben nicht zurück, auch die Schwangeren und Wöchnerinnen bringe ich mit … Die Mädchen freuen sich und tanzen, Jung und Alt sind fröhlich« (Jer. 31,8.13). Hier wird niemand wundersam geheilt, aber es wird auch niemand aufgrund einer Beeinträchtigung zurückgelassen – ein wieder intaktes, erlöstes Gemeinwesen »inkludiert« Menschen mit vorübergehenden und bleibenden Handicaps, es schließt Jung und Alt ein.

Besonders eindrücklich schildert Sach. 8 das zukünftige, irdische Jerusalem: »Es sollen hinfort wieder sitzen auf den Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem Stock in der Hand vor hohem Alter, und die Plätze der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort spielen. So spricht der Herr Zebaoth: Erscheint dies auch unmöglich in den Augen derer, die in dieser Zeit übrig geblieben sind von diesem Volk, sollte es darum auch unmöglich erscheinen in meinen Augen? spricht der Herr Zebaoth« (Sach. 8,4-5).

Sichtbar wird die Gottesgegenwart in der »Stadt«, im Gemeinwesen, in einem ganz normalen Alltag. Mittelpunkt der Vision ist der städtische »Platz«, also der öffentliche, zentrale Ort. Nach Sach. 8 gehören hochaltrige Menschen und Kleinkinder in den Mittelpunkt der Stadt oder des Dorfes – sie »beherrschen« das Stadtbild. Damit sind zwei Enden der Generationenfolge und zwei Aspekte von relativer Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit genannt. Es geht um Menschen, deren Dasein von einem »nicht mehr« und »noch nicht« geprägt ist. Maßstab für das Gemeinwesen ist also der »zwecklose«, flanierende, zuschauende und spielende Mensch, der noch oder schon auf Hilfe angewiesen ist. Diese Menschen sind Subjekte und Akteure, sie prägen das Gesicht der Stadt oder des Dorfes. In dieser Zwischenmenschlichkeit ereignet sich die Liebe Gottes, sie ist Erweis seiner Treue (Sach. 8,2.8).


8.2 Exklusion der Exkludierenden

Lk. schildert in zwei bildreichen Geschichten die Zukunft als Umkehrung bestehender Verhältnisse: Zum großen Gastmahl werden die Armen, Blinden und Gelähmten eingeladen, die draußen, auf Landstraßen und an den Zäunen ihr Dasein fristen – die ursprünglich Geladenen werden ausgesperrt (Lk. 14,21-23). Zur Teilhabe kann man sich also entscheiden. Die Wohlhabenden und Sesshaften haben sich von der Mahlgemeinschaft selbst ausgenommen – zuletzt werden sie »exkludiert« sein.

Brutal und eindeutig die Legende vom armen Lazarus (Lk. 16,19-31): er ist der Exkludierte par excellence, arm und dadurch krank liegt er vor dem Palast des Reichen, der noch nicht einmal etwas Brot vor die Tür bringen lässt. Zukunftsschicksal des Reichen ist die endgültige, unüberwindliche Exklusion im Totenreich des Hades. Beide Geschichten sind natürlich keine Jenseitsschilderungen, sondern Botschaften für die Gegenwart: Die Schwelle zwischen den Reichen und den Armen scheint vorgeblich unüberwindbar, beider Lebenswelten sind, obwohl in direkter Nachbarschaft, strikt voneinander getrennt. Noch können die Weichen für ein gemeinsam gelingendes Leben gestellt werden! Und mit allem Nachdruck: Die Exklusion der Armen und Kranken ist bereits auf Erden »Hölle« und wird Konsequenzen für die, die sie bereiten, haben. Aber noch steht die Chance auf den Himmel offen!


8.3 Heil, Heilung, Behinderung

Einige Bibelstellen verbinden zukünftiges Heil mit Heilung von Krankheiten und Behinderungen (z.B. Jes. 29,18); in Mt. 11,5 wird die Heilung von Blinden und Aussätzigen als gegenwärtige Erfüllung prophetischer Verheißung gedeutet. Manche Behinderungen und insbesondere psychische Erkrankungen werden im NT Dämonen zugeschrieben, deren Austreibung ist Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft (Lk. 13,10; Lk. 11,20). In dieser Tradition springen und tanzen in Gesangbuchliedern »Lahme« (EG 665), sehen »Blinde« und grüßen »Stumme« (EG 633) – Grund zum Jubeln oder doch gut gemeinte Diskriminierung von Menschen, die mit ihrer körperlichen Besonderheit ge- und be-achtet werden wollen?

Die biblische Verheißung von Heilung trägt dem Rechnung, dass (nicht nur) in biblischer Zeit Behinderungen und Krankheit in der Regel Armut und Marginalisierung bedeuteten, auch dass Behinderungen und gerade psychische Erkrankungen als Last, Schmerz, als »von außen« kommende, nicht zum Wesenskern des Menschen gehörende Übermacht erfahren werden können. Diese Überwältigung des Menschen, seine Definition über Krankheit und Behinderung, seine Ausgrenzung soll überwunden werden.

In Jes. wie in der Adaption des Jesajabuches im NT wird die Heilung Kranker und Behinderter immer auch mit Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte verbunden. Es geht also nicht darum, Besonderheiten von Menschen, die diese als zu ihrer Person gehörig akzeptieren und schätzen, als zu beseitigendes Übel zu definieren, sondern um Lebensfülle für alle. Jes. 35,6 verkündigt die Rückkehr des Volkes Israel zum Berg Zion, eine konkrete Verheißung, die aber durchsichtig wird für eine tiefere Heilsverheißung: »Dann können die Blinden wieder sehen und die Tauben wieder hören. Dann springt der Gelähmte wie ein Hirsch und der Stumme jubelt vor Freude«. Dies heißt zunächst, dass auch Gehandicapte an der Rückwanderung teilhaben werden. Ziel der Heilung von Behinderungen ist dabei – wie in vielen Heilungsgeschichten des NT – nicht die Anpassung an eine Norm, sondern die Teilhabe an Freude und Jubel: »Aus ihren Augen strahlt grenzenloses Glück« (Jes. 35,10). Aussagen zukünftiger Heilung betreffen immer die Heilung der Gemeinschaft.


8.4 Im Rollstuhl in den Himmel?

Was besagt dies aber für das individuelle Schicksal? Paulus zeigt sich gelangweilt von der Frage nach dem zukünftigen »Auferstehungskörper« und seinen Merkmalen. »Schön wie die Sterne« gesteht er zu und »ganz anders« (1. Kor. 15,35-49). Dass er seine Ausführungen mit »Da fragt einer …« einleitet, zeigt, dass die Frage nach dem zukünftigen Leib die frühen Christinnen und Christen durchaus beschäftigte. Völlig »leiblos«, mit »nackter« Seele dastehen oder bewusstlos in einem Seinsgrund untergehen, mag Paulus aber auch nicht (1. Kor. 5,4): Die Seele sollte schon »bekleidet« sein. Diese »Bekleidung« können wir als »Leib«, also als den ganzen Menschen in seinen sozialen Bezügen, in seinen Wünschen und Sehnsüchten, in seinen Erfahrungen und auch Verletzungen deuten. Und dieser »Leib« soll ins Leben hineingenommen werden und »kraftvoll« auferstehen. Für Paulus sind Leiber »Kleider« – an einer körperlichen oder psychischen Besonderheit festzuhalten wäre ihm genauso töricht wie an Schönheit, Ansehen, Geschicklichkeit. Weitere Aussagen werden nicht gemacht, sie sind auch müßig, denn »ich werde im Rollstuhl durch den Himmel fahren« oder »dann werde ich tanzen und springen« sind ja keine Auskünfte über die Zukunft, sondern können immer nur Deutungen der Gegenwart sein. Das Kommende jenseits von Raum und Zeit ist das totaliter aliter, in dem die Kategorien »behindert«/»nicht behindert« nicht mehr gelten.

Für die biblische Eschatologie des AT und NT gilt aber: Verheißungen gelten den Menschen immer in der Gemeinschaft, ohne versöhnte Gemeinschaft gibt es keine »heilen« Menschen. Im Schmerz sind Menschen mit der ganzen Schöpfung verbunden: Vergänglichkeit, Unvollkommenheit, Angst sind allen Menschen, Tieren und Pflanzen gemeinsam (Röm. 8,19-21). Der ganzen Schöpfung ist dann die eleutheria der doxa (Röm. 8,21) verheißen, wörtlich die »Freiheit der Herrlichkeit« oder des »Glanzes«, der »Würde«. Die kosmische Erlösung schließlich ist das Abwischen aller Tränen (Apk. 21,4), die Erneuerung der ganzen Schöpfung (Apk. 21,1), ihre Befreiung (Röm. 8,18-21) und letztendlich »Inklusion« in die mütterliche Umarmung Gottes, der »alles in allem« sein wird (1. Kor. 15,28).


Anmerkungen:

1 Katharina Gröning, Entweihung und Scham. Grenzsituationen in der Pflege alter Menschen, Frankfurt/M. 2001, 60f.

2 Gerd Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition. Freiburg (CH)/Göttingen 1992, 116f.

3 Im Laufe der Kirchengeschichte haben solche »Selbstexklusionen« immer wieder ausgegrenzten Menschen (ansteckende Kranke, Arme) Teilhabe an einer Gemeinschaft gegeben (Franz von Assisi, Elisabeth von Thüringen).

4 Wenn wir diese Geschichte mit »inklusiver« Brille lesen, ist die Lektüre des Jesajabuches kein Zufall. Der zum Eunuchen gemachte »Ausländer« wird dann wohl auch Jes. 56 gelesen haben!

5 Sich selbst exkludieren zu können und nicht von anderen ausgegrenzt zu werden, ist ein Privileg – s. »exklusive« Wohnlagen, Clubs, Ferienanlagen usw.!

Über die Autorin / den Autor:

Dr. Urte Bejick, Referentin für Theologie und Seelsorge im Diakonischen Werk Baden, Bereichsleitung »Arbeit und Seelsorge in Einrichtungen der Altenhilfe« im Evang. Oberkirchenrat Baden.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2014

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